Die Ordnung der Dinge - Im Reich der Elemente

Die Ordnung der Dinge - Im Reich der Elemente

von: Sam Kean

Hoffmann und Campe, 2011

ISBN: 9783455850031

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 4594 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Ordnung der Dinge - Im Reich der Elemente



 

 

Einleitung

 

 

 

 

Als Kind neigte ich dazu, mit vollem Mund zu sprechen – nicht nur beim Essen, sondern auch, wenn mir beim Zahnarzt der Saugschlauch im Unterkiefer hing oder wenn ich einen Luftballon aufblies, der allerdings davonflog, sobald ich den Mund aufmachte. Ganz gleich, was ich im Mund hatte, ich brabbelte vor mich hin, selbst wenn niemand in der Nähe war. Dieser Angewohnheit verdanke ich, dass mich das Periodensystem in seinen Bann schlug, als ich zum ersten Mal mit einem Thermometer unter der Zunge alleingelassen wurde. Im zweiten und dritten Schuljahr war ich wohl ein Dutzend Mal mit einer Halsentzündung ans Bett gefesselt, die mich nervte, weil ich tagelang nur unter Schmerzen schlucken konnte. Aber ich hatte nichts dagegen, zu Hause zu bleiben und mir als »Medizin« Vanilleeis mit Schokoladensauce schmecken zu lassen. Außerdem hatte ich jedes Mal, wenn ich krank war, Gelegenheit, ein weiteres Quecksilberthermometer zu zerbrechen.

Ich lag da, mit dem gläsernen Stift unter der Zunge, und öffnete den Mund, um eine imaginäre Frage zu beantworten. Das hatte zur Folge, dass das Thermometer sich selbständig machte und zu Boden fiel, wo es zerbrach. Die Quecksilberkügelchen verteilten sich wie die Kugeln eines unvollständigen Kugellagers, und eine Minute später rutschte meine Mutter trotz ihrer kaputten Hüfte auf dem Boden herum, um sie wieder einzufangen. Mit einem Zahnstocher trieb sie je zwei der kleinen weichen Kugeln aufeinander zu, bis die größere die kleinere in sich aufnahm. Das wiederholte sie so lange, bis sie das gesamte Quecksilber zu einer einzigen zitternden Masse versammelt hatte.

Dann holte sie ein mit einem grünen Etikett versehenes Pillenfläschchen aus Plastik, das in der Küche auf einem Hängeregal zwischen einem Teddybären mit Angelrute und einem blauen Keramikkrug aufbewahrt wurde. Sie schob das wabernde Quecksilber auf einen Briefumschlag und goss es vorsichtig auf den nussgroßen Klumpen, in dem die früheren Opfer meines achtlosen Umgangs mit Thermometern begraben waren. Manchmal goss sie das Quecksilber zunächst in den Deckel des Fläschchens, damit meine Geschwister und ich uns ansehen konnten, wie das futuristisch wirkende Metall umhertanzte, sich teilte und wieder vereinigte. Mir taten jene Kinder leid, deren Mütter aus Angst vor Quecksilber sogar den Thunfisch vom Speiseplan gestrichen hatten. Die Alchimisten des Mittelalters hatten Quecksilber trotz ihrer Gier nach Gold für die mächtigste und poetischste Substanz im Universum gehalten. Als Kind hätte ich ihnen zugestimmt. Ich hätte sogar wie sie geglaubt, dass dieser Stoff sich Kategorien wie fest und flüssig, Metall und Wasser, Himmel und Hölle entziehe und Geister aus einer anderen Welt beherberge.

Später fand ich heraus, dass sich Quecksilber auf so besondere Art und Weise verhält, weil es ein Element ist. Im Unterschied zu Wasser (H2O) oder Kohlendioxid (CO2), ja zu fast allem, was uns täglich begegnet, kann man Quecksilber nicht auf natürlichem Weg in andere Stoffe scheiden. Quecksilber zählt sogar zu den vornehmeren Elementen: Seine Atome lassen sich nur mit anderen Quecksilberatomen ein und beschränken die Berührung mit der Außenwelt auf ein Minimum, indem sie sich miteinander zur Kugel zusammenziehen. Die meisten Flüssigkeiten, die ich als Kind verschüttete, verhielten sich ganz anders. Wasser, Öl, Essig und Wackelpudding, der noch nicht abgekühlt war, zerliefen und hinterließen Flecken. Auch schärften mir meine Eltern immer wieder ein, nicht barfuß zu gehen, wenn ich ein Thermometer hatte fallen lassen, damit ich mir keine Glassplitter eintrat. Aber ich erinnere mich nicht an Warnungen vor auseinandergelaufenem Quecksilber.

In der Schule interessierte ich mich für alles, was mit Quecksilber zu tun hatte, und suchte in Büchern nach seinem Namen, wie man darauf lauert, in der Zeitung den Namen eines Freundes aus Kindertagen zu entdecken. Ich komme aus den Great Plains und habe im Geschichtsunterricht gelernt, dass Lewis und Clark ein Mikroskop, Kompasse, Sextanten, drei Quecksilberthermometer und andere Instrumente mit sich führten, als sie South Dakota und den Rest des Louisiana-Territoriums durchquerten. Nicht erfahren habe ich in der Schule, dass zu ihrer Ausrüstung auch sechshundert quecksilberhaltige Abführtabletten gehörten, jede viermal so groß wie die heutigen Aspirintabletten. Das Medikament trug den schönen Namen »Dr. Rush's Bilious Pills«, nach Benjamin Rush, einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, der 1793 tapfer während einer Gelbfieberepidemie in Philadelphia ausgeharrt und sein ganzes Berufsleben lang versucht hatte, jede Krankheit mit einer oral verabreichten Quecksilberchloridbrühe zu behandeln. Trotz aller Fortschritte, die die Heilkunde zwischen 1400 und 1800 gemacht hatte, waren die Ärzte damals immer noch eher Medizinmänner als Mediziner. Sie glaubten, das schöne, verführerische Quecksilber werde die Kranken mit seinem Zauber heilen, indem es eine schwere Krise auslöste – der Grundgedanke war also, ein Gift mit einem anderen zu bekämpfen. Dr. Rush flößte seinen Patienten die Quecksilbermischung ein, bis ihnen der Schaum vor dem Mund stand; waren sie monatelang mit diesem Gift behandelt worden, fielen ihnen oft Zähne und Haare aus. Ohne Zweifel hat dieses »Heilmittel« zahllose Menschen getötet, die das Gelbfieber möglicherweise überlebt hätten. Zehn Jahre später, nachdem er seine Behandlungsmethode in Philadelphia perfektioniert hatte, schickte Rush Lewis und Clark einige Muster. So hatte dieses Medikament zumindest einen Nutzen: Archäologen konnten anhand seiner Spuren rekonstruieren, wo die Entdecker ihre Lager aufgeschlagen hatten. Da ihr Proviant zum Teil ungesund und auch das Trinkwasser oft von fragwürdiger Qualität war, hatte ständig irgendein Mitglied der Expedition Verdauungsbeschwerden, und bis zum heutigen Tag findet man an den Stellen, an denen das Team von Lewis und Clark eine Latrine aushob, Quecksilberablagerungen, Hinweise, dass man sich auf die Wirkung von Dr. Rushs Pillen verlassen konnte.

Das Quecksilber tauchte natürlich auch im Chemieunterricht auf. Als ich erstmals mit dem verwirrenden Periodensystem konfrontiert wurde, suchte ich zwar vergebens nach diesem Element. Aber es war da, zwischen dem ebenfalls dichten und weichen Gold und dem ebenfalls giftigen Thallium. Das Symbol bestand aus zwei Buchstaben, die im Namen des Elements überhaupt nicht auftauchen: Hg. Als der Schleier gelüftet wurde – das Kürzel steht für hydragyrum, die lateinische Bezeichnung für »Wassersilber« –, erhielt ich einen ersten Eindruck, wie sehr das Periodensystem von den alten Sprachen und der antiken Mythologie geprägt ist (was man auch an den lateinischen Bezeichnungen für die erst jüngst entdeckten superschweren Elemente am Ende des Systems erkennen kann).

Das Quecksilber begegnete mir sogar im Literaturunterricht. Die Hutmacher verwendeten früher eine orangefarben leuchtende Quecksilbermixtur, um Biberfelle vom Balg zu lösen, was für die Arbeiter, die in den dampfenden Kesseln rührten, zur Folge hatte, dass sie wie der Verrückte in Alice im Wunderland mit der Zeit ihr Haar und ihren Verstand verloren. So wurde mir klar, wie giftig Quecksilber ist, und damit auch, warum die Pillen von Dr. Rush die Gedärme so gut gereinigt hatten: Der Körper versucht nämlich, jedes Gift wieder loszuwerden. Doch so giftig geschlucktes, also festes Quecksilber ist, seine Dämpfe sind noch viel schlimmer. Sie greifen die Netze des Zentralnervensystems an und brennen Löcher ins Gehirn, womit sie ähnlich wirken wie ein fortgeschrittener Alzheimer.

Aber je mehr ich über die Gefahren des Quecksilbers erfuhr, desto mehr zog es mich mit seiner Unheil verbreitenden Schönheit an. Jahre später dekorierten meine Eltern die Küche neu und entfernten das Hängeregal mit dem Krug, dem Teddybär und dem Pillenfläschchen, bewahrten diesen Krimskrams aber in einem Karton auf. Bei einem späteren Besuch holte ich das Fläschchen hervor und öffnete es. Als ich hineinsah, fiel mein Blick auf winzige Kügelchen, die sich von der Hauptmasse gelöst hatten. Sie lagen da und schimmerten wie die vollkommensten Wasserperlen, die man sich vorstellen kann. In meiner Kindheit war vergossenes Quecksilber für mich gleichbedeutend mit Fieber. Doch mittlerweile wusste ich um die beängstigende Symmetrie dieser Kügelchen, und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

 

Das Quecksilber gab den Anstoß, dass ich mich mit Geschichte, Etymologie, Alchimie, Mythologie, Literatur, Forensik und Psychologie beschäftigte.1 Darüber hinaus sammelte ich Geschichten, in denen Elemente eine Rolle spielen, vor allem nachdem ich an der Universität Professoren kennengelernt hatte, die gern ihre Arbeit unterbrachen, um ein wenig über Wissenschaft zu plaudern.

In den späteren Semestern meines Physikstudiums hoffte ich, dem Labor zu entkommen und Schriftsteller zu werden. Ich fühlte mich unwohl unter all den ernsthaften und begabten jungen Wissenschaftlern, die von einer mir nicht nachvollziehbaren Liebe zum Experimentieren beseelt waren. Ich stand fünf kalte Jahre in Minnesota durch und schloss mein Studium mit dem Diplom ab. Doch obwohl ich hunderte Stunden im Labor verbracht, tausende Formeln auswendig gelernt und zehntausende Diagramme gezeichnet hatte, waren für mich eigentlich nur die Geschichten von Bedeutung gewesen, die meine Professoren erzählt hatten. Geschichten über Gandhi, Godzilla und einen Eugeniker, der Germanium einsetzte, um einen Nobelpreis zu stehlen. Geschichten über Natrium, das in Flüssen explodierte und Fische tötete. Geschichten über Menschen, die in...

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