Der schnurgerade Kanal - Roman

Der schnurgerade Kanal - Roman

von: Gerhard Meier

Zytglogge Verlag, 2017

ISBN: 9783729621848

Sprache: Deutsch

174 Seiten, Download: 622 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der schnurgerade Kanal - Roman



Man hat von einem Kumpel gehört, der als Rentner ins Malen kam. Dieser Kumpel malte nicht etwa Kohlehalden, Kumpel, Rollwagen oder gar die Zeche als Ganzes, sondern ganz anderes: Dahlien zum Beispiel, überhaupt kleine Gärten, Weiden einem schnurgeraden Kanal entlang, Häuser, Mädchen, Wolken und Luft.

Apropos Luft: Von Caspar David Friedrich weiß man, daß dieser, wenn er Luft malte, kein Gerede vertrug.

Kürzlich verpaßte ich beinahe die Abdankungsfeier für meinen zweitletzten Cousin. Ich mußte durchs Dorf rennen, um rechtzeitig in die Kirche zu kommen. Es war ein lichter Januartag. In der Kirche waren ein paar Leute, und ich schaute mir die Gesichter an. Es waren vor allem Alte, die ich kannte. Ich erwischte gerade noch die letzten Akkorde des Orgelspiels.

Auch in der Kirche war es licht. Der Pfarrer sagte von meinem zweitletzten Cousin, daß es ihm schwergefallen sei, nach über dreißig Jahren Arbeit im Eisenwerk diese Arbeit aufzugeben, um zu Hause den erweiterten Kleinbauernbetrieb zu übernehmen. Mein zweitletzter Cousin ist übrigens Schmied gewesen, das heißt, er hat zumindest über dreißig Jahre in der Schmiede des Eisenwerks gearbeitet. Und sein Gesicht trug wirklich die Züge des Schmieds, auch die Sommersprossen. Sein Mund hatte einen Rest jener Verzerrung beibehalten, welche sich einstellte beim Biegen oder Schmieden des Eisens. Und auch ihm stand Spott im Gesicht, der Spott des Arbeiters denen gegenüber, die nicht dazugehören, die zum Beispiel das Eisen nicht kennen, dessen Glut, dessen Härte, Schwere, dessen klebrige Kälte im Januar. Und ich sagte mir, daß da auch die Hitze über dem Kornfeld hereingespielt haben muß, die Weite des Himmels (mit seinen Wetterzeichen), die Bise (dünner Ostwind), die Kälte über dem Mittelland. Dieses Schmiedegesicht glich übrigens dem Gesicht meines ältesten Bruders, welcher auch eine Zeitlang im Eisenwerk war, sich ebenfalls als Kleinbauer versuchte, dabei aber weniger Glück hatte.

Mein zweitletzter Cousin war unverheiratet. Er lebte in seiner Sippe, erblindete im sechsundsiebzigsten Lebensjahr, mied die Leute, wie alle meine Cousins die Leute mieden, mit Ausnahme eines Trompeters, der seiner Trompete zuliebe unter die Leute ging, gelegentlich lachend – ohne zu lachen. So mischte sich auf dem Gesicht meines zweitletzten Cousins Einsamkeit (wenn auch nicht hundertjährige) in die Überheblichkeit dessen, der um die Glut, die klebrige Kälte des Eisens weiß.

«Bei meinem letzten Besuch», sagte der Pfarrer, «lag er da wie ein müder Vogel, der kaum noch den Kopf zu bewegen vermag.»

Auf einem der Fenster im Chor segnete mittlerweile Jesus ein Kind, wobei sich im Hintergrund und fernab eine Stadt zeigte, zu welcher ein geradezu einladender Weg hinführte. Auf dem mittleren Fenster schritt Jesus über die Wolken. Auf dem Fenster rechts außen erschien er Maria Magdalena. Der Pfarrer bat, für Augenblicke des Verstorbenen zu gedenken. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit meinem zweitletzten Cousin das Werk abzuschreiten (was er früher mit mir bestimmt nicht gemacht hätte!). «Hier hat mein Vater Eisen gegossen», sagte er. «Da hat mein Bruder Guß geputzt.» Und ohne stehenzubleiben, wies er nach oben: «Dort ist der andere Bruder in den Drähten verbrannt.» Um die Schmiede machten wir einen Bogen. Wieder draußen, schien es, als atme er tief, dabei lag Ruß in der Luft und das Geheul einer Dogge vom schnurgeraden Kanal herüber. Daß es im Eisenwerk hapert, davon sagten wir nichts. Die Sonne brannte an die Kalkfelsen. Über das Werk strich der bekannte oder gewohnte Wind.

Dann hob die Orgel an. Es klang im Sinne von: Zusammenfassend läßt sich sagen ... Die Ansammlung von Gesichtern löste sich auf. Der Tag blieb licht.

Im Einnachten durchschritt ich das Dorf, um ans andere Ende zu gelangen. Ich wollte nachschauen, wie’s die Liegenschaft schafft ohne meinen zweitletzten Cousin. Sie krallte sich fest (geduckt gleichsam), den rasenden Lauf des Gestirns zu bestehn, denn jetzt drehte sie wieder, die Erde. Im Osten die drei Fenster strahlten in Rot wie zuvor. Übrigens war schon einer da, als ich hinkam. Er wollte vermutlich das gleiche. Wir genierten uns. Auf dem Rückweg mich umdrehend, stellte ich fest, daß er dastand, abgewandt, Blickrichtung Eisenwerk.

Die Nacht war trocken. Ein wenig Schnee und Nebel hellten sie auf. Ein bißchen Karneval lag schon drin. Auf Höhe der Sägerei erschien mir der andere, der jeweils im Frühling, wenn der Geruch frischgeschnittenen Grases zu arg in die Bude strömte, das Fenster schloß.

In jener Nacht begab man sich quasi mit Federico Fellini zur Ruhe, das heißt mit seinen Gesichtern. «Der einzig wahre Realist ist der Visionär», sagt Fellini.

Man sagte sich: Die Wirklichkeit übertrifft Fellinis Gesichte. Dann war der Kumpel da, der mit den Dahlien, den Mädchen. Man schritt dem schnurgeraden Kanal entlang, sprach über die Weiden, die Wolken – wich später einer Dogge aus...

Spinnen hatten sich erneut abgemüht, über Nacht Netze anzubringen vor den Fensteröffnungen zu ebener Erde, zum See hin, aber auch vor die Türöffnung, durch welche Frau Dr. Helene W., Schweizer Ärztin aus New York, jeweils hinaustrat auf den Rasen hinter dem Haus, welcher abgeschrankt wird durch eine Quaimauer aus Naturstein, die ungefähr fünfzig Zentimeter über den Rasen hinausragt, während sie etwa zwei Meter abfällt zum Wasserspiegel, welcher freilich nicht überall an die Mauer heranreichte: Größere Steine oder Geröll zerfransten den Wassersaum.

Dr. Helene W. war verwundert, das andere Ufer des Hudson in klarer Sicht vor sich zu haben, die Häuser also präzise umrissen, auch die Bäume. Jenes andere Ufer gab sich üblicherweise baumbestanden, als ein Landstrich, welcher es New York verwehrte, sich breitzumachen. Was natürlich ein Trugbild war, heraufbeschworen durch die verunreinigte Luft.

Dr. Helene W. griff nüchternen Magens ins Büchergestell, erwischte den ersten Band der gesammelten Werke Storms, Theodor Storms, betrachtete die Aufschrift. Heiterkeit stellte sich ein auf ihrem Gesicht. Sie schlug zufällig Seite 330 auf, las: «Viele Jahre sind seit jenem Morgen vergangen. – Auf dem Kirchhofe der Universitätsstadt, abseits im hohen Grase, liegt eine weiße Marmortafel; Leonore Beauregard steht darauf. – Drei Heimatsgenossen, in verschiedenen Teilen des deutschen Landes lebend, haben sie gestiftet.» Dr. Helene W. klappte den Band zu, den Zeigefinger als Buchzeichen verwendend, schritt zum Fenster, erheitert einerseits, Storm nach Jahrzehnten wieder begegnet zu sein, andererseits erstaunt darüber, getroffen worden zu sein von diesen Zeilen. Sie wähnte sich umstellt von Nippsachen, Marmorengeln, Kommodenschmuck. Dann schlug sie den Band erneut auf, las: «Als wir zwischen den Bäumen heraustraten, wurde ich fast vom Sonnenschein geblendet, der in vollem Glanze vor uns über die weite Meeresbucht gebreitet war. – Und in diesem Sonnenglanz lag auch sie; die Fischer traten bei unserer Annäherung zur Seite, und wir konnten sie ungestört betrachten. Es war kein Zweifel mehr. Das bleiche Gesichtchen ruhte auf dem kleinen Ufersande; die tanzenden Füße ragten jetzt regungslos unter dem Kleide hervor; Seetang und Muscheln hingen in den schwarzen triefenden Haaren. Die weiße Rose war fort; sie mochte ins Meer hinaus geschwommen sein.

Viele Jahre sind seit jenem Morgen vergangen. –

Auf dem Kirchhofe der Universitätsstadt ...»

Über dem Untersee hing derselbe Himmel, wie all die Tage zuvor. Es war ein Sommer aus dem Kinderbuch, ein Sommer, der Wolken am Himmel anbrachte, einzig um mit ihnen spielen zu können, nicht um sie regnen zu lassen; Wolken, aus denen Gesichter wurden, Marmorbilder oder Schiffe auf der Fahrt nach Orplid.

Dr. Helene W. lag im Schatten des Birnbaums, der hart an der Quaimauer steht. Sie schaute durch die Blätter des Rosenbogens, der sich über den Einschnitt wölbt, durch welchen vermutlich die Boote an Land gebracht werden oder vom Land ins Wasser. Die Öffnung in der Quaimauer ist mit einem Schmiedeisentor abgeschlossen. Wenn es zu heiß wurde, zog sich Dr. Helene W. sogar in diesen Geländeeinschnitt zurück und schaute vom Liegestuhl aus nach Gaienhofen hinüber, wo Hermann Hesse einige Jahre gehaust hatte. Aus den paar Stormsätzen ging gewissermaßen ein San Michele hervor, welches sich dann aber als das gewöhnliche Burgdorf entpuppte, wo sie, eben Helene W., K. (Schriftsteller K.) und Isidor A. (A wie Aschenbach), gemeinsam das Studium des Hochbaus oder der Architektur betrieben. –

Dr. Helene W. verspürte den Druck der Bremsung des Schnellzugs in den Hüften, faßte die Falle der Wagentür fester, parierte den letzten Ruck des anhaltenden Zuges, betrat Burgdorfer Boden und überließ sich einer Erregung, welche nur diese Region auszulösen imstande war. Unter einem ebenso hohen Hochsommerhimmel schritt sie Wege ab, die man gegangen war, als man hier studierte, nicht lang zwar, denn K. machte Schwierigkeiten, während ihre Neigung zu Isidor nicht auf eindeutige Erwiderung zu stoßen schien. K. verließ frühzeitig das Technikum, diese Backsteinliegenschaften, heiratete, trat für vorübergehend in eine Fabrik ein, wo er dann hängen blieb. Mit vierundfünfzig etablierte er sich als Schriftsteller.

Helene W. verließ ebenfalls frühzeitig das Technikum, die Architektur, um hinüberzuwechseln ins Medizinstudium, worauf sie als Ärztin nach New York kam und über Jahrzehnte als Internistin, Oberärztin, an einem New...

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