Save Me

Save Me

von: Mona Kasten

LYX, 2018

ISBN: 9783736306431

Sprache: Deutsch

416 Seiten, Download: 2067 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Save Me



1


Ruby

Mein Leben ist in Farben unterteilt:

Grün – Wichtig!

Türkis – Schule

Pink – Maxton-Hall-Veranstaltungskomitee

Lila – Familie

Orange – Ernährung und Sport

Lila (Embers Outfitbilder machen), Grün (neue Textmarker besorgen) und Türkis (Mrs Wakefield nach dem Lernstoff für die Arbeit in Mathematik fragen) habe ich heute bereits erledigt. Es ist das mit Abstand beste Gefühl der Welt, einen Punkt auf meiner To-do-Liste abzuhaken. Manchmal schreibe ich sogar Aufgaben auf, die ich längst abgeschlossen habe, nur um sie direkt im Anschluss durchstreichen zu können – dann allerdings in einem unauffälligen Hellgrau, damit ich mir nicht ganz so sehr wie eine Schummlerin vorkomme.

Wenn man mein Bullet Journal aufschlägt, erkennt man auf den ersten Blick, dass sich mein Alltag zum größten Teil aus Grün, Türkis und Pink zusammensetzt. Doch vor knapp einer Woche, zu Beginn des neuen Schuljahres, kam eine neue Farbe zum Einsatz:

Gold – Oxford

Die erste Aufgabe, die ich mit dem neuen Stift notiert habe, lautet:

Empfehlungsschreiben bei Mr Sutton abholen

Ich fahre mit dem Finger über die metallisch schimmernden Buchstaben.

Nur noch ein Jahr. Ein letztes Jahr am Maxton Hall College. Es kommt mir beinahe unwirklich vor, dass es jetzt endlich losgeht. Vielleicht sitze ich schon in dreihundertfünfundsechzig Tagen in einem Seminar über Politik und werde von den intelligentesten Menschen der Welt unterrichtet.

Alles in mir kribbelt vor Aufregung, wenn ich darüber nachdenke, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich weiß, ob mein größter Wunsch in Erfüllung geht. Ob ich es wirklich geschafft habe und studieren kann. In Oxford.

In meiner Familie hat noch nie jemand studiert, und ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, dass meine Eltern nicht nur müde gelächelt haben, als ich ihnen zum ersten Mal verkündet habe, dass ich Philosophie, Politologie und Ökonomie in Oxford studieren möchte. Damals war ich sieben.

Aber auch jetzt – zehn Jahre später – hat sich daran nichts geändert, außer dass mein Ziel zum Greifen nah ist. Nach wie vor kommt es mir vor wie ein Traum, dass ich es überhaupt so weit geschafft habe. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Angst habe, plötzlich aufzuwachen und festzustellen, dass ich doch noch an meine alte Schule gehe und nicht an die Maxton Hall – eine der renommiertesten Privatschulen Englands.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr, die über der wuchtigen Holztür des Klassenzimmers hängt. Noch drei Minuten. Die Aufgaben, die wir bearbeiten sollen, habe ich gestern Abend schon fertig gemacht, und jetzt habe ich nichts anderes zu tun, als darauf zu warten, dass diese Stunde endlich zu Ende geht. Ich wippe ungeduldig mit dem Bein, wofür ich augenblicklich einen Hieb in die Seite ernte.

»Autsch«, zische ich und will zurückhauen, aber Lin ist schneller und weicht aus. Ihre Reflexe sind unglaublich. Ich vermute, dass das an der Tatsache liegt, dass sie seit der Grundschule Unterricht im Fechten nimmt. Da muss man schließlich auch schnell wie eine Kobra zustechen können.

»Hör auf, so hibbelig zu sein«, gibt sie zurück, ohne den Blick von ihrem vollgeschriebenen Blatt zu nehmen. »Du machst mich nervös.«

Das lässt mich stutzen. Lin ist nie nervös. Zumindest nicht so, dass sie es zugeben oder zeigen würde. Doch in diesem Moment erkenne ich tatsächlich einen Anflug von Beunruhigung in ihren Augen.

»Tut mir leid. Ich kann nicht anders.« Wieder fahre ich die Buchstaben mit den Fingern nach. In den letzten zwei Jahren habe ich alles getan, um mit meinen Mitschülern mithalten zu können. Um besser zu werden. Um allen zu beweisen, dass ich zu Recht auf die Maxton Hall gehe. Und jetzt, wo der Bewerbungsprozess für die Universitäten beginnt, bringt die Aufregung mich fast um. Selbst wenn ich wollte, könnte ich dagegen nichts machen. Dass es Lin ähnlich zu gehen scheint, beruhigt mich allerdings etwas.

»Sind die Plakate eigentlich schon angekommen?«, fragt Lin. Sie schielt zu mir rüber, und eine Strähne ihrer schulterlangen schwarzen Haare fällt ihr ins Gesicht. Sie streicht sie sich ungeduldig aus der Stirn.

Ich schüttle den Kopf. »Noch nicht. Bestimmt heute Nachmittag.«

»Okay. Morgen nach Bio verteilen wir sie, oder?«

Ich deute auf die entsprechende pinkfarbene Zeile in meinem Bullet Journal, und Lin nickt zufrieden. Wieder schaue ich auf die Uhr. Nur mit Mühe kann ich mich davon abhalten, erneut mit den Beinen zu wippen. Stattdessen fange ich möglichst unauffällig an, meine Stifte einzupacken. Sie müssen mit der Feder alle in dieselbe Richtung zeigen, deshalb brauche ich ohnehin länger dafür.

Den goldenen Stift jedoch packe ich nicht ein, sondern stecke ihn feierlich in das schmale Gummiband meines Planers. Ich drehe die Kappe so, dass sie nach vorne zeigt. Nur so fühlt es sich richtig an.

Als es schließlich klingelt, schießt Lin schneller von ihrem Stuhl hoch, als ich es für menschlich möglich gehalten hätte. Mit hochgezogenen Brauen schaue ich sie an.

»Guck nicht so«, sagt sie, während sie sich ihre Tasche über die Schulter schiebt. »Du hast angefangen!«

Ich erwidere nichts, sondern verstaue nur grinsend den Rest meiner Sachen.

Lin und ich sind die Ersten, die den Raum verlassen. Mit schnellen Schritten durchqueren wir den Westflügel von Maxton Hall und biegen bei der nächsten Abzweigung nach links ab.

In den ersten Wochen habe ich mich in dem riesigen Gebäude ständig verlaufen und bin mehr als einmal zu spät zu den Unterrichtsstunden gekommen. Mir war das unendlich peinlich, auch wenn die Lehrer nicht müde wurden, mir zu versichern, dass es den meisten Neuankömmlingen in Maxton Hall so geht wie mir. Die Schule gleicht einem Schloss: Sie hat fünf Stockwerke, einen Süd-, West- und Ostflügel und drei Nebengebäude, in denen Fächer wie Musik und Informatik unterrichtet werden. Die Abzweigungen und Wege, auf denen man sich verirren kann, sind unzählig, und dass nicht jede Treppe automatisch auch in jedes Stockwerk führt, kann einen in die Verzweiflung treiben.

Doch während ich am Anfang vollkommen verloren war, kenne ich das Gebäude inzwischen wie meine Westentasche. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass ich den Weg zu Mr Suttons Büro auch mit verbundenen Augen finden würde.

»Ich hätte mir mein Empfehlungsschreiben auch von Sutton schreiben lassen sollen«, grummelt Lin, während wir den Flur entlanggehen. Venezianische Masken zieren die hohen Wände zu unserer Rechten – ein Kunstprojekt des letzten Abschlussjahrgangs. Ich bin schon das eine oder andere Mal davor stehen geblieben und habe die verspielten Details bewundert.

»Wieso?«, frage ich und notiere mir in Gedanken, unserem Hausmeister zu sagen, dass er die Masken in Sicherheit bringen muss, bevor hier am Wochenende die Back-to-School-Party steigt.

»Weil er uns mag, seit wir die Abschlussfeier letztes Jahr gemeinsam organisiert haben, und er weiß, wie engagiert wir sind und wie hart wir arbeiten. Außerdem ist er jung, ambitioniert und hat selbst gerade erst seinen Abschluss in Oxford gemacht. Gott, ich könnte mich echt ohrfeigen, weil ich nicht auch auf die Idee gekommen bin.«

Ich tätschele Lins Arm. »Mrs Marr hat auch in Oxford studiert. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es besser ankommt, wenn man von jemandem empfohlen wird, der schon ein bisschen mehr Berufserfahrung hat als Mr Sutton.«

Skeptisch sieht sie mich an. »Bereust du etwa, dass du ihn gefragt hast?«

Ich zucke bloß mit den Schultern. Mr Sutton hat Ende des letzten Schuljahres zufällig mitbekommen, wie sehr ich mir wünsche, nach Oxford zu gehen, und mir daraufhin angeboten, ihn über alles, was ich wissen möchte, auszuquetschen. Auch wenn er ein anderes Fach studiert hat, als ich es vorhabe, konnte er mich mit einer ganzen Menge Insiderinformationen versorgen, die ich alle gierig aufgesaugt und später sorgfältig in meinem Planer notiert habe.

»Nein«, antworte ich schließlich. »Ich bin mir sicher, dass er weiß, worauf es in der Empfehlung ankommt.«

Am Ende des Flurs muss Lin links abbiegen. Wir vereinbaren, später noch mal zu telefonieren, und verabschieden uns dann schnell voneinander. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr – fünf vor halb zwei – und lege an Tempo zu. Mein Termin mit Sutton ist um halb zwei, und ich will mich auf keinen Fall verspäten. Ich rausche an den hohen Renaissance-Fenstern vorbei, durch die goldenes Septemberlicht in den Flur geworfen wird, und zwänge mich durch eine Gruppe von Schülern, die in der gleichen royalblauen Schuluniform stecken wie ich.

Niemand nimmt Notiz von mir. So läuft das in Maxton Hall. Obwohl wir alle die gleiche Uniform tragen – blau-grün karierte Röcke für die Mädchen, beige Hosen für die Jungs und maßgeschneiderte dunkelblaue Jacketts für alle –, ist nicht zu übersehen, dass ich hier eigentlich nicht hingehöre. Während meine Mitschüler mit teuren Designertaschen in die Schule kommen, ist der Stoff meines khakigrünen Rucksacks an manchen Stellen mittlerweile so dünn, dass ich jeden Tag damit rechne, dass er reißen wird. Ich versuche mich davon nicht einschüchtern zu lassen, auch nicht von der Tatsache, dass sich manche hier benehmen, als würde ihnen die Schule gehören, nur weil sie aus wohlhabenden...

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