Die Donau - Eine Reise gegen den Strom

Die Donau - Eine Reise gegen den Strom

von: Nick Thorpe

Paul Zsolnay Verlag, 2017

ISBN: 9783552058736

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 1577 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Donau - Eine Reise gegen den Strom



 

 

EINLEITUNG

 

DIE LIPPEN DER DONAU

 

Ich weiß nicht viel von Göttern, halte aber den Strom

Für einen mächtigen braunen Gott

T.S. ELIOT, DIE DRY SALVAGES1

 

Der scheinet aber fast

Rückwärts zu gehen und

Ich mein, er müsse kommen

Von Osten.

FRIEDRICH HÖLDERLIN, DER ISTER2

 

Die Geschichte fließt rückwärts nun

Umfasst auf ihren breiten Seiten

Diesen furchtbaren Strom:

Wasser quillt aus drei Mündern der Donau,

Aus dem vierten aber Blut.

ANDREI CIURUNGA, CANALUL3

 

 

Histria. Eine dünne Rauchsäule neigt sich von ihrem Ausgangspunkt im Schilf leicht landeinwärts. Die scharfe nordöstliche Brise treibt mir Tränen in die Augen. Eine Flamme flackert; über den Binsen kann ich gerade noch die Köpfe zweier Männer ausmachen, neben ihrem Feuer. Zwei kleine Fischerboote gleiten nordwärts die Küste hinauf, Seite an Seite, wie Rennpferde. Ihr Bug durchschneidet die aufgewühlte graue Brandung. Am Heck eine Doppelgestalt, eine am Bug. Sind die Männer am Feuer Fischer, an Land gestiegen, um zu kochen, oder Schilfmäher, angekommen am Ende der Welt? Hat der Seemann sein letztes oder sein erstes trostloses Feuer an dieser Küste entfacht?

Hier an den ausfransenden Rändern Europas, zwischen den griechischen und römischen Ruinen Histrias und den steigenden Gewässern des Schwarzen Meers, beginne ich meine Reise donauaufwärts. Plötzlich zerreißt eine Explosion das Gewebe des Morgens. Wir ducken uns, suchen Deckung, finden aber keine zwischen den Ruinen. Langsam verrollt das Gedonner am Rand des Horizonts. Die Perser unter Darius dem Großen? Die Iraner unter Mahmud Ahmadinedschad? Von der rumänischen Küste sind es nur zwei Flugstunden nach Bagdad oder Teheran. Aber nein, es sind bloß die rumänische Marine oder ihre engen Verbündeten, die Amerikaner, die weit draußen auf See die Feuerkraft ihrer Fregatten erproben. Die Ruinen kümmert das nicht. Diese Mauern wurden 1400 Jahre hindurch überrannt. Histria wurde von griechischen Kolonisten aus Milet Mitte des siebenten Jahrhunderts vor Christus gegründet, rechtzeitig für die Olympischen Spiele, und 700 nach Christus aufgegeben, als der Schlick vom südlichsten Rand der Donau die geschützte Bucht in einen Inlandsee verwandelte.

Um die Donau aufwärts zu bereisen, vom Schwarzen Meer zum Schwarzwald, muss ich zuerst das Hinterland der Dobrudscha, rumänisch Dobrogea, erforschen, laut einer Etymologie4 das »gute Land«, zwischen Donau und Schwarzmeerküste gelegen. Im Nationalmuseum für Geschichte und Archäologie in Constanţa, von Histria 45 Kilometer küstenabwärts, befindet sich eine aus violettem Marmor gehauene eingerollte Schlange mit gerecktem Kopf. Bekannt als Glykon, der Süße, ein römischer Gott der Heilkunst, hat die Schlange das Antlitz eines Lamms, die Ohren eines Mannes und den Schwanz eines Löwen; das bedeutet Sanftmut, Aufmerksamkeit und Mut. Man fand sie 1962 bei Ausgrabungen unter dem alten Bahnhof der Stadt, zusammen mit dreizehn anderen Göttern, die höchstwahrscheinlich versteckt wurden, um sie vor den Christen zu retten, die inbrünstig heidnische Bildnisse zerstörten. Dachten die Besitzer, die Christen würden vorüberziehen wie ein jäher Windstoß, und die Schlange könne unversehrt wiederauftauchen? Am Beginn dieser Reise donauaufwärts ist für mich die Schlange der Fluss selbst, ein einziger Körper, grün, braun, weiß, gelb, grau, blau, silbrig und schwarz, mit ständig wechselnden Stimmungen und Farben an der Oberfläche.

Die Donau aufwärts? Viele Leute, denen ich auf dieser langen Reise begegnete, dachten, ich müsse verrückt sein, den Fluss in der falschen Richtung in Angriff zu nehmen. Ich klammerte mich verzweifelt an das Heck von Adrian Oprisans kleinem Glasfaser-Dingi, während wir bei Sulina im Donaudelta über die Wellen hüpften; ich kämpfte mich bei Mohács in Südungarn bei heftigem Nordwestwind auf meinem Fahrrad auf dem Damm entlang, während makellos gewandete Schweizer und englische Radler mühelos in die andere Richtung glitten, den Mund weit offen vor Erstaunen, sodass ihnen die spätsommerlichen Fruchtfliegen hineinflogen; und schließlich fuhr ich in meinem Auto dem letzten Ausläufer der Donau nach, der sich in den suburbanen deutschen Hügeln verlor.

Flüsse folgen einem bestimmten, unvermeidlichen Lauf von den Bergen zum Meer. Da treten in Furtwangen und Donaueschingen kühne Reiseschriftsteller aus den Konditoreien, vollgestopft mit Schwarzwälder Kirschtorte, um einer solchen Route stromabwärts zu folgen, und sind zunehmend beklommen, sobald sie in immer unvertrautere Gefilde gelangen. Aber was denken die Osteuropäer in ihren Palästen, ihren armseligen Hütten neben dem Fluss, in Städten, deren Namen kaum ein Geografielehrer in Bonn oder Brighton, Basel oder Barcelona jemals ausspricht? In Brăila oder in Călărași, in Smederevo oder Baja? Und was ist mit der pausenlosen Prozession von Auswanderern und Händlern, Soldaten und Abenteurern, die auf der Suche nach einem besseren Leben in meine Richtung reisten, die Donau aufwärts? Was war in ihren Gedanken, ihren Tornistern? Und was ließen sie zurück?

Nur für kurze Zeit, von 1740 bis 1790, bestiegen Schwaben aus Ulm ihre sogenannten »Schachteln« – einfache, durch Ruderer fortbewegte Holzboote mit langen Steuerrudern – und fuhren stromabwärts, um durch den Krieg und durch Seuchen entvölkerte Gebiete in Ungarn neu zu besiedeln. Und sogar sie wären daheim geblieben, wäre da nicht der überzeugungskräftige Charme der Habsburgerkaiserin Maria Theresia gewesen.

Bei allem nötigen Respekt für die Verdienste vorhergegangener Autoren: Ich glaube, etwas anderes anbieten zu können. Nachdem ich ein halbes Leben lang in Osteuropa gelebt habe, scheint es höchste Zeit für eine Reise Richtung Westen, stromaufwärts, um ein neues Licht auf den Kontinent zu werfen, so wie aus dem Osten kommende Menschen ihn sehen, die früh am Morgen aufstehen und ihrem Schatten folgen. Zumindest ein Mann verstand meine Reise. Ilie Sidurenko, ein pensionierter Fischer im Dorf Sfântu Georghe am südlichsten Ende der Donau, war begeistert, als ich ihm von meinem Plan erzählte. »Sie werden wie der Stör sein!«, lachte er. Flussaufwärts schwimmen, um zu laichen.

Während ich unterwegs war, wurde mir klar, was die Donau zu Europa beigetragen hat, in dem Sinn, dass sie einen Weg eingekerbt oder eine Spur gelegt hat, auf denen die Menschen westwärts nachkommen konnten. Europa wurde vom Osten her bevölkert und so gewissermaßen zivilisiert. Um 6200 vor Christus ließen sich Bauern aus Anatolien in Südosteuropa nieder und brachten Kühe und Schafe, Ziegen und Saatgut mit. Eine Analyse der genetischen Struktur von Milchspuren, die sich auf Tonscherben aus dem Neolithikum fanden, hat gezeigt, dass ihre Kühe sich mit Auerochsen paarten, den Wildrindern des europäischen Kontinents.5 Die Siedler brachten Kenntnisse in Metallbearbeitung mit. Sie bauten Brennöfen, in denen Temperaturen bis zu 1100 Grad Celsius erreicht wurden, um aus dem grünlich braunen Gestein des Nordbalkans in Rudna Glava in Serbien und Ai Bunar in Bulgarien Kupfer zu schmelzen. Aus diesem neuen Material von solch betörender Schönheit fertigten sie exquisiten Schmuck, Werkzeuge und Waffen.6 Mit diesen wurde weitum Handel getrieben, und je länger der Fluss, desto größer die Reichweite. Nicht lange danach wurde Gold aus reichhaltigen Adern gewonnen oder aus den Nebenflüssen der Donau gewaschen.

Zwischen 5000 und 3500 vor Christus entstanden quer durch Südosteuropa größere Dörfer oder Städte, besonders zwischen Donau und Dnjepr. Die größte Siedlung in Majdanetskoje und Tal’janki konnte bereits mit 2700 Haushalten und etwa zehntausend Einwohnern aufwarten, fünfhundert Jahre bevor zwischen Euphrat und Tigris die sumerischen Stadtstaaten gegründet wurden.7 Das geschah zu einer Zeit, als die meisten anderen Bewohner Festlandeuropas in kleinen Stämmen lebten und in feuchtkalten Höhlen an Knochen nagten. Solche Städte oder große Dörfer wuchsen aus der umgebenden Landschaft immer mehr zu Tells oder Siedlungshügeln empor, als Generation nach Generation auf den Ruinen unter ihnen baute. Diese Häufung voneinander unabhängiger Kulturen, unter Archäologen als Tripolje-Cucuteni, Hamangia, Gumelniţa, Karanovo und Vinča bekannt, betrieb mit den schönen rosaweißen Muschelschalen der Stachelauster, Spondylus gaederopus, den ersten Fernhandel auf dem europäischen Kontinent.8 Die durchscheinenden Schalen reflektierten nicht nur das Licht, sie schienen es in sich zu tragen, schienen das Mondlicht über der Ägäis, wo man sie sammelte, aufzufangen und zu bewahren. Ein lebhafter Kontrast zu den dunklen, anmutigen Töpfen mit komplexen Linien, tierköpfigen Deckeln und Griffen aus derselben Kultur. Die Spondylus-Schalen wurden zusammen mit ihren Besitzern, Männern wie Frauen, begraben, als heilige Objekte, die die Reise in die nächste Welt erleichtern sollten. Salz war für die Völker dieser Region ebenso wichtig wie der Schmuck und die Werkzeuge, die sie benutzten. Das aus den Lagerstätten bei Tuzla in Bosnien, Varna in Bulgarien, Turda in Siebenbürgen und Hallstatt in Österreich gegrabene weiße Gold ermöglichte es ihnen, das Fleisch und den Fisch, die sie jagten und fingen, haltbar zu machen und über weite...

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