Lockerlassen - Warum weniger Denken mehr bringt

Lockerlassen - Warum weniger Denken mehr bringt

von: Steve Ayan

Klett-Cotta, 2016

ISBN: 9783608100440

Sprache: Deutsch

244 Seiten, Download: 2692 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Lockerlassen - Warum weniger Denken mehr bringt



Einleitung


Vom Nutzen und Nachteil des bewussten Lebens


Beginnen wir mit einem Experiment. Keine Angst, es ist ganz einfach: Stellen Sie sich bitte vor einen Spiegel und betrachten Sie sich selbst. Denken Sie dabei möglichst an gar nichts weiter, sondern konzentrieren Sie sich nur auf sich! Was geht dabei in Ihnen vor? Na los, worauf warten Sie?1

… Und?

Lassen Sie mich raten: Die Sache ging nicht lange gut. Ist dieses Fältchen da neu? Du wirst eben auch nicht jünger. Aber zum Frisör könntest du mal wieder gehen. Vielleicht am Wochenende. Ach, da sind wir ja bei Schmitts zu Besuch. Hoffentlich wird das nicht wieder so krampfig wie beim letzten Mal … – Sobald Sie bemerken, wie Ihre Gedanken abschweifen, holen Sie sie zurück. Was denkst du denn da? Konzentrier dich – auf dich! Kann doch nicht so schwer sein.

Aber ja, es kann! Seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sich zu lenken, ist eine Qual. Wir sind von Natur aus miserabel darin. Unser Denken tritt nicht gern auf der Stelle, sondern es schwärmt aus und produziert all die Geschichten, Pläne, Erwartungen, Wünsche und Sorgen, die unser Leben ausmachen. Mit viel Übung mag es gelingen, den mentalen Fokus zeitweise auf die innere Mitte zu heften (wo auch immer die ist). Und das Gefühl der Macht, das sich dabei einstellt, hat durchaus etwas. Wer würde nicht lieber seinen Geist beherrschen, als von ihm beherrscht zu werden? Aber das klappt nicht auf Dauer.

Der Strom Ihrer Gedanken reißt niemals ab. Nicht einmal nachts, wenn Sie schlafen, denn Ihr Gehirn ruht nie. Permanent ziehen Einfälle, Assoziationen und Bilder durch die Schluchten Ihrer Hoffnungen und Ängste, mäandern durch das Delta der Triebe und münden in den unermesslichen Ozean des Unbewussten. Das bewusste Ich, um im Bild zu bleiben, ist nur die Gischt auf dessen Wellen. Von dem Tohuwabohu in der Tiefe darunter bekommen Sie, dieses bewusste Ich, nichts mit. Und das ist auch gut so.

Kehren wir noch einmal zu unserem Experiment zurück. Sie stehen also vor dem Spiegel und horchen in sich hinein. Nur, wie machen Sie das eigentlich? Kurz gesagt: Sie versuchen, all das auszublenden, was Sie ablenken könnte – äußere Reize genauso wie gedankliche Assoziationen. In diesem Augenblick arbeitet jener Teil Ihres Gehirns auf Hochtouren, der den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit ausrichtet.2 Und das schlaucht! So sehr, dass die mentale Selbstkontrolle schon bald erlahmt.

Trotzdem bemühen wir sie andauernd. Denn ein Mangel an bewusster Kontrolle3 gilt heute als die Wurzel fast aller Übel. Ob Stress im Beruf oder Partnerprobleme, Übergewicht oder Umweltsünden, Misserfolg oder Sinnleere, um all dem vorzubeugen, so glauben wir, müsse man zuerst an der eigenen Haltung arbeiten. Mehr Achtsamkeit! Mehr Nachdenken! Mehr Bewusstsein! So finde man zur inneren Harmonie und nebenbei rette man auch noch die Welt.

Viele Menschen hat ein regelrechter Bewusstseinsfimmel ergriffen: Sie glauben, nur wer alles bedenke und ganz »bei sich« bleibe, werde seines Lebens froh. Also gelte es, alles möglichst bewusst zu tun – bewusst arbeiten, bewusst entspannen, bewusst kommunizieren, bewusst einkaufen, bewusst essen, bewusst atmen, eben einfach bewusst leben. Ist das der Königsweg zum Glück?

Laut Psychologen, Hirnforschern und Verhaltensökonomen ist die Macht des bewussten Denkens eng begrenzt. Ihren Befunden zufolge erschöpft es nicht nur rasch, sondern es erweist sich oft als kontraproduktiv. Wer sich in den Fokus seiner Aufmerksamkeit nimmt und das eigene Tun bewusst zu steuern versucht, hat regelmäßig das Nachsehen: beim Lernen und Vergessen, beim Entscheiden und Schlussfolgern, beim Bewegen und im sozialen Umgang sowie bei dem Versuch, sein Verhalten zu ändern oder einfach Freude zu empfinden. So mancher steht sich mit dem gesteigerten Bewusstsein selbst im Weg.

Je stärker wir uns selbst kontrollieren, desto schwerer fällt es uns, echte Befriedigung zu finden. Statt uns dem Glück näher zu bringen, lässt uns die Konzentration aufs Ich häufig Chimären nachjagen. So paradox es klingen mag: In vielen Fällen haben wir tatsächlich mehr davon, wenn wir uns und unserem Tun weniger Aufmerksamkeit schenken. Und aus diesem Grund bemühen sich viele Menschen nicht etwa zu wenig darum, alles richtig zu machen, sondern zu sehr!

Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass wir vielmehr aus den selbstvergessenen Momenten im Leben Kraft und Klarheit schöpfen. Wer auch einmal gedankenlos dahintreibt, wer nicht bedenkt, sondern sich zerstreut, Tagträumen nachhängt oder einer Leidenschaft frönt, der verschwendet damit gerade nicht seine Zeit, wie uns die Bewusstseinsgurus glauben machen wollen. Woher kommt die Idee, mehr Denken führe automatisch zu mehr Zufriedenheit und Erfolg? Und wie lautet die Alternative? Darum geht es in diesem Buch.

Zu viel des Guten


Das Merkwürdige am eingangs geschilderten Experiment ist, dass einem das, worauf man sich dabei konzentrieren soll, wie ein glitschiges Stück Seife immer wieder entwischt. Was bleibt übrig, wenn ich die großen und kleinen Dinge des Lebens, das vermeintlich Wichtige und das Abseitige, das mein Denken erfüllt, ausblende? Ich – das ist kein Ding, sondern eine Sichtweise: eben meine Art, die Welt zu betrachten, einschließlich aller Lücken, Verzerrungen und Schönfärbereien. Sobald ich den Blick von der Welt abwende, ist auch meine individuelle Sicht darauf passé. Das Subjekt braucht ein Objekt, um sich darin zu spiegeln.

Bevor es allzu philosophisch wird, halten wir fest: Das bewusste Nachdenken hat nicht immer Vorteile. Manchmal fördert es Fehler und Unruhe statt ihnen vorzubeugen. Denn unser Denken ist keineswegs so absichtsvoll und kontrolliert, wie wir glauben. Und weil wir es für mächtiger halten als es ist, sitzen wir so leicht dem Irrtum auf, mehr denken helfe immer.

In unserer vom Optimierungsstreben dominierten Zeit glauben viele Menschen, sie müssten alles durchdenken und im Griff haben: Warum sie gerade das tun, was sie tun, und wieso es ihnen gerade so geht, wie es ihnen geht, und wie sie noch besser, kompetenter und authentischer sein können. Bei alldem kommen sie jedoch nie an ein Ziel, denn jenes Ich, das sie optimieren wollen, und das Maß an Bewusstheit, von dem sie träumen, gibt es nicht.

Der Bewusstseinsfimmel ist so weit verbreitet, dass er fast jeden irgendwann einmal ergreift. Viele Beispiele in diesem Buch entstammen meinem eigenen überspannten Denken und bestimmt erkennen Sie sich oder Menschen aus Ihrem Umfeld – Freunde, Angehörige, Kollegen – darin wieder. Wir alle suchen hin und wieder die Stopptaste für unseren rastlosen Geist, doch kaum jemand vermutet sie im unbekümmerten Laissez-faire. Diese Fähigkeit brauchen wir heute aber dringender denn je.

Von den gut 4000 repräsentativ ausgewählten Deutschen, die am Freizeit-Monitor 2014 der Stiftung für Zukunftsfragen teilnahmen, nannten fast Dreiviertel (71 Prozent) »den eigenen Gedanken nachgehen« als einen ihrer häufigsten Zeitvertreibe.4 Das waren mehr als doppelt so viele wie 20 Jahre zuvor, bei der Erhebung von 1994 (29 Prozent). »Über wichtige Dinge reden« hat mit 63 gegenüber 28 Prozent ebenfalls stark zugelegt. Dagegen gab zuletzt nicht einmal mehr jeder Zehnte (7 Prozent) an, regelmäßig Freunde zu sich einzuladen oder eingeladen zu werden (1994 war es 28 Prozent). Zugleich führen »spontan sein« und »Freunde treffen« die Liste der unerfüllten Freizeitwünsche an. Sind wir so sehr mit uns beschäftigt, dass wir die schönen Dinge des Lebens darüber vergessen?

Natürlich müssen wir uns immer wieder auf uns besinnen. Anders wären wir kaum fähig, einer schnellen Verlockung zu widerstehen und übergeordnete Ziele zu verfolgen. Würden wir nicht unsere Aufmerksamkeit lenken, wären wir dem Feuerwerk der Eindrücke hilflos ausgeliefert. Angesichts der Informationsflut in Zeiten von Smartphone und Internet wissen wir oft nicht, wo uns der Kopf steht. Je mehr News, Posts, Apps und Adds auf uns einprasseln, desto mehr fragen wir uns, was wirklich zählt. Der Drang nach innen mag da verständlich sein, doch mehr Ruhe und Orientierung beschert er uns nicht.

Hinzu kommt das Primat der Selbstverbesserung: Wir haben gelernt, das Ich als Kapital zu betrachten; Stärken müssen genutzt und ausgebaut, Schwächen getilgt werden. »Man soll sein Können in möglichst viele Richtungen mobilisieren, um in den Vollbesitz seiner Möglichkeiten zu kommen«, erklärt der Soziologe Heinz Bude den aktuellen Zeitgeist....

Kategorien

Service

Info/Kontakt