Hallo Leben, hörst du mich?

Hallo Leben, hörst du mich?

von: Jack Cheng

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2017

ISBN: 9783641187811

Sprache: Deutsch

300 Seiten, Download: 824 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hallo Leben, hörst du mich?



Neue Aufnahme 5

8 Min. 52 Sek.

Okay, dann will ich es noch mal versuchen. Ich wollte euch vorhin schon erzählen, was am Bahnhof alles passiert ist, aber dann hab ich plötzlich zu heulen angefangen. Und was ich erzählt habe, hat alles keinen Sinn ergeben, deshalb habe ich es gelöscht.

Ronnie hat immer zu mir gesagt, jetzt hab dich mal nicht so, sei ein richtiger Mann, wenn er mich beim Heulen erwischt hat. Er wollte, dass ich sofort damit aufhörte. Eine Heulsuse kann keiner leiden. Und ich versuch ja auch immer, nicht zu heulen. Aber manchmal kann ich eben einfach nicht anders. Manchmal sind die Wolken in meinem Kopf so groß und grau und dick, dass sich dann durch meine Augen Sturm und Gewitter entladen. Und ein heftiger Regenschauer folgt. Also, natürlich nicht wirklich. Ich habe ja schließlich in meinem Kopf keinen Himmel und keine Erde und kein eigenes Wetter. Aber vielleicht wisst ihr, was ich meine.

Heute Morgen jedenfalls, als Carl Sagan und ich gerade aus dem Haus gehen wollten, habe ich festgestellt, dass ich viel zu viele Sachen eingepackt hatte, trotz meines 2-in-1-Haarpflegeshampoos. Ich hab versucht, das alles zu tragen, aber es war für mich viel zu schwer. Nach fünf Schritten konnte ich schon nicht mehr. Ehrlich, Jungs, gestern hat das alles überhaupt nicht so schwer ausgesehen und jedes Teil für sich war vielleicht auch gar nicht so schwer – aber in der Menge, Mannomann. Da habe ich zu Carl Sagan gesagt: »Was machen wir denn jetzt?« Und er hat mich angeschaut, als wollte er sagen: Was fragst du denn mich? Und danach hab ich versucht, ihm den Seesack auf den Rücken zu laden. Aber er hat sich schnell weggeduckt, als ob er sagen würde: He, was glaubst du denn, was ich bin? Hältst du mich für einen Packesel?

»Nein«, hab ich ihm da versichert, »du bist für mich kein Packesel, du bist Carl Sagan.«

Aber dann kam mir eine großartige Idee.

Ich hab aus unserer Garage das Wägelchen geholt, mit dem ich immer zum Einkaufen losziehe. Dort hab ich alles draufgepackt und gut festgezurrt – und das war’s dann, Problem gelöst! Danach klopfte ich noch einmal leise an Moms Schlafzimmertür, ob sie vielleicht schon wach war. War sie aber nicht. Ich bin dann trotzdem auf Zehenspitzen zu ihrem Bett geschlichen und hab ihr ins Ohr geflüstert: »Wir brechen jetzt auf, Sonntag bin ich wieder da«, und außerdem hab ich auch noch gesagt, »Ich hab dich lieb«, falls sie mich vielleicht in ihren Träumen hören konnte.

Carl Sagan und ich sind danach die Straße runtergegangen und beim Haus von Justin Mendoza nach links abgebogen. Dann sind wir die Mill Road entlanggegangen. Ich hab mit der einen Hand mein Wägelchen hinter mir hergezogen und in der anderen Hand hab ich die Leine von Carl Sagan gehalten. Und wir sind an Mr Bashirs Tankstelle vorbeigekommen und an dem Super-8-Motel direkt daneben. Ich hätte gerne zu Mr Bashir Guten Tag und Auf Wiedersehen gesagt, aber ich wollte nicht zu spät kommen, und außerdem machte ich mir ein bisschen Sorgen, dass die Schaffner mir vielleicht nicht erlauben würden, mein Wägelchen in den Zug mitzunehmen. Da habe ich noch nicht geheult, das war erst später.

Eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zugs waren wir am Bahnhof. Ich zeigte dem Typen, der meine Fahrkarte sehen wollte, mein E-Ticket, und er fragte mich, wo denn meine Eltern wären, und ich sagte: »Es gibt nur mich und Carl Sagan.« Er fragte mich, wo ist denn Carl Sagan, und ich habe einen Schritt zur Seite gemacht, weil Carl Sagan sich nämlich hinter meinen Beinen versteckt hatte. Der Kontrolleur hat gesagt: »Aber das ist eine Fahrkarte für Erwachsene!« Und darauf ich: »Ja, weil im Internet habe ich auch nur ein Erwachsenenticket kaufen können.« Er sagte, dass ich eine Kinderfahrkarte bräuchte, und ich fragte ihn, wie ich denn eine bekommen könnte, und er sagte, die müsste ich zusammen mit einer Erwachsenenfahrkarte kaufen, und da war ich allmählich wirklich verwirrt. Er sagte, ich dürfte nicht allein mit dem Zug fahren, ich bräuchte immer einen Erwachsenen als Begleitung, wenn ich jünger als dreizehn sei. Dann fragte er mich nach meinem Ausweis und ich zeigte ihm meinen Mitgliedsausweis von der Internationalen Planetariumsgesellschaft, und er sagte, er bräuchte einen Ausweis, auf dem mein Geburtsdatum steht, und da hab ich ihm meinen Schülerausweis unter die Nase gehalten, und deshalb hat er herausgefunden, dass ich noch nicht dreizehn bin.

Ich hab ihm erzählt, dass ich viel verantwortungsbewusster bin als die meisten Dreizehnjährigen, die ich kenne. Aber er hat gesagt, dass das keine Rolle spielt, das Einzige, was eine Rolle spielt, sei mein Alter, und ich hab gesagt, dass ich das total idiotisch finde, denn Kinder seien nun mal sehr unterschiedlich. Es sollte einen Test geben, mit dem bei allen Menschen überprüft wird, wie verantwortungsbewusst sie sind, und dann würde danach das Verantwortungsbewusstseinsalter errechnet werden. Ich weiß, dass ich mindestens dreizehn Jahre alt wäre, weil ich nämlich schon kochen und mich um einen Hund kümmern kann.

Das hab ich dem Kontrolleur aber nicht erzählt. Ich hab in dem Moment nur gedacht, dass ich alle meine Sachen gepackt hatte und auch die von Carl Sagan, und Carl Sagan hatte ich auch dabei, und ich wollte unbedingt auf das Raketenfestival, und deshalb habe ich mich auf einen der Stühle im Bahnhof gesetzt und habe zu heulen angefangen.

Carl Sagan hat auch gleich zu heulen angefangen, denn immer wenn ich heule, heult er auch. Und dann hab ich gedacht, vielleicht ist es ja besser, wenn ich nicht auf das SHARF fahre. Vielleicht ist es ja besser, wenn ich zu Hause bleibe, hier in Rockview, weil ich bisher noch nie ohne meine Mom oder Ronnie von zu Hause weg war, und wenn ich nicht wegfahre, hab ich außerdem auch noch mehr Zeit, um für euch Jungs Aufnahmen auf meinem iPod zu machen, und wenn ich dann genug Aufnahmen mit Geräuschen von der Erde habe, kann ich Voyager 3 ja auch allein ins Weltall schießen, dazu brauche ich das SHARF doch gar nicht, auch wenn ich mein ganzes Geld für die Fahrkarte und meine Anmeldung ausgegeben habe und jetzt leider auch nicht Europa und Calexico und alle anderen vom Rocketforum kennenlernen werde.

Und das war der Moment, in dem ich meinen goldenen iPod herausgezogen habe und versucht habe, euch Jungs zu erzählen, was passiert ist. Aber ich hab nur ein Schluchzen herausgebracht. Und dann hörte ich bereits das Pfeifen des Zugs, der immer näher kam, und ich heulte noch lauter und hatte das Gefühl, dass ich niemals mehr aufhören würde zu heulen.

Aber dann hörte ich auf einmal jemanden fragen: »Was ist denn los?« Ich hab hochgeschaut, und da stand vor mir ein Junge, der schon viel älter ist als ich. Er hatte ein blaues Bandana um den Kopf und einen Rucksack, der größer ist als ich. So groß ist der Rucksack.

Der Junge hat sich neben mich gesetzt, und ich hab etwas gebraucht, bis ich ihm alles erzählen konnte. Ich musste erst einmal aufhören, durch meine Augen ein Gewitter zu entladen. Sonst konnte er sich ja auf nichts einen Reim machen. Schließlich war ich so weit, dass es bei mir nur noch ab und zu einen kleinen Regenschauer gab, und dann hab ich ihm erzählt, dass ich zum SHARF fahren wollte, um dort meinen goldenen iPod ins Weltall zu schicken, und alle meine Freunde aus dem Rocketforum wären auch da und ich hätte mein ganzes Geld für die Fahrkarte ausgegeben und für Mom Essen gekocht, das sie nur noch in der Mikrowelle warm machen musste, und jetzt sei das alles umsonst gewesen und ich könnte nicht dorthin fahren, weil ich noch nicht dreizehn war, obwohl ich nach Verantwortungsbewusstseinsjahren gerechnet mindestens dreizehn Jahre alt war.

Er sagte darauf: »Scheint dir ja wirklich wichtig zu sein.« Und darauf sagte ich: »Natürlich ist es für mich sehr wichtig, wenn es für mich nicht wichtig wäre, würde ich ja nicht heulen, du Idiot!« Das heißt, das habe ich nicht gesagt, ich habe nur genickt. Manchmal ist bei mir alles etwas kompliziert.

Er hat mich gefragt, ob ich ihm mal meine Fahrkarte zeigen kann, und da habe ich sie ihm gezeigt und auch meinen Seesack mit meiner Rakete und die Bestätigungsmail, dass ich zum SHARF angemeldet bin, und meinen Ausdruck von Google Maps mit dem SHARF-Gelände drauf und sogar mein 2-in-1-Haarpflegeshampoo, warum ich ihm das auch noch gezeigt habe, weiß ich nicht. Er hat mich gefragt, wo meine Eltern sind, und ich habe ihm erzählt, dass mein Vater gestorben ist, als ich noch ganz klein war, und dass meine Mutter zu Hause ist und dass ich machen kann, was ich will, solange ich sie in Ruhe lasse und sie mit mir keinen Ärger hat. Da hat er gesagt: »Alter, du fängst ganz schön früh damit an, was?« Und ich hab gefragt: »Ähm, was? Womit fang ich ganz schön früh an?« Und dann hat er mir meine Mappe mit den SHARF-Dokumenten zurückgegeben und zu mir gesagt, ich solle ihm jetzt folgen und zu allem nicken, egal was er gleich sagen würde, und daraufhin hab ich genickt und bin ihm gefolgt.

Und als er sich in der Schlange am Bahnsteig angestellt hat, hab ich das auch gemacht, und als wir bei der Fahrkartenkontrolle an der Reihe waren, hat der Schaffner erst ihn angeguckt und dann mich, und dann hat er den Jungen, der schon viel älter ist als ich, gefragt: »Ist der mit dir zusammen?« Und der Junge hat geantwortet: »Ja, ist mein Stiefbruder. Nur eine Minute lang hab ich ihn allein gelassen, weil ich mal pinkeln musste, und schon versucht er mir am Bahnhof zu entwischen. Das ist’n Bruder, was?« Und der Schaffner hat mich angeguckt und gefragt: »Ist das dein Bruder?«...

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