Die Terranauten - Roman

Die Terranauten - Roman

von: T.C. Boyle

Carl Hanser Verlag München, 2017

ISBN: 9783446255593

Sprache: Deutsch

608 Seiten, Download: 4162 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Terranauten - Roman



DAWN CHAPMAN


Man hatte uns von Haustieren abgeraten, desgleichen von Ehemännern oder festen Freunden, und dasselbe galt natürlich für die Männer, von denen, soviel man wusste, keiner verheiratet war. Ich glaube, Mission Control hätte es begrüßt, wenn wir auch keine Eltern oder Geschwister gehabt hätten, aber die hatten wir nun mal, alle bis auf Ramsay, der ein Einzelkind war und in der vierten Klasse seine Eltern bei einem Frontalzusammenstoß verloren hatte. Ich fragte mich oft, ob das bei der Auswahl eine Rolle gespielt hatte – zu seinen Gunsten, meine ich –, denn es war offensichtlich, dass er in gewissen wichtigen Bereichen Defizite hatte, und für mich war er, auf dem Papier jedenfalls, das schwächste Mitglied der Crew. Aber das hatte ich nicht zu bestimmen – Mission Control verfolgte einen eigenen Plan, und wir konnten zwar Spekulationen anstellen, letztlich aber nur den Kopf beugen und auf das Beste hoffen. Natürlich hatten wir alle das Auswahlverfahren durchlaufen – in den letzten Monaten hatten wir, wie es schien, nichts anderes getan –, und obwohl wir ein Team waren, obwohl wir in den vergangenen zwei Jahren der Ausbildung alle am selben Strang gezogen hatten, blieb die Tatsache, dass es nur acht der sechzehn Kandidaten in die Auswahl schaffen würden. Das war die große Ironie: Wir atmeten zwar Teamgeist, aber selbst darin versuchten wir einander zu übertreffen, wobei alles, was wir dachten oder taten, von Mission Control genau registriert wurde. Wie hatte unser Chefzyniker Richard es ausgedrückt? Eine Miss-Amerika-Wahl ohne Miss und ohne Amerika.

An das genaue Datum kann ich mich nicht erinnern (dabei weiß ich, dass ich das sollte, schon damit alles stimmt), aber etwa einen Monat vor dem Einschluss wurden wir zum Abschlussgespräch bestellt. Ein Monat, ja, das kommt ungefähr hin: genug Zeit, um die Nachricht zu verbreiten und mit der Vorstellung des achtköpfigen Teams so viel Presseresonanz wie möglich zu erzeugen. Hätten sie es früher bekanntgegeben, wäre das öffentliche Interesse womöglich erlahmt, und wegen der Fehlschläge bei der ersten Mission war man bei Mission Control natürlich darauf bedacht, das zu vermeiden. Es muss also im Februar gewesen sein. Ein Februarmorgen auf dem Colorado-Plateau: Der Winterregen hat alles erblühen lassen, und das Licht überzieht die Berge wie mit einem sanften Film. Die Luft war bestimmt erfüllt von einem leisen, süßen Duft nach Salbei und Karamell, den ich auf dem Weg zu einem frühen Frühstück in der Cafeteria mit Genuss einatmete. Vielleicht blieb ich kurz stehen, um die Flip-Flops abzustreifen und den kühlen, körnigen Staub zwischen den Zehen zu spüren oder den geordneten Kolonnen der ausschwärmenden oder zum Bau zurückkehrenden Blattschneiderameisen zuzusehen; ich war sowohl in meinem Körper als auch außerhalb davon, eine Hominidin im fortpflanzungsfähigen Alter, die vornübergebeugt und in naturwissenschaftliche Trance versunken dastand und sich fragte, ob diese Erde, diese alte, ursprüngliche Erde, in einem Monat noch ihr Zuhause sein würde.

Tatsache war, dass ich um vier Uhr aufgewacht war und nicht mehr hatte einschlafen können, und jetzt wollte ich allein sein und meine Gedanken sortieren. Ich hatte eigentlich keinen Hunger – Aufregung schlägt mir auf den Magen –, zwang mich aber zu Pfannkuchen, Blaubeermuffins und Sauerteigtoast, als wollte ich mich vor einem Marathonlauf mit Kohlehydraten vollstopfen. Ich glaube, ich habe nichts davon wirklich geschmeckt. Und dazu Kaffee. Ich trank wahrscheinlich einen ganzen Becher, Schluck für Schluck, ohne es überhaupt zu merken, und das war eine Gewohnheit, die ich eigentlich ablegen wollte, denn wenn ich unter den Auserwählten war – und dessen war ich mir sicher, zumindest redete ich es mir ein –, würde ich ohne Koffein auskommen müssen. Ich hatte nicht wie sonst ein Buch mitgenommen. Auf der Theke lag zwar eine Tageszeitung, aber ich warf nicht mal einen Blick darauf. Ich aß, führte die Gabel zum Mund, kaute, schluckte und wiederholte das Ganze, mit kleinen Unterbrechungen, um die Pfannkuchen in mundgerechte Bissen zu schneiden oder einen Schluck Kaffee zu trinken. Die Cafeteria war ganz leer, bis auf ein paar Küchenhelfer, die mit leerem Blick aus den Fenstern starrten, als wären sie noch nicht imstande, sich diesem Tag zu stellen. Oder vielleicht gehörten sie auch zur Nachtschicht, vielleicht lag es daran.

Irgendwann lösten sich meine Gedanken endlich in nichts auf, und für einen Sekundenbruchteil vergaß ich, was über uns allen hing, doch dann hob ich den Kopf und sah Linda Ryu auf mich zukommen, in der einen Hand einen Becher Tee, in der anderen einen glasierten Donut. Sie wissen es vielleicht nicht – die meisten wissen es nicht –, aber Linda war meine beste Freundin in der erweiterten Crew; ich kann es eigentlich nicht erklären, aber wir verstanden uns vom ersten Tag an hervorragend. Wir waren ungefähr gleich alt – sie zweiunddreißig, ich neunundzwanzig –, aber das erklärt eigentlich gar nichts, denn alle weiblichen Kandidaten waren ungefähr im selben Alter, von der jüngsten (Sally McNally, sechsundzwanzig, die keine Chance hatte) bis hin zur ältesten (Gretchen Frost, vierzig, die erstklassige Chancen hatte, weil sie wusste, wie man sich bei Mission Control einschmeichelte, und außerdem über die Ökologie des Regenwaldes promoviert hatte).

Bevor ich reagieren konnte, setzte Linda sich mir gegenüber, fuchtelte mit dem Donut herum und schenkte mir ein Lächeln, das irgendwo zwischen Mitgefühl und Verlegenheit lag. »Nervös?«, sagte sie, lachte auf, bleckte die Zähne und schwenkte den Donut. »Wie ich sehe, schaufelst du dich mit Kohlehydraten voll. Ich auch«, sagte sie und nahm einen Bissen.

Ich versuchte, ein unverbindliches Gesicht zu machen, als wüsste ich gar nicht, wovon sie redete, aber sie durchschaute mich sofort. In den vergangenen zwei Jahren hatten wir gemeinsam auf dem Forschungsschiff in der Karibik, der Ranch im australischen Busch und den Versuchsfeldern auf dem E2-Gelände gearbeitet und waren wie Schwestern geworden, aber im Augenblick war mein Abschlussgespräch von 8:00 bis 8:30 das einzig Wichtige. Ich deutete ein Lächeln an. »Ich weiß gar nicht, warum wir nervös sein sollten – ich meine, die testen uns doch nun schon seit über einem Jahr. Und jetzt also noch ein Gespräch, na und?«

Sie nickte und wollte das Thema nicht weiterverfolgen. Es ging ein Gerücht um, wir alle hatten es gehört: Dies war das alles entscheidende Gespräch, Daumen rauf oder Daumen runter. Da gab es nichts zu beschönigen. Es war der Augenblick, auf den wir all die scheinbar endlosen Tage, Wochen, Monate gewartet hatten, und jetzt, da es so weit war, hatten wir nur noch Angst. Ich wollte ihre Hand nehmen, sie umarmen und beruhigen, aber wir hatten bereits alles gesagt, was es zu sagen gab, hatten tausendmal darüber spekuliert, wer würde dabei sein dürfen und wer nicht, und uns in den vergangenen Wochen ständig umarmt. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ich spürte, dass mich eine Kälte überkam, der Beginn einer innerlichen Distanzierung. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen, aber hier saß meine beste Freundin, und in diesem Moment sah ich, wie selbstlos sie war, wie sehr sie mir den Erfolg wünschte – uns beiden eigentlich, vor allem aber mir, damit ich, sollte sie es nicht schaffen, triumphierte –, und ich merkte, dass in mir etwas nachgab.

Ich wusste besser als jeder andere, wie schwer es Linda treffen würde, nicht in die Crew aufgenommen zu werden. Oberflächlich betrachtet entsprach ihr Persönlichkeitsprofil genau den Anforderungen – sie war lebhaft, energisch, behielt auch in kritischen Lagen einen klaren Kopf und war eine Optimistin, die immer einen Ausweg sah, ganz gleich, wie hoffnungslos die Situation zu sein schien –, doch sie besaß auch eine dunkle Seite, von der niemand etwas ahnte. Sie hatte mir Dinge gestanden, die, hätte man bei Mission Control davon gewusst, wie eine Bombe eingeschlagen hätten. Nicht ausgewählt zu werden würde sie besonders hart treffen, härter als jeden anderen, doch dann fragte ich mich, ob ich mit solchen Überlegungen nicht meine eigenen Ängste auf sie projizierte: Wir alle wünschten uns so sehr, in die Crew aufgenommen zu werden, dass wir an gar nichts anderes mehr denken konnten. Und was die Sache noch verschlimmerte, war, dass Linda und ich im Grunde um dieselbe Position konkurrierten, und zwar für die am wenigsten technisch orientierte, abgesehen von der des Kommunikationsoffiziers, die Ramsay, da waren wir uns einig, praktisch schon in der Tasche hatte, denn er war politisch begabt und imstande, nicht nur beide Seiten, sondern auch die oberen, mittleren und unteren Etagen zu bearbeiten.

Ich musterte ihr Gesicht, ihr unaufhörliches Kauen. »Stevie ist so gut wie drin, oder?«, sagte sie mit belegter Stimme.

Ich nickte. »Sieht so aus.« Linda hatte alles gegeben, um sich als Generalistin der Gruppe unentbehrlich zu machen und sich für eine der vier Positionen zu empfehlen, die höchstwahrscheinlich mit einer Frau besetzt werden würden. Sie hatte sich nicht nur mit Gartenbau in geschlossenen Systemen und der Steuerung von Ökosystemen, sondern vor allem auch mit Meeresbiologie beschäftigt. Bei unseren Tauchgängen vor der Küste von Belize hatte sie mehr Stunden unter Wasser verbracht und mehr wirbellose Tiere gesammelt als irgendein anderer, und doch hatte ich den Eindruck, dass Stevie van Donk auf diesem Gebiet die Nase vorn hatte. Zum einen, weil sie Meeresbiologie studiert hatte, zum anderen, weil sie im Bikini einfach großartig aussah.

»Sie ist ein solches Aas.«

Dazu sagte ich nichts, auch wenn ich insgeheim ganz ihrer Meinung war. Aber Aas hin oder her: Stevie war drin.

Doch das war noch nicht alles:...

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