Grenze zum gestrigen Tag - Roman

Grenze zum gestrigen Tag - Roman

von: Helga Schütz

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841213563

Sprache: Deutsch

303 Seiten, Download: 1846 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Grenze zum gestrigen Tag - Roman



Asche. Mindestens sieben Eimer. Asche stürzt aus der Ofentür. Schwarze Lava und Staub. Wärmereste des gestrigen Tages. Asche fliegt, klebt in Nase und Auge, kriecht in den Schlossermantel, der meine Blöße bedeckt, hinten besser als vorn, weil Knöpfe fehlen. Ich drehe den Fidibus, zündle. Ich schaufle Asche, schichte die Schlacke zuoberst, ich packe die Henkel, gehe mit Schwung aus dem Kreuz. Ein hochträchtiger Maulwurf, so schleppe ich die Eimer aus dem Keller in den Kübel. Draußen fährt der Frost in mein spärliches Fell. Zwickt, zwackt in das Fleisch. So schnell kann ich den Deckel nicht schließen, als daß nicht eine schwefelstinkende Wolke entfährt.

Auf dem sauberen Rost knistern derweil meine schlau aufgekreuzten Scheite.

Feuer. Die Augen tränen. Wieder schaufle ich Asche zu Asche, eimervoll, zum Überlaufen. Zertrümmere mit dem Ofenspitz meinen größten Brocken. Den habe ich aufgehoben bis zum Schluß. Eine bewunderungswürdige Lavatafel aus gestriger Höllenglut. Zeichenbesetzt, beschrieben. Ein Gebirge, ein Dorf, das trockene Bett eines Baches, barocke Häuser, Ruinen, der Zwinger, die Frauenkirche, Bombentrichter. Was ich mir denken will.

Ich schaufle die Braunkohlenbriketts auf die hellen Flammen. Im schwarzen Ofenloch knistert das Holz. Ich schaufle obenauf guten Koks, bis der Kessel zwischen den Rippen voll ist. Es zündelt tief unter der Kohle. So muß es sein. Die Flammen haben zu tun. Ich fluche nicht mehr. Ich hänge den Aschemantel an den Schaufelstiel und horche zufrieden. So wie ich bin, steige ich nun hinauf. Wieder ist mir das Frührot drüben hinter den Bäumen zuvorgekommen. Der Vorhang hebt sich. Meine Rohre klopfen, es tickt in der Wand. Gleich wird uns warm. Dem Gefährten und dem Kinde in seiner Kammer.

Der Rauch vom Nachbarschornstein zieht mit einem Nordwestwind über den See.

Man kann unsere Sünden überall riechen, besonders bei hoher Luftfeuchtigkeit und Windstille. Schwefelasche. Die Schornsteine faulen allmählich. Die Birken ringsherum verlieren die Köpfe. Immer tut sich etwas. Schlechtes und Gutes.

Manchmal kommt die Aufregung von den Tieren.

Von Tieren soll hier manchmal die Rede sein.

Von einer Katze, von Enten, von Grenzhunden und von Pferden.

Noch zu Zeiten des Stacheldrahtes ist es gewesen, noch vor den Betonjahrzehnten.

Ein mannshoher Wulst zieht sich von Nord nach Süd. Die Grenze.

Sie schneidet uns ab von der Welt. Manchmal bereden wir den Draht und die Minen im Verhau und die Gewehrläufe in den Wachtürmen. Meist denken wir kurz in der Frühe das Wort Tod. Besonders im Winter, wenn die kahlen Bäume uns weit blicken lassen. Besonders an einem grauen Frostmorgen, wenn die Heizungsrohre ticken.

Die Katze ist stolz und einsam. Schwarz bis in die Ohren, aber die Pfoten, der Latz und die Schwanzspitze sind weiß. Wir kennen sie noch lange nicht.

Es ist ein lichthoher Herbstmorgen. Das Laub hat sich in Mulden gesammelt. Das Waldgras hat sich schon hingelegt. Da streift sie meine Gedanken. Sie tritt auf jenes Wort. Sie geht im gleichmäßigen Vierbeinerschritt parallel zum Stacheldraht. Aber in gehörigem Abstand. Sie kommt und geht jeden Tag. Immer zu der erwähnten Morgenstunde.

Wir wohnen am See. Das Haus lümmelt an der Uferböschung, es schaut mit den großen Fenstern in die schöne Richtung. Wo die Sonne aufgeht. Auf drübenscher Seite, am anderen Ufer, liegt das Jenseits, der freie Markt, die westliche Welt. Mithin, für uns geht im Westen die Sonne auf.

Es ist kein Wunder, daß unser Niklas mit einer solchen Meinung in der Schule beim Erdkundelehrer Ärger bekommt. Nach Gesetz muß die Sonne im Osten aufgehen. Wir sehen das jeden Tag anders.

Der Himmel hat Zacken und Stacheln, spitze Umrisse hat der Himmel.

Und damit geht es Schritt für Schritt ins Leben. Man übt das Augenverschließen.

Der Tag steigt über den Waldsaum. Im Hochsommer immer ungefähr dort, wo zu Besuchstagen Flugzeuge im Landeanflug verschwinden. Sondermaschinen der englischen Königin. Wir wissen schon ein paar Wochen vorher, daß die Königin kommt. Dudelsäcke probieren die Hymne und Marschmusik für den Gleichschritt. Man hört es von weit. Die westlichen Alliierten kümmern sich um den Status von Berlin. Die Franzosen, die Amerikaner, jeder hat einen Flugplatz. Der Flugplatz der Engländer liegt drüben hinter dem Wald.

Der Wind trägt uns manches zu. Im Sommer sogar das, was die Biertrinker in der Strandbaude am anderen Ufer reden.

Der See dampft. Ein Fischerboot läßt sich vom Westen herübertreiben. Schläft denn der Kerl? Oder dreht der mit Absicht so leichtfertig Richtung Osten? Der traut sich was. Noch mehr riskieren die Schlittschuhläufer und Schwimmer. Es ist nur ein Zeichen von Nachsicht oder Politik, daß sie in ihrer Tollheit noch leben. Auf dem Atlas verläuft die genaue Grenze in der Mitte des Sees. Das Wasser ist tief. Kein Balken hält die windgetriebenen Wellen. Die Aale und Havelzander leben wie in alten Zeiten. Die Vögel haben sowieso wenig Gesetz im Leibe. Keine Not mit der Schwerkraft, keinen Kummer vor Grenzen. In nämlichem Geiste scheinen die jenseitigen Schlittschuhläufer zu leben. Mit Musik und Sonntagslaune, so treiben sie bis an unser verdrahtetes Ufer.

Die Wächter auf den Türmen haben nicht geschossen. Bis jetzt nicht. Jedenfalls nicht mit Absicht.

Die kleine Regine war auf dem Pausenspielplatz hinter der Behelfsschule im Grenzgebiet, wo die geburtenstarken Jahrgänge der Klassen eins bis drei unterrichtet werden, vom dicken Querast der Weide gefallen. Plötzlich, wie tot. Der Doktor vom Landambulatorium hatte das Kind in seinem eigenen Auto ins Stadtkrankenhaus gefahren. Aus der Röntgenabteilung ging’s gleich in die Chirurgie. Ein Projektil hätte in ihrer Schulter gesteckt. Aber das war nur ein Gerücht, denn unser Doktor durfte bei der Operation nicht dabeisein. Sicherheitskräfte bewachten die Türen. Sie hatten die Röntgenaufnahmen sofort mitgenommen. Die Ärzte und das Personal bekamen verschärfte Schweigepflicht. Sicherlich ein Blindschuß, so vermuteten die Alten im Dorf, die mit Flinten und Kugeln noch vom Krieg her ihre Erfahrungen hatten. Regine hat Glück gehabt. Die Wunde heilte schnell. Die Weide wurde gefällt, die dicken Holzkloben abtransportiert. Die Pausenspiele hinter dem Gebäude verboten. Regine konnte sich an nichts erinnern. Sie hatte vergessen, daß sie von einem Ast gefallen war. Wenn sie es nicht einmal selber weiß. Auf Gerüchte soll man nichts geben. Das kleine sternförmige Zeichen unter dem Schlüsselbein?

Das ist schon lange, schon immer, erklärt Regine.

Einmal, beim Mittagessen, Linsen mit Rauchfleisch, das Gebell eines Hundes, ein lästiges Gejaule, dann ein Wimmern. Eine Weile wollten wir glauben, daß es Rollo wäre. Der raffinierte, ungezogene Heuler. Doch dann warfen wir die Löffel hin, wir rannten aus der Hintertür, den Garten hinunter. Hugo und Niklas. Ich hinterher. Ein fremder braunlockiger Hund hing mit beiden Ohren im Stacheldraht, mitten im Gestrick. Er hatte schon alles versucht, eine Mulde getreten, das Fell zerrissen, er kam nicht mehr los. Er lag nun still, gab nur noch wimmernde Laute. Der Nachbar stand oben neben seiner Wohnhütte. Er kam die Böschung herunter, vergaß den Abstand, den er sonst hielt, weil wir nicht riechen sollten, wenn er einen gehoben hatte. Verdammt. Wir standen da, mit hängenden Schultern. Hilflos. Der Nachbar drehte sich fluchend um. Verdammt. Er stieg hoch zum Werkzeugschuppen. Er kam mit einer Drahtschere zurück. Auch eine Kneifzange brachte er mit. Zack, murmelte er. Wie bitte? fragte Hugo. Der Nachbar schüttelte den Kopf. Er sprach mit dem Werkzeug. Verdammt, sagte er. Verdammt. Fluch und Gebet. Wir nickten. Er zog ein Taschentuch, schnaubte, um sich fertigzumachen. Er kniete hin, scharrte sich eine Position zum Liegen. Wir redeten dem Tier gut zu. Guter Hund. Versprachen einen Rauchfleischknochen, sogar unser ganzes Linsengericht. Er sollte nur weiter stillhalten. Er schwieg tatsächlich. Uns stockte der Atem. Der Nachbar schob sich auf dem Bauch bis hin zum Stacheldraht. Er setzte die Schere an. Zack. Dreimal sagte er zack. Er bog den äußeren Draht beiseite. Der Hund im inneren Gestrick rührte sich nicht. Hatte der beschwipste Nachbar vergessen, wo er zu Hause war und was er tat? – Die Schere, der dreimal zerschnittene Stacheldraht. Das faustgroße Loch. Auf die Verletzung des Drahtes stand Gefängnis oder Tod. Die Zeitungen nannten die Sperre damals noch Antifaschistischer Schutzwall, der Nachbar hatte mit unserer Beihilfe hineingekniffen, ein Loch geschnitten, den Schutzwall kaputtgemacht. Grenzverletzer. Kriegstreiber.

Wir schnauzten das Kind an. Niklas sollte sich in Entfernung auf den Weidenstamm setzen. Hugo schob auch mich weg. Zieh ab, geh zu dem Jungen. Eine Mine konnte hochgehen. Ein Schuß konnte fallen.

Das Knirschen der Drahtschere. Zack. Sommerliches Getöne. Haubentaucher. Ein Frosch. Mildes Blau. Ein schöner Tag im Juni, so müßte ich mich erinnern.

Hugo holte sich die Anglerjacke von Niklas. Er wickelte sich die Jacke um die Hand, knotete die Ärmel ums Gelenk. Ich knickte Blütendolden vom Holunder, bog die Äste, zog Zweige zu mir herunter. Alles, um dem Wachturm ein freundliches Bild zu malen. Die Holunderblütensammlerin. Holundertee, ein altes Hausmittel gegen Fieber. Ich pflückte noch mehr. In nämlicher Absicht zog ein Sperber über den See. Weil wir den Frieden gewährleisten wollten. Friedensholundertee. Friede über uns.

Auf dem Trampelpfad zwischen hüfthohem Beifuß näherte sich...

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