So glücklich wir waren - Roman

So glücklich wir waren - Roman

von: Daria Bignardi

Insel Verlag, 2016

ISBN: 9783458749127

Sprache: Deutsch

317 Seiten, Download: 1003 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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So glücklich wir waren - Roman



Alma

Benetti trug Stiefel ohne Absatz und verströmte einen säuerlichen Geruch. Ich hatte den Eindruck, er wisse Dinge, die ich nicht wusste, er zog mich an und stieß mich gleichzeitig ab. Er tauchte nur selten auf, zu den unmöglichsten Zeiten, wenn niemand sonst unterwegs war.

Einmal hatte er sonntags um zwei Uhr nachmittags bei meiner Mutter geklingelt und nach einer Scheibe Zitrone gefragt, und meine Mutter, die Apothekerin war, wusste, wofür er sie brauchte. Sie hatte bedauernd den Kopf geschüttelt.

»Der Arme«, hatte sie gesagt. Sie bat uns nicht, uns von ihm fernzuhalten. Sie vertraute uns.

Ich weiß nicht, was mich an diesem Abend packte. Es war neun Uhr, aber ich erinnere mich, dass es noch nicht dunkel war. Der Marmor des Doms leuchtete weiß zwischen den im Licht der untergehenden Sonne glühenden Häusern. Michela würde nicht mehr kommen, vielleicht musste sie ihren Eltern in der Bar aushelfen.

»Und wenn wir es auch einmal probieren? Nur ein einziges Mal?«, sagte ich plötzlich zu Maio und deutete mit dem Kopf auf Benetti.

Das war mir vorher nie in den Sinn gekommen.

Und ich bin sicher, ihm auch nicht.

Doch er verstand augenblicklich, was ich sagen wollte. Er breitete die Arme aus, hob das Kinn, schielte und sagte: »Sagen Sie mir, wovor Sie weglaufen.«

Wir lachten.

Ich habe immer geglaubt, dass es Geheimnisse gibt, die man niemals lüften darf. Ich habe mit Antonia nie über diese Dinge gesprochen, um sie nicht mit meinem Schmerz zu infizieren.

Nicht einmal Franco, mein Mann, weiß genau, was damals passiert ist. Er weiß, dass mein Vater sich umgebracht hat, aber nicht, unter welchen Umständen. Dass meine Mutter krank wurde und unsere Familie zerbrach, und dass es meine Schuld war.

Er hat sich um mich gekümmert, doch gerettet hat mich Antonia. Ich war zwanzig, als sie zur Welt kam. Jetzt, wo auch sie ein Kind erwartet, war es an der Zeit, ihr alles zu erzählen.

Ich habe ihr nie gesagt, wie ihr Onkel verschwunden ist, auch weil ich es selbst nicht weiß.

Es war Januar. An einem Sonntagmorgen war meine Mutter zu mir ins Zimmer gekommen. Sie hatte sich aufs Bett gesetzt und mir eine Hand auf die Schulter gelegt.

Am Abend zuvor war ich auf einer Party gewesen und hatte mich nicht besonders amüsiert. Um eins hatte ich mich auf den Heimweg gemacht, mit dem Fahrrad, durch einen dichten, feuchten Nebel. Ich hatte vor dem Schlafen Der große Gatsby zu Ende gelesen, um mich über den vergeudeten Abend hinwegzutrösten. Seit ich nicht mehr mit Maio ausging, fand ich alles langweilig.

Um zwei Uhr hatte ich das Licht gelöscht, nachdem ich immer wieder den letzten Satz des Buches gelesen hatte: »So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.« Dann hatte ich das Buch auf den Boden neben das Bett gelegt, aufgewühlt und traurig. Ich hatte keine Ahnung, dass dieser Satz mein Leben beschrieb, wie es ab dem folgenden Tag sein würde.

Sonntags schliefen Maio und ich lange. Ich machte in diesem Jahr das Abitur und ging nur samstags aus, er dagegen war neuerdings jeden Abend unterwegs und kam erst nach Mitternacht nach Hause. Mein Vater, der sich sonst wegen allem sorgte, schien es nicht zu bemerken. Vielleicht dachte er, das sei normal für einen Jungen in einer Kleinstadt. Meine Mutter ahnte etwas, doch sie schwieg. Sie kümmerte sich vor allem um meinen Vater.

Seine finanziellen Höhen und Tiefen hatten sie gezwungen, die Arbeit in der Apotheke beizubehalten, die sie schon während des Studiums begonnen hatte, damals noch ohne Abschluss, und wenn uns auf Reisen jemand fragte, welchen Beruf sie habe, sagte sie: »Verkäuferin.«

»Francesca, sag ihnen doch, dass du Apothekerin bist!«, ermunterte sie mein Vater.

»Was macht das für einen Unterschied?«, antwortete sie. »Ich verkaufe Bonbons, Binden und Pflaster. Wenn es hochkommt, messe ich mal jemandem den Blutdruck.«

Das war keine Anklage. Sie hatte diese Apotheke gewählt, die wichtigste der Stadt, weil sie dort halbtags arbeiten konnte: Sie hatte zwei Kinder und einen Mann, der wie ein drittes war. Sie liebte ihn. Zu Zeiten meiner Mutter zerbrach man sich nach der Heirat nicht ein Leben lang den Kopf, ob man die richtige Wahl getroffen hatte.

Ich für meinen Teil glaube nicht, dass sie sie getroffen hat.

Mein Vater war ein anstrengender Mann: ängstlich und sprunghaft. Unvorhersehbar in jeder Hinsicht, das einzig Konstante an ihm war sein Pessimismus. Heute weiß ich, dass er ein sehr trauriger Mann war, auch wenn ich das damals nicht verstand. Langsam, teilnahmslos und gedämpft im Winter, im Sommer euphorisch. Anfang November verlosch er, Anfang Mai erblühte er zu neuem Leben. Sein Vater hatte ihm ein Landgut vererbt, das er mehr schlecht als recht verwaltete, obwohl er viel Zeit in diesem Haus am Deich des Po-Flusses verbrachte. Er angelte, ging mit dem Hund spazieren, versuchte sich um die Bewirtschaftung der Felder zu kümmern, obwohl letztlich der Verwalter alle Entscheidungen traf.

Wenn er gutgelaunt war, sagte er, dass der Hanfanbau ihm den Kopf verdreht habe. Dass in seiner Familie alle verrückt seien. Als ich der Psychologin davon erzählte, zu der sie mich schickten, nachdem Maio verschwunden war, wollte sie mir einreden, dass Maios Hang zur Abhängigkeit erblich bedingt gewesen sei und von meinem Vater stamme.

Niemand wird mich je davon überzeugen, dass Maio auch dann mit dem Heroin angefangen hätte, wenn ich ihm an jenem Juniabend nicht vorgeschlagen hätte, es zu versuchen.

Hätte ich diese törichte Idee nicht gehabt, würde mein Bruder noch leben, und meine Eltern wahrscheinlich ebenfalls. Mein Vater senil, meine Mutter vom Leben gezeichnet, aber am Leben. Sie wären aufs Land gezogen, und wir würden sie ab und zu besuchen. Wir würden in der Sonne mittagessen und am Ufer mit dem Hund spazieren. Antonia hätte Großeltern und Cousins gehabt, und ich ein anderes Leben.

Ohne meine Initiative hätte Maio niemals gewagt, sich zu spritzen, da bin ich sicher. Das ist keine fixe Idee, sondern eine Gewissheit. Er traf nie Entscheidungen, er folgte mir in allem, er vertraute mir. Alle vertrauten mir.

Ich habe alles kaputt gemacht, und ich verdiene jeden Augenblick in dieser Hölle, in der ich lebe.

An jenem Morgen hatte ich mich umgedreht. Ich hatte die Hand berührt, die meine Wange streichelte. Ich hatte den Ring ertastet, den meine Mutter über dem Ehering trug, ein kleiner Saphir, von Brillanten umsäumt, den ich später Antonia geschenkt habe.

Die eiskalte Hand und der Stein erschreckten mich. Das war nicht mein Vater. Normalerweise kam er uns wecken. Irgendetwas war passiert.

»Was ist los?«

»Hast du Maio gestern Abend gesehen? Es ist neun Uhr, und er ist noch nicht zurück.«

»Ich war bei Laura, du weißt doch, dass er nicht mehr mit uns ausgeht.«

Wir hatten uns auseinandergelebt. Nach seinen endlosen Beschaffungsritualen beschloss er den Abend üblicherweise in einer heruntergekommenen Kneipe, die sich hochtrabend Paul Verlaine nannte.

»Er wird irgendwo eingeschlafen sein«, sagte ich.

Ich sah es genau vor mir. Dicht bis obenhin, könnte er überall zusammengebrochen sein. In einem Auto, in einer öffentlichen Toilette. Er würde stinkend und völlig neben der Spur, oder aber gleichmütig und versöhnlich zurückkommen, je nachdem, wie viel von dem Zeug er in sich hineingepumpt hatte.

»Ja, das glaube ich auch. Papa habe ich gesagt, dass er auswärts übernachten wollte, damit er sich nicht aufregt.«

»Und warum hast du mich dann geweckt?«

Es war ungewöhnlich, dass meine Mutter etwas ohne guten Grund tat, sie war kein impulsiver Mensch.

»Ich habe gerade so eine Geschichte im Radio gehört. Heute Nacht …«, begann sie. Dann stockte sie und nahm meine Hand.

»Sag schon.«

Ich hatte mich im Bett aufgesetzt und die Nachttischlampe eingeschaltet. Mama trug über ihrem Nachthemd eine Jacke aus weißer Wolle mit Perlenknöpfen. Sie war immer elegant, selbst wenn sie gerade erst aufgestanden war. Ich mochte diese Jacke, sie hatte sie selbst gehäkelt.

Ich schämte mich meiner Kleider, die ich am Vorabend auf den Stuhl geworfen hatte, die Unterhose steckte noch in der Hose, die Socken lagen auf dem Boden, daneben das Buch, das ich vor dem Einschlafen gelesen hatte, die Luft im Zimmer war verbraucht. Ich wollte die Fenster öffnen, aufräumen, alles in Ordnung bringen. Ich wollte nicht wissen, was im Radio gesagt worden war.

»Heute Nacht sind zwei Jungen an einer Überdosis gestorben, man hat sie in der Nähe von Pontelagoscuro gefunden, in einem Auto.« Sie drückte meine Hand.

Ich spürte in meinem Magen etwas vibrieren. Ein tiefer, unheilvoller Ton.

»Haben sie die Namen gesagt?«

»Renato Orsatti und Sandro Putinati, beide zwanzig Jahre alt. Kennst du sie?«

»Nie gehört.«

»Sie kamen von außerhalb, Massa Fiscaglia. Die armen Jungen.«

Die Tatsache, dass sie aus einem Dorf außerhalb von Ferrara stammten, beruhigte mich, sie hatten also nichts mit Maio zu tun.

Meine Mutter dagegen hatte die richtigen Schlüsse gezogen. Zwei Tote durch Überdosis bedeuteten, dass zu reines Heroin im Umlauf war. In den folgenden Monaten, als Maios Freunde und die Dealer der Gegend befragt wurden, kam heraus, dass viele Abhängige in dieser Samstagnacht eine besonders schöne Reise unternommen hatten.

Alle waren davon zurückgekehrt, alle außer Renato und Sandro. Und Maio.

Maio war...

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