Ab morgen wird alles anders - Erzählungen

Ab morgen wird alles anders - Erzählungen

von: Anna Gavalda

Carl Hanser Verlag München, 2017

ISBN: 9783446256019

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 4042 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Ab morgen wird alles anders - Erzählungen



Mein Hund wird sterben


Eines Tages schaffte er es nicht mehr allein in den Lkw. Er tat nicht mal so, als würde er es versuchen. Er setzte sich vors Trittbrett und wartete, bis ich kam. Heho, sagte ich zu ihm, auf, beweg dich ein bisschen, Junge, aber als ich seinen Blick sah, kam ich mir ziemlich dämlich vor. Ich hob ihn auf seinen Platz, und er legte sich hin, als wäre nichts gewesen, ich aber hab an dem Tag beim Losfahren den Motor abgewürgt.

Außer uns ist niemand im Wartezimmer. Wenn ich ihn so halte, ziemlich fest, aber ohne ihn zu sehr zu drücken, zieht es mir in der Schulter. Ich gehe mit ihm ans Fenster, um ihm die Aussicht zu zeigen, und selbst jetzt, in diesem Moment, kann ich sehen, dass er sich interessiert.

Dieses Waschweib …

Ich fahre ihm mit dem Kinn über den Kopf und sage ganz leise:

»Was mach ich nur ohne dich, du …? Was mach ich nur …«

Er schließt die Augen.

Bevor ich hierherkam, hab ich meinen Chef angerufen. Hab ihm gesagt, dass ich heute etwas später loskomme, aber dass ich das wieder reinhole. Wie immer. Das weiß er ja.

»Was ist los?«

»Ein kleines Problem, Monsieur Ricaut.«

»Hoffentlich nichts mit dem Motor?«

»Nein, mit meinem Hund.«

»Was hat er denn jetzt schon wieder, dein Köter? Steckt er in einer Hündin fest?«

»Das nicht, er hat … Ich muss mit ihm zum Tierarzt, es geht aufs Ende zu.«

»Welches Ende?«

»Sein Lebensende. Und da sie nicht vor 9 Uhr aufmachen und bis ich alles hinter mir hab, komm ich zu spät zum Betriebshof. Darum ruf ich an.«

»O Scheiße, Mann. Das tut mir leid, Jeannot. Wir haben deinen Hund immer so gerngehabt. Was ist denn passiert?«

»Nichts ist passiert. Er wird alt.«

»Ach, Mann. Das wird bestimmt hart für dich. Wie lange hast du ihn jetzt schon mit auf deinen Fahrten?«

»Eine Ewigkeit.«

»Und was steht heute Morgen bei dir an?«

»Garonor.«

»Was genau? Eine Lieferung von Deret?«

»Ja.«

»Weißt du was, Jeannot? Ich geb dir den Tag frei. Wir kriegen das schon gebacken.«

»Ohne mich schafft ihr das nicht. Der Kleine hat frei, und Gérard muss zum Idiotentest.«

»Ach ja, du hast recht … Aber wir kriegen das schon irgendwie geregelt. Sonst übernehm ich deine Tour. Dann roste ich auch nicht ein. Ist schon so lange her, ich weiß nicht mal, ob meine Arme noch bis zum Lenkrad reichen!«

»Sicher?«

»Na klar, mach dir keinen Kopf. Du hast heute frei.«

Letztes Jahr im September, als es Straßensperren gab und die Streiks richtig massiv wurden, haben sie mich beschimpft, weil ich nicht mitmachen wollte. Ob ich dem Chef in den Arsch kriechen will, wurde ich gefragt. Das weiß ich noch genau, Waldek hat das gesagt. An den Satz muss ich ganz oft denken. Aber ich wollte einfach nicht mitmachen. Ich wollte nicht, dass meine Frau in der Nacht allein ist, und wenn ich ehrlich bin, hab ich auch nicht mehr dran geglaubt. Es war mir egal. Ich hab ihnen gesagt, dass der alte Ricaut genauso beschissen dran ist wie wir alle und dass ich keine Lust hab, mich an den Mautstellen aufzubauen, während uns die Typen von Geogis oder Mory die Aufträge wegschnappen. Und außerdem, das sag ich ganz offen, hab ich vor dem Mann immer Respekt gehabt. Er war als Chef immer korrekt zu mir, und auch heute, wo mein Hund sterben wird, ist er korrekt.

Ich sage »mein Hund«, weil er keinen anderen Namen hat, sonst würd ich ihn anders nennen. Ich wollte mich nicht zu sehr an ihn binden, aber in dem Punkt hab ich voll danebengelegen, wie bei allem anderen auch.

Ich hab ihn in einer Nacht Mitte August aufgegabelt, als ich von Orléans zurückfuhr. Auf der Nationalstraße 20, kurz vor Étampes.

Ich wollte damals nicht länger leben. Ludovic war ein paar Monate zuvor gestorben, und wenn ich immer noch Material und lose Teile transportierte, dann, weil ich mir ausgerechnet hatte, dass ich noch acht Jahre bräuchte, bis meine Frau eine einigermaßen passable Rente bekäme.

Damals war das Führerhaus mein Kerker. Ich hatte mir sogar einen kleinen Kalender zugelegt, bei dem man die Tage einzeln abreißt, damit ich es immer vor Augen hatte: acht Jahre, sagte ich mir, acht Jahre.

Zweitausendneunhundertzwanzig Tage – und tschüss.

Ich hörte nicht mehr Radio, nahm niemanden mehr mit, ich hatte die Lust am Reden verloren, und wenn ich nach Hause kam, schaltete ich nur den Fernseher ein. Meine Frau war schon im Bett. Man muss dazusagen, dass sie damals jede Menge Tabletten schluckte.

Ich rauchte.

Ich rauchte drei Schachteln Gauloises am Tag und dachte an mein totes Kind.

Ich schlief fast nicht mehr. Gern hätte ich die Uhr zurückgedreht oder wenigstens angehalten. Um etwas anders zu machen. Damit seine Mutter weniger litt. Damit sie endlich ihre gottverdammten Besen und Putzlappen weglegte. Ich wollte in eine Zeit zurückkehren, in der sie noch von hier hätte verschwinden können. Ich presste die Zähne so fest aufeinander, dass mir ein Zahn abbrach, nur vom Grübeln.

Der Betriebsarzt, zu dem die Firma mich geschickt hatte, damit er mir Antidepressiva verschrieb (Ricaut hatte Angst, dass ich mit einem seiner Laster einen Unfall baute), sagte, während ich mich anzog:

»Hören Sie. Ich weiß nicht, was genau Sie umbringen wird. Ich weiß nicht, ob es die Trauer ist, die Zigaretten oder die Tatsache, dass Sie seit Monaten nicht mehr anständig essen, aber eins ist sicher, wenn Sie an Ihrem Zustand nichts ändern, dann, nun ja, dann versichere ich Ihnen, Monsieur Monati, dann versichere ich Ihnen, dass Sie nicht mehr sehr lange zu leben haben …«

Ich hatte nicht darauf geantwortet. Ich brauchte den Wisch für Dany, die Sekretärin, und da er sich selbst gern reden hörte, ließ ich ihn reden, dann ging ich. Ich kaufte die Medikamente, damit die Krankenkasse und die Versicherung zufrieden waren, und warf die Schachteln in den Müll.

Ich wollte sie nicht nehmen, und bei meiner Frau hatte ich die Befürchtung, sie würde sich damit umbringen.

Es gab sowieso keine Hoffnung mehr. Und von Ärzten hatte ich die Nase voll. Ich konnte sie nicht mehr sehen.

Die Tür geht auf. Wir sind dran. Ich will meinen Hund einschläfern lassen, sage ich. Der Tierarzt fragt, ob ich dabeibleiben will, und ich sage ja. Er verlässt den Raum. Kommt mit einer Spritze zurück, die mit einer rosa Flüssigkeit gefüllt ist. Erklärt mir, dass das Tier nicht leiden wird, dem Hund wird es vorkommen, als würde er einschlafen und … Lass gut sein, Alter, würde ich am liebsten zu ihm sagen, lass gut sein. Mein kleiner Sohn ist auch schon vor mir gestorben, darum, weißt du, lass gut sein.

Ich selbst fing an zu rauchen wie ein Schlot, und meine Frau hörte nicht mehr auf zu putzen. Von morgens bis abends, von einem Montag bis zum nächsten hatte sie nichts anderes im Kopf als den Haushalt.

Es fing an, als wir vom Friedhof kamen. Wir hatten Verwandte da, Cousins von ihrer Seite, die von Poitou gekommen waren, und als sie den letzten Bissen runtergeschluckt hatten, hat sie alle rausgescheucht und noch von hinten nachgeschoben. Ich glaubte, sie wollte endlich ihre Ruhe haben, aber von wegen, sie zog ihr Kleid aus und schlüpfte in ihre Schürze.

Seitdem hat sie sie nicht mehr abgelegt.

Anfangs dachte ich: Das ist normal, sie muss sich beschäftigen. Ich werde schweigsam, und sie ackert wie blöd. Jeder geht mit seinem Schmerz so um, wie er kann. Das geht vorbei.

Aber ich hatte mich geirrt. Heute kann man bei uns vom Fußboden essen, wenn man will. Vom Fußboden, von den Wänden, vom Fußabtreter, von den Treppenstufen und sogar von den Klos. Gefahrlos. Alles ist mit Javelwasser getränkt. Ich habe meinen Teller noch nicht fertig ausgetunkt, da hält sie ihn schon unter den Wasserhahn, und wenn ich versehentlich mein Messer auf den Tisch lege, kann ich sehen, wie sie sich beherrscht, um nicht loszuschimpfen. Ich ziehe immer die Schuhe aus, bevor ich das Haus betrete, und dann kann ich hören, wie sie meine Treter gegeneinanderschlägt, sobald ich ihnen den Rücken gekehrt habe.

Als sie eines Abends auf dem Boden kniete, um die Fugen zwischen den Fliesen zu schrubben, bin ich ausgerastet:

»Jetzt hör damit auf, mein Gott! Hör auf, Nadine! Hör auf! Du treibst mich noch in den Wahnsinn!«

Sie hat mich wortlos angeschaut und dann weitergeschrubbt.

Ich hab ihr den Schwamm aus der Hand gerissen und ihn in die Ecke gepfeffert.

»Hör auf, sage ich.«

Ich hätte sie umbringen können.

Sie ist aufgestanden, hat ihren Schwamm geholt und weitergemacht.

Von dem Tag an schlief ich im Keller, und als ich den Hund mitbrachte, ließ ich ihr nicht die Zeit, etwas dazu zu sagen:

»Er wohnt bei mir im Keller und setzt keinen Fuß nach oben, du kriegst ihn gar nicht zu Gesicht. Ich nehme ihn mit zur Arbeit.«

Oft, bestimmt tausend Mal, hätte ich sie am liebsten gepackt und in die Arme geschlossen oder hätte sie wie einen Zwetschgenbaum geschüttelt und angefleht. Sie angefleht, damit aufzuhören. Hätte ihr gesagt, dass es mich auch noch gibt und dass ich genauso untröstlich bin wie sie. Aber das war nicht möglich. Immer war uns ein Staubsauger oder ein Korb mit dreckiger Wäsche im Weg.

Manchmal hatte ich keine Lust, zum Schlafen nach unten zu gehen. Manchmal blieb ich...

Kategorien

Service

Info/Kontakt