Vor Anbruch der Morgenröte - Leben und Dienste I. Erzählungen

Vor Anbruch der Morgenröte - Leben und Dienste I. Erzählungen

von: Philipp Schönthaler

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2017

ISBN: 9783957574237

Sprache: Deutsch

213 Seiten, Download: 336 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Vor Anbruch der Morgenröte - Leben und Dienste I. Erzählungen



Vor Anbruch der Morgenröte

Am Interstate 45, keine 90 Kilometer südlich von Dallas, liegt Corsicana, nach der französischen Mittelmeerinsel benannt. Auf der Karte bildet die Überlandstraße eine Falllinie ins 180 Kilometer entfernte Huntsville, von wo sie weiter nach Houston und – als folge sie tatsächlich einer Gravitationskraft – bis hinunter an den Golf von Mexico führt. Von Osten, von Athens und Longview kommend, kreuzt der Highway 31 den Interstate 45 auf Höhe Corsicanas, dem Verwaltungssitz des Navarro Countys, das Justizgebäude im verspielten Beaux-Art-Stil gehört zu den monumentalsten im Ort, gleichzeitig macht der Highway dort einen sanften Knick und fällt in südwestlicher Richtung ab. Auf dem letzten Abschnitt führt er in Höhe des Navarro Mills Lake an Dawson vorbei, kurz darauf verjüngen sich die vier Spuren auf zwei, bevor sein Westwärtsvorstoß kurz vor Waco auf Höhe von Mount Carmel mit der Einmündung auf die Route 84 endet. Mit ihren 100 000 Einwohnern gehört die Stadt am Zusammenfluss von Brazo und Bosque River bereits zum McLennon County und damit zu Zentraltexas.

Die Weitläufigkeit der Umgebung lässt sich hier, im mittleren Nordosten der texanischen Prärie, besser vom Himmel als im Blick auf die Landschaft ablesen, die von zahlreichen Bäumen durchsetzt ist, vereinzelt oder in kleinen Gruppen säumen sie das Grasland über beträchtliche Entfernungen und beschränken die Sicht aus Windschutzscheibe und Seitenfenster auf das Offene der Gegend, das den Blick von jedem erhöhten Standpunkt sofort für sich einnimmt. Die Vegetation ist mit ihren Ulmen, Eichen, Pekan-, Schwarznuss-, Zürgel- und Mesquitebäumen vielfältig, das Wasseraufkommen hoch, selbst im Mittelstreifen des Highways, eine kleine Senke zwischen den gradlinigen Asphaltbändern, kann sich der krause Graswuchs in Nestern bis in den Sommer hinein lebendig halten, wenn die Weiden ringsherum ausbleichen und sich allmählich braun und grau verfärben. Der Juli ist trocken, die Tageshöchsttemperaturen erreichen jetzt im Durchschnitt 36 Grad und werden auch im August nur noch unwesentlich übertroffen. Die längste Zeit lebte man in der Region von Baumwolle, Getreide und Rindern und nach wie vor sieht man dies der parzellierten Landschaft, von kilometerlangen Zäunen gradlinig durchschnitten, auf jedem Schritt an. Und noch immer trifft man auf Männer aus einer längst versunken geglaubten Epoche, die sich mit Einheitsgesten auskragende Strohhüte in die Stirn schieben, die Gürtel mit zinklegierten Schnallen zusammengehalten, an den Füßen ziernahtverarbeitete Rindslederstiefel, hochschaftig und mit konisch zulaufenden Spitzen, die mit ihren abgeschrägten Absätzen auf den gefliesten Korridoren der Supermärkte, in Tankstellenshops oder Spirituosenläden hart aufschlagen wie sonst nur Frauenschuhe. In den Häusern und unter den Sitzbänken in der Kabine der Pickup Trucks verstaut man Schusswaffen wie andernorts Taschenschirme. Auf dem Highway 31 sind gewöhnlich nur wenige Menschen unterwegs, die Hauptverkehrsachsen verlaufen östlich mit dem Interstate 45 und westlich mit dem Interstate 35, Letzterer führt von Oklahoma über Dallas und Austin nach San Antonio im Süden. In unregelmäßigen Abständen zweigen schlecht oder gänzlich unasphaltierte Straßen vom Highway ab, hin und wieder baufällige Fertighäuser direkt an der Straße, einige verlassen, im Vorgarten die verblichenen Stahlrohrgestelle von freistehenden Kinderschaukeln, meist liegen die Grundstücke jedoch weit zurückgesetzt und sind selbst am Tag zwischen den Gräsern und Bäumen vom Highway aus kaum zu sehen. Dann verraten allenfalls Gatter oder mit wettergebeizten Planken überwölbte Zufahrten, eine Mülltonne oder ein an einem schrägstehenden Pflock am Straßenrand montierter Briefkasten, dass dort im Grünen versteckt Menschen wohnen. Dawson, nahezu mittig am Highway 31 zwischen Corsicana und Waco gelegen, zählt keine tausend Einwohner.

Im Sommer 1981 hat Joseph Paul Jernigan bereits die meiste Zeit seines Lebens in Navarro und den angrenzenden Gemeinden verbracht, nachdem er als Junge mit seiner Mutter und deren neuem Mann, einem Truckfahrer, der mehr Zeit auf der Straße als daheim verbringt, nach Corsicana gezogen ist. Geboren wird er in Illinois, asthmakrank als letztes von sechs Kindern. Jernigan ist zwei Jahre alt, als der Vater die Familie mit der Freundin der Mutter verlässt. Die Familie zieht nach Chicago, die Mutter, den Bedürfnissen der Kinder stets drei Schritte hinterher, versucht sich in sämtlichen Rollen, Tootsie Toys-Verkäuferin, Gefängnissekretärin, Barkellnerin, Inspektorin auf einer Geflügelfarm. Zeitweise putzt Jernigan Schuhe, das erworbene Geld nimmt die Mutter an sich. Noch als Dreizehnjähriger nässt Jernigan das Bett ein, als die Mutter nach einem Schlaganfall für Monate einseitig gelähmt im Krankenhaus von Corsicana liegt. Der älteste Bruder, der sich bisher um die Familie und seinen jüngsten Bruder gekümmert hat, ist kurz zuvor der Armee beigetreten und wird fortan eigene Wege gehen. Jernigan trinkt, seit er fünfzehn ist. Dem Leben kann er seit seiner Jugend nur noch mit Drogen begegnen, kaum etwas, das er unversucht lassen wird, Gras, Morphin, Preludin, Kokain, Meskalin, LSD, Methadrin, Methamphetamine, Heroin, Leim schnüffelt er nur, wenn nichts anderes zu haben ist.

Im Juli 1971 verpflichtet sich Jernigan, dem Vorbild seines Bruders folgend, als Soldat, er ist jetzt siebzehn, einmal ist er in der Schule sitzengeblieben. Damalige Freunde beschreiben ihn als ruhig und zurückhaltend, in Gesprächskreisen steht er am Rand, schließt sich anderen an, statt selbst das Wort zu ergreifen. Früher musste ihn sein Bruder hin und wieder zurückhalten, sich von anderen keine leichtsinnigen Mutproben aufschwatzen zu lassen, die außer ihm jeder sofort ausgeschlagen hätte. Die Militärleitung sendet ihn nach Ford Sills, er wird als Automechaniker angelernt und später nach Aschaffenburg in Deutschland versetzt. Er versucht sich das Leben zu nehmen, schneidet sich die Adern an den Handgelenken auf und schluckt eine Überdosis Beruhigungstabletten, die für Pferde, nicht für Menschen gemacht sind. Mit 19 Jahren wird er vorzeitig aus der Armee entlassen, nicht unehrenhaft, in den Unterlagen steht lediglich kein Kommentar, an anderer Stelle findet sich ein Vermerk due to unfitness. Im Krankenhaus für Veteranen, in das man ihn einweist, bescheinigt der Arzt dem gerade erst Volljährigen eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung.

Jernigan kehrt nach Corsicana zurück, handwerklich ist er geschickt, aber er hat kaum Vorstellungen davon, was er mit seinem Leben anfangen soll. In seinem Auto installiert er eine Kühlbox für Eis und Bier. Das Fahrzeug ist ein mobiler Zufluchtsort, es hält ihn, selbst als es mit seinem Leben nicht vorangeht, beweglich. Jernigan ist im gesamten Navarro County unterwegs, aber er hat nur selten ein klares Ziel, oftmals könnte er ebenso gut in diese wie in die entgegengesetzte Richtung fahren. Dann sitzt er wieder zuhause, raucht und trinkt. Ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Armee und später dem Krankenhaus wird er schließlich das erste Mal den Richtern im Bezirksgericht Corsicanas mit seinen ionischen Säulen und dem hohen Glockenturm vorgeführt. Das Gebäude befindet sich in derselben Straße, in der er damals wohnt, West Third Avenue, man muss nur eineinhalb Kilometer der Straße, die parallel zum Highway 31 verläuft, stadteinwärts folgen, wo der Bau zurückgesetzt von der Straße thront, er ist von gepflegten Rasenflächen und alten Bäumen mit weit auskragenden Kronen eingefasst, der Haupteingang von mannshohen Skulpturen flankiert. In den ersten fünf Jahren ist das 1848 gegründete Bezirksgericht in einem Holzschuppen untergebracht, in der Folgezeit wird es mehrmals neu aufgezogen, von Mal zu Mal wächst es, wird breiter und höher, seither wirkt das Staatsgebäude in der 20 000-Einwohner-Ortschaft, die ansonsten nur durch die Vielzahl ihrer Kirchen auffällt, merkwürdig überdimensioniert. In jenem August 1973 führt der Assistenzrichter die Verhandlung, Doug Hightower. Names are important in this tale – der Kommentar zu B. Travens Totenschiff trifft eigentümlicherweise auch auf Jernigans Geschichte zu.

Hightower verliest drei Anklagen wegen eines nächtlichen Einbruchs in McLellans Department Store in Corsicana, einer einstmals landesweiten Five and Dime-Ladenkette, die ihren Zenit seit der Großen Depression in den Dreißigerjahren schon lang überschritten hat, sich als örtliche Gemischtwarenhandlung mit neuem Investor aber dennoch hat halten können. In langen Regalreihen und Drahtkörben werden alle erdenklichen Dinge für den kleinen Geldbeutel feilgeboten, Hygieneartikel oder Süßigkeiten, Gartenzubehör oder Plastikspielzeug, elektronische Kleingeräte oder Dekorationsbedarf, aber auch Tiefkühlkost oder Schlüsselkettchen, an deren Ende Souvenirs und briefmarkengroße Fotos in Plastikschildchen baumeln.

Neben Jernigan stehen zwei Mitangeklagte vor Gericht, eine der beiden ist Jernigans Mitbewohnerin. Jernigan wird zu fünf Jahren verurteilt, man bringt ihn in die Eastham Unit, kurz the Ham, der Schinken, genannt. Folgt man dem Interstate 45 von Corsicana kommend nach Süden bis Huntsville, liegt das Männergefängnis auf dem letzten Drittel in der Einöde, es ist nur auf einer Dead End Road zu erreichen, einer Einbahnstraße, der Prison Road. Der nächstliegende Ort, Lovelady, mit 500 Einwohnern, ist 30 Kilometer entfernt. Vor seiner Einlieferung in Eastham stellt ein Gefängnisarzt eine Diagnose, Code 52B7, Anpassungsstörung, als Medikation verschreibt er Elavil und Mellaril.

Als er in jenem verhängnisvollen Sommer, am Freitag den 3. Juli 1981, auf dem Highway 31 unterwegs ist, nistet in Jernigan das...

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