Jack Engles Leben und Abenteuer - Roman

Jack Engles Leben und Abenteuer - Roman

von: Walt Whitman

Manesse, 2017

ISBN: 9783641221409

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 731 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Jack Engles Leben und Abenteuer - Roman



Kapitel 12

Der Vater, nach dem Leben gezeichnetEine ErweckungsversammlungEine Verabredung mit Wigglesworth

Die Welt wird ständig mit Porträts religiöser Fanatiker beglückt – mit Darstellungen über Methodisten, Presbyterianer, Katholiken und so weiter, Theaterstücke, Romane und Gedichte nehmen sich ihrer an. Gewöhnlich aber irren sie in einem Punkt – sie sprechen dem Schwärmer die Wahrhaftigkeit ab. Tatsächlich aber ist der religiöse Schwärmer immer aufrichtig. Überdies sind diese Enthusiasten – ob Mann oder Frau – wie alle Exemplare der Gattung Mensch ein Kompositum aus Gut und Böse. Religiöses Schwärmertum ist nicht notwendigerweise schlecht, ganz im Gegenteil. Nur kann es andere wichtige Charakterzüge des Menschen nicht beeinflussen, die bleiben, wie sie sind, und ihm nach wie vor ihren Stempel aufdrücken.

Calvin Peterson war keine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel. Die Natur hatte ihm Charakterfestigkeit geschenkt. Er besaß große Entschlossenheit und Stärke; wenn es um seinen Glauben ging, hätte er mit stoischer Geduld alle Schmerzen oder Strafen erduldet. Die kleinen Opfer, die dieser Glaube forderte, waren ihm durchaus willkommen, und kleine Ärgernisse sind schwerer zu ertragen als große. Subtilere Gefühle aber gingen Calvin ab oder waren in ihm verborgen und ließen ihn nach außen hart und streng erscheinen. Er hing an seiner Familie, ihr Seelenheil aber war ihm wichtiger als ihr Wohlergehen hienieden, und immer wieder bekamen die Seinen die Auswirkungen dieser Einseitigkeit zu spüren.

Doch täte man ihm unrecht, wenn man ihm absprechen würde, dass er für die Seinen stets auf den größten und dauerhaftesten Nutzen bedacht war. Es handelte sich einfach um seine Sicht der Dinge. Was die simplen Tugenden der Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit betraf, glich Calvin einem arglosen Kind.

Tom, sein Sohn und mein Freund, liebte seinen Vater im Grunde, aber es war eine Liebe, die nicht durch Zuwendung und gegenseitiges Vertrauen gepflegt und gestärkt worden war. So geht es häufig mit Vater und Sohn. Tom fand seinen Vater zu streng, und jener fand den jungen Mann zu liederlich und sprunghaft. Dann und wann gab es ernstlich Streit, sodass Tom zuweilen fast so etwas wie Widerwillen gegenüber dem Vater empfand.

Als Tom und ich noch Kinder gewesen waren, hatten wir häufig die Methodistenversammlungen besucht, auf denen Calvin Peterson glänzte, und ich habe dank ihm so manches eindrucksvolle Spektakel erlebt, bei dem zweifellos viel echte Frömmigkeit im Spiel war.

Eine New Yorker Erweckungsversammlung! Wie deutlich sehe ich heute eine von ihnen vor mir. Es war ein schöner Herbstabend, weder zu warm noch zu kalt. Die Fenster der Kirche standen ein Stück weit offen, denn innen drängte sich die Menge. Jeder Sitz und Stehplatz, jede Stufe, jeder Winkel war besetzt, belegt, rammelvoll.

Man kommt durch die Tür herein, scharf beäugt von einem Mann, der von innen den Türknauf festhält – man hat beim Öffnen der Türe den Druck gespürt, denn der Mann ließ niemanden so ohne Weiteres ein, sondern erst nach einer ernsten und letztlich zufriedenstellenden Musterung von Kopf bis Fuß. Vielleicht wies er einen durch Gesten zu einer Stelle näher am Altar, wo sich, wenn man sich eng zusammendrängte, ein Sitzplatz finden ließ.

«Komm hernieder, o Herr, o komm in dieser Nacht. Komm zu uns, o Herr.»

Die Hände hoch erhoben, den Kopf in den Nacken gelegt, das Gesicht schweißüberströmt, so erblickte ich Calvin Peterson und hörte seine Stimme: «Jetzt, Brüder, lasset uns beten.»

Und auch Calvin erhob seine Stimme zum Gebet, einem Gebet, das ein inbrünstiger, pathetischer, leidenschaftlicher Appell an den Schöpfer war, ehrfurchtsvoll und vertraut zugleich, mit der stetig wiederholten Bitte, er möge kommen und unter seinen Gläubigen verweilen. Es fehlte Calvins Gebet auch nicht an Gefühl. Er betete für alle, für seine eigenen Kinder (Tom hatte mich begleitet, schien aber gänzlich unbeeindruckt), für alle Sünder, Armen und Unwissenden. Vor allem aber erbat er ein unbestimmbares Etwas, um die Menschen zu dem zu machen, was sie sein sollten. «Berühre unser Herz mit Feuer, o Herr, lass zerbersten den widerspenstigen Fels, schenke uns die Einsicht, wie sündig und unwert und hilflos wir ohne dich sind. O sende uns deinen Geist herab und wohne in unsrer Mitte. Deines Geistes bedürfen wir vor allem anderen, und haben wir ihn, so haben wir alles.»

Gegen Ende seiner Anrufungen hatte Calvin heftig zu kämpfen, so sehr hatte er sich in Rage geredet. Auch die anderen Männer am Altar und um den Altar herum schwankten wie Bäume im Wind und ergänzten Calvins Fürbitten mit vielen Amen und inbrünstigen Seufzern. Gut möglich, dass ihm das Formvollendete, die gewählte Vornehmheit manch anderer frommer Ergüsse fehlte, aber da es aufrichtig und ungekünstelt geradewegs dem Herzen entsprang, dürfen wir wohl mit Fug und Recht annehmen, dass es aus Sicht der Gottheit die gleiche Wirkung tat wie die geschliffensten und elegantesten Fürbitten.

Vor dem Altar verlief im Halbrund ein Geländer mit einer gepolsterten Stufe. Auf dieser Stufe knieten eng aneinandergedrängt zahlreiche junge Mädchen und Frauen, von denen viele die Hände vors Gesicht gelegt hatten und herzerweichend schluchzten. Hin und wieder beugte sich einer der Männer auf der anderen Seite des Geländers zu ihnen hinab und flüsterte ihnen etwas zu, ohne dass er, wie’s schien, eine Antwort bekam.

«Betet für sie, Brüder, o betet für sie», sagte Calvin, indem er auf die Frauen und die vielen Männer und Knaben deutete, die auf dem freien Platz vor dem Altar knieten, hockten oder sich sogar flach hingelegt hatten.

Mitunter kam Calvin nach vorn, ging zwischen ihnen herum, beugte sich zu ihnen herunter und sprach mit ihnen.

Er war ein sehr spontaner Mensch, unser Mr. Peterson. Zum Beispiel forderte er eines Tages nach dem Ende eines Chorals mit schallender Stimme: «Mögen sich alle, die den Herrn lieben, von ihren Plätzen erheben.»

Da entstand eine Pause, und ich muss leider sagen, dass nur ein blasser, verlegener junger Mann, ein Schneiderlehrling, der Aufforderung Folge leistete.

Dann sangen sie, und das war von allem das Beste. Denn sie sangen mit Hingabe und mit besonderer Vorliebe die ausgelassenen, ja eigenwilligen Weisen, von denen es in Amerika so viele gibt. Was liegt doch für ein Zauber in der menschlichen Stimme, die weit besser als alle Instrumente solche Wirkungen hervorzubringen vermag.

Ich hätte dem Gesang die ganze Nacht lauschen können. Besonders deutlich entsinne ich mich eines Liedes, das den Kampf zwischen der Hinneigung der Seele zur Religion auf der einen und zum weltlichen Vergnügen auf der anderen Seite zum Thema hat.

O komm, du Seele mein, lass uns zur Abendstund

Beschreiten einen Weg, der dir genehm,

Wie du auch wählst, wir werden folgen,

O sei’s nach Golgatha oder Gethsemane.

Nur ist Berg Golgatha zu hoch und zu beschwerlich

Als Ziel für mich, als dass ich es erstreb,

Und wie ich hörte, lauern Löwen unersättlich

Auf Wandrer gen Gethsemane unentwegt.9

So lauteten die ersten beiden Verse dieses beliebten alten Erweckungsliedes, das im Duktus eines John Bunyan10 den Widerstreit im Herzen zwischen Liebe und Fleischeslust auf der einen und den Geboten der Pflichterfüllung auf der anderen Seite schildert. Diese kraftvollen, ja fast vulgären Allegorien treffen unweigerlich die allgemeine Stimmungslage, und was mich betrifft, so liebe ich sie noch immer.

In den Gesang stimmten alle ein, denen der Sinn danach stand, und auch wenn ein verfeinertes Gehör darin gewiss Misstöne genug entdeckt haben würde, störte sich die Gemeinde in solchen Versammlungen nicht daran. Im Übrigen denke ich, dass ein wahrhaft ausgebildeter musikalischer Geschmack in diesen frischen, originellen Weisen einen überraschenden Reiz entdeckt hätte.

Zu fortgeschrittener Nachtstunde, wenn alle Beteiligten redlich erschöpft waren, löste sich eine Erweckungsversammlung, wie ich sie oben geschildert habe, für gewöhnlich auf, und die Gemeinde strömte heimwärts.

Die geschilderte Versammlung lief genauso ab, wie ich sie aus der Zeit in Erinnerung habe, als Tom Peterson und ich, fünfzehn und sechzehn Jahre alt, am Sonntagabend, manchmal auch unter der Woche solche Zusammenkünfte besuchten. Bis heute hat sich nicht viel an ihnen geändert.

Als wir zu jungen Männern herangewachsen waren, ließ unser Eifer allerdings erheblich nach, denn Tom war zu der durchaus naheliegenden Überzeugung gelangt, dass das Gebaren seines Vaters auf diesen Versammlungen seiner Würde alles andere als zuträglich war.

Auf dem Heimweg von einem dieser Treffen begegnete ich Wigglesworth. Der Alte befand sich in höchster Aufregung, die ich dem frommen Fieber zuschrieb, das ihn jetzt ganz und gar erfasst hatte.

«Jack», sagte er, indem er meine Hand nahm und in sehr ernstem, hastigem Ton sprach, «Jack, ich muss nachdrücklich mit dir reden.»

«Das wird nichts nützen, mein lieber Alter», gab ich zurück. «Ich fürchte, dass ich noch viele Jahre lang ein Sünder bleiben werde.»

«Nein, nein!», rief er noch erregter. «Darum geht es nicht. Und doch, es geht um eine Sünde, denn es geht um Covert. Ich werde dir die schändlichsten Streiche aufdecken, die dieser Mann dir gespielt hat, die größten...

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