I Love Dick

I Love Dick

von: Chris Kraus

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783957572042

Sprache: Deutsch

292 Seiten, Download: 1488 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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I Love Dick



Szenen einer Ehe

3. Dezember 1994

Chris Kraus (39), experimentelle Filmemacherin, und Sylvère Lotringer (56), College-Professor in New York, essen gemeinsam mit Dick _____, einem Bekannten Sylvères, in einer Sushi-Bar in Pasadena zu Abend. Dick ist Kulturwissenschaftler, kommt ursprünglich aus England und hat seinen Wohnsitz vor Kurzem von Melbourne nach Los Angeles verlegt. Chris und Sylvère haben Sylvères Forschungstrimester in einer Hütte in Crestline verbracht, einer kleinen Stadt in den San Bernardino Mountains, etwa 90 Minuten außerhalb von Los Angeles. Weil Sylvère im Januar wieder unterrichtet, müssen sie schon bald nach New York zurückkehren. Während des Essens besprechen die Männer die jüngsten Entwicklungen postmoderner Theorie, und Chris, die keine Intellektuelle ist, bemerkt, dass Dick ihr wiederholt Blicke zuwirft. Dicks Aufmerksamkeit verleiht ihr ein Gefühl von Stärke, und als die Rechnung kommt, holt sie ihre Diners-Club-Kreditkarte hervor. »Bitte«, sagt sie. »Lasst mich bezahlen.« Im Radio wird für den San-Bernardino-Highway Schneefall angekündigt. Großzügig lädt Dick die beiden ein, die Nacht in seinem Haus in der Wüste des Antelope Valley zu verbringen, knapp 130 Kilometer entfernt.

Chris will aus ihrer Paarhaftigkeit ausbrechen, also erwärmt sie Sylvère für den Nervenkitzel einer Fahrt in Dicks prächtigem und uraltem Thunderbird Cabrio. Sylvère, der einen T-Bird nicht von anderen Vögeln unterscheiden kann und dem sowieso alles egal ist, willigt ein, wenn auch irritiert. Gesagt, getan. Voller Sorge beschreibt Dick ihr äußerst ausführlich den Weg. »Beruhig dich«, unterbricht sie ihn und lächelt. »Ich fahr dir einfach ganz dicht hinterher«, und das tut sie dann auch. Sie ist ein wenig angeheitert, gibt gleichmäßig Gas und fühlt sich an ihre Performance Car Chase erinnert, die sie mit 23 im St. Mark’s Poetry Project in New York aufgeführt hat. Sie und ihre Freundin Liza Martin waren einem extrem gut aussehenden Porschefahrer ganz dicht einmal quer durch Connecticut über den Highway 95 gefolgt. Irgendwann fuhr er auf einen Rastplatz ab, doch als Liza und Chris ausstiegen, rauschte er davon. Die Performance war zu Ende, als Liza auf der Bühne aus Versehen, aber in echt, Chris’ Hand mit einem Küchenmesser durchstieß. Blut floss, und alle fanden Liza umwerfend sexy und gefährlich und wunderschön. Unter ihrem flauschigen, sehr knappen Top sprang ihr Bauch hervor, ihre Netzstrumpfhose riss am grünen Vinylminirock auf, und als sie sich zurückschwang, um ihren Schritt zu zeigen, sah sie wie die allerbilligste Hure aus. Ein Star war geboren. Niemand im Publikum fand jedoch Chris’ blasses anämisches Äußeres und ihren durchdringend starren Blick auch nur entfernt einnehmend. Wie hätte man auch? Eine Frage, die vorübergehend zurückgestellt worden war. Doch das hier war jetzt eine ganz andere Welt. Die Musikwunschleitungen von 92.3 The Beat brummten. Los Angeles nach den Unruhen, eine auf Glasfasernerven gefädelte Stadt. Dicks Thunderbird befand sich immerzu irgendwo in Sichtweite, die beiden Fahrzeuge waren über das steinerne Flussbett des Highways hinweg auf unsichtbare Weise miteinander verknüpft, so wie John Donnes Augäpfel. Und diesmal war Chris allein.

Bei Dick zuhause entfaltet sich die Nacht wie jener feuchtfröhliche Weihnachtsabend in Eric Rohmers Film Meine Nacht bei Maud. Chris bemerkt, dass Dick mit ihr flirtet. Seine unermessliche Intelligenz reicht weit über alle PoMo-Rhetorik hinaus und lässt eine grundsätzliche Einsamkeit erkennen, derer sich nur sie und er bewusst sind. Benommen erwidert Chris seine Blicke. Um zwei Uhr morgens spielt Dick ihnen ein Video vor, das im Auftrag des englischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstanden ist und in dem er als Johnny Cash verkleidet auftritt. Er spricht von Erdbeben und Aufständen und über sein rastloses Verlangen nach einem Ort, den er als Zuhause bezeichnen kann. Zwar formuliert Chris sie noch nicht aus, doch ihre Reaktion auf Dicks Video ist sehr komplex. Als Künstlerin findet sie Dicks Arbeit hoffnungslos naiv, sie hat jedoch ein Faible für bestimmte Formen schlechter Kunst. Für Kunst, die einen Einblick ermöglicht in die Hoffnungen und Wünsche ihres Schöpfers. Schlechte Kunst macht ihre Betrachter sehr viel aktiver. (Jahre später wird Chris begreifen, dass ihre Vorliebe für schlechte Kunst den starken Gefühlen entspricht, die Jane Eyre für Rochester empfindet, einen sehr durchschnittlichen, pferdegesichtigen Junkie: Üble Burschen machen erfinderisch.) Doch Chris behält diese Gedanken für sich. Weil sie sich so gut wie nie in theoretischer Sprache ausdrückt, erwartet niemand allzu viel von ihr, und längst hat sie sich daran gewöhnt, sich ganz allein für sich und schweigend an vielschichtigen Komplexitäten zu berauschen. Chris’ unausgesprochener Doppelsalto in Bezug auf Dicks Video führt dazu, dass sie sich nur noch mehr zu ihm hingezogen fühlt. Sie träumt die ganze Nacht von ihm. Doch als Chris und Sylvère am nächsten Morgen auf dem Schlafsofa aufwachen, ist Dick verschwunden.

4. Dezember 1994, 10 Uhr

Sylvère und Chris verlassen Dicks Haus, widerwillig und an diesem Morgen allein. Chris stellt sich der Herausforderung, eine dieser Dankesnotizen zu improvisieren, die man zurücklassen muss. Sylvère und sie frühstücken bei International House of Pancakes in Antelope. Weil die beiden nicht mehr miteinander schlafen, erhalten sie ihre Intimität via Dekonstruktion aufrecht, d. h. sie erzählen einander alles. Chris erzählt Sylvère, dass sie glaubt, dass Dick und sie soeben einen Konzeptfick erlebt haben. Dicks Verschwinden am Morgen danach habe diese Erfahrung lediglich vollendet und ihr einen subkulturellen Subtext verliehen, den Dick und sie nun miteinander teilen. Sie fühlt sich an all ihre verschwommenen Einmalficks mit Männern erinnert, die zur Tür hinaus waren, bevor sie die Augen öffnen konnte. Sie trägt Sylvère ein Gedicht von Barbara Barg zu diesem Thema vor:

What do you do with a Kerouac

But go back and back to the sack

with Jack

How do you know when Jack

has come?

You look on your pillow and

Jack is gone …

Und dann war da noch die Nachricht auf Dicks Anrufbeantworter. Als sie am Abend zuvor ins Haus kamen, zog Dick seinen Mantel aus, goss ihnen Drinks ein und drückte auf die Wiedergabetaste. Die Stimme einer sehr jungen, sehr kalifornischen Frau setzte an:

Hi Dick, Kyla hier. Dick, e-es tut mir leid, dass ich dich immer wieder zuhause anrufe, und jetzt habe ich deinen Anrufbeantworter dran, und ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, dass gestern Nacht irgendwie nichts so richtig funktioniert hat, und – ich weiß, es ist nicht dein Fehler, aber ich glaube, dass ich dir eigentlich nur dafür danken wollte, dass du ein so netter Mensch bist …

»Das ist mir jetzt ziemlich peinlich«, murmelte Dick auf sehr reizende Weise, während er die Wodkaflasche öffnete. Dick ist 46 Jahre alt. Hatte diese Nachricht zu bedeuten, dass er am Ende ist? Und könnte er gerettet werden, falls er denn tatsächlich am Ende ist, indem er eine Konzeptromanze mit Chris einginge? War der Konzeptfick nur ein erster Schritt? Während der nächsten paar Stunden diskutieren Sylvère und Chris darüber.

4. Dezember 1994, 20 Uhr

Zurück in Crestline kann Chris nicht aufhören, über diesen Abend mit Dick nachzudenken. Also fängt sie an, eine Erzählung mit dem Titel Abstrakte Romantik zu schreiben, die von ihm handelt. Es ist ihre erste Erzählung seit fünf Jahren.

»Es begann im Restaurant«, beginnt sie. »Es war früher Abend, und wir lachten alle ein wenig zu viel.«

Immer wieder wendet sie sich in dieser Erzählung an David Rattray, weil sie überzeugt davon ist, dass Davids Geist während der Autofahrt letzte Nacht bei ihr war und ihren Pick-up-Truck über den gesamten Highway 5 vor sich hergeschoben hat. Chris, Davids Geist und der Truck waren zu einer einzigen sich vorwärts bewegenden Einheit verschmolzen.

»Letzte Nacht habe ich mich so gefühlt«, schrieb sie an Davids Geist, »wie ich es bisweilen tue, wenn sich mit einem Mal ganz neue und wahnsinnig aufregende Aussichten aufzutun scheinen – dass du hier warst: ganz dicht neben mir geschwebt bist, irgendwo zwischen meinem linken Ohr und meiner Schulter, so verdichtet wie ein Gedanke.«

Sie dachte andauernd an David. Es war geradezu unheimlich gewesen, dass Dick, als hätte er ihre Gedanken gelesen, irgendwann mitten in dem versoffenen Gespräch der letzten Nacht ganz unvermittelt sagte, wie sehr er Davids Bücher verehre. David Rattray war ein verwegener Abenteurer gewesen und ein Genie und ein Moralist, der bis zum Augenblick seines Todes im Alter von 57 Jahren regelmäßig den unmöglichsten Schwärmereien erlag. Und jetzt spürte Chris, wie Davids Geist sie dazu drängte, ihre eigene Schwärmerei zu begreifen und zu begreifen, wie der geliebte Mensch zu einer Warteschleife werden kann für all die zerfransten Enden sämtlicher Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken, die man in seinem Leben angesammelt hat. Also begann sie Dicks Gesicht zu beschreiben, »blass und lebhaft, gute Knochen, rötliches Haar und tiefliegende Augen«. Während sie schrieb, behielt sich Chris sein Gesicht vor Augen, und dann klingelte das Telefon, und es war Dick.

Chris schämte sich schrecklich. Sie fragte sich, ob er nicht eigentlich für Sylvère anrief, doch Dick erkundigte sich gar nicht nach ihm, also blieb sie in der kratzenden Leitung. Dick rief an, um sein Verschwinden in der Nacht zuvor zu erklären. Er war früh aufgestanden und nach Pearblossom rübergefahren, um sich ein paar Eier mit...

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