Krakonos - Roman

Krakonos - Roman

von: Wieland Freund

Beltz, 2017

ISBN: 9783407761934

Sprache: Deutsch

292 Seiten, Download: 3898 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Krakonos - Roman



1 Qwip.com


Das Meer rauschte. Die große LED-Kugel an der Decke tauchte den Saal in ein schwaches wasserblaues Licht. Nik kam es vor, als läge er auf dem Grund des Ozeans. Er war wie ein Fisch im Aquarium hinter dem Glas eines Touchscreens.

Er lag ganz still. Nur seine Augen wanderten. Rechts die glatte Kunststoffwand seiner Wabe. Tagsüber war sie strahlend weiß, wie eine leere Leinwand. Jetzt war sie blau vom Widerschein der Filmsequenz, die ihn in den Schlaf gelullt hatte. Auf der LED-Kugel schäumten dieselben drei, vier Wellen, wieder und wieder. Sie waren wie das weit gereiste Licht von Sternen, die es lange nicht mehr gab.

Sein Blick wanderte weiter. Am Fußende seines Betts der Schrank, dessen Tür sich nur auf seinen Daumendruck öffnete; darin die Sneakers, die Jeans, Handtücher mit Qwip.com-Logo und zu viele Qwip.com-T-Shirts. Jeder hatte ein paar Overnight-Sets hier. Nik trug kaum je etwas anderes.

Links von seinem Bett hing das unvermeidliche Quipu in langen, knotigen Schnüren von der Decke herab. Wenn die Sonne durch die Oberlichter schien, war es bunt – rein rot, rein blau, rein gelb, rein grün. Jetzt, im fahlen Licht des Loops, wirkten die Schnüre einfach grau. Bei den Inkas hatten die vielen Knoten als Schriftzeichen gedient. Qwip.com dienten die Schnüre als Logo; jeder Knoten bedeutete Qwip.com. Überall roch es nach dem antistatischen Schaum, mit dem sie die Bildschirme reinigten und wahrscheinlich auch den Fußboden.

Dieselben drei, vier Wellen rauschten wieder heran. Nik lauschte. Bestimmt hatte ihn etwas anderes geweckt.

»Levi? Levi, bist du das?«

Er flüsterte. Marten schlief auch hier, wie fast immer. Konrad hatten sie nach Mitternacht geholt. Von Leroy und Noah wusste er es nicht.

Jetzt hörte Nik ihn hinter dem Quipu atmen.

»Du sollst schlafen, Levi.« Er griff nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch und drückte es wach. »Es ist zwei Uhr nachts«, raunte Nik. Das Hintergrundbild zeigte ihn und Levi. Levi lächelte nicht. Levi lächelte nicht für Fotos.

»Ich kann nicht.«

»Dann komm halt her!«

Das Quipu teilte sich wie ein Vorhang. Der viel zu lange blonde Pony hing Levi ins Gesicht. Mit dem blauen Schein der LED-Kugel im Rücken wirkte Levi wie ausgeschnitten. Als wäre er gar nicht hier, sondern in irgendeiner Bluebox irgendeines Fernsehstudios.

»Gehst du noch mal raus mit mir?«, fragte Levi. Er sah Nik dabei nicht an, sondern zupfte am Saum seines ausgeblichenen T-Shirts, das er gegen Niks Willen schon seit drei Tagen trug.

Nik seufzte und setzte sich auf. »Irgendwann erwischen sie uns«, sagte er leise.

»Nicht, wenn wir aufpassen.«

Die Schnüre des Quipu schwangen zurück. Levi stand jetzt an seinem Bett, eine Hand auf Niks Schulter.

»Vielleicht sehen wir die Ratte wieder«, sagte Levi. »Ich würde gern die Ratte wieder sehen.«

Die Schranktür sprang auf und Nik stieg in seine Jeans. Er griff nach den Sneakers, er schnappte sich die Taschenlampe, die er unter den T-Shirts verbarg, weil Levi keine Handys, aber Taschenlampen mochte. Es war eine dumme Idee, aber Levi würde nicht lockerlassen. Und wenn er doch lockerließ, würde er traurig sein, was noch schlimmer war.

»Komm!«

Sie tauchten unter dem Quipu durch und stahlen sich in den Gang. Die Schuhe trugen sie in der Hand. Die Gummisohlen würden auf dem glatten Boden quietschen.

Bis auf die von Marten schienen alle Waben leer. Vermutlich hatte man Leroy und Noah aus dem Schlaf gerissen und hundemüde nach Hause transportiert. Leroys Mutter arbeitete im Controlling, Noahs Mutter in der Personalabteilung, oft bis tief in die Nacht.

Vor den Duschen zweigten sie ab. Links lag die Küche mit ihren bunten Stühlen. Rechts die Mixed Zone mit den bunten Sofas, wo sich die Tablets auf den Couchtischen stapelten und es an jeder Wand riesige Bildschirme für die Konsolen gab. Qwip.com ließ keine Konsolen fertigen, es gab nur ein Browserquiz, das Qwip it! hieß. Die Cheats dafür stammten mehrheitlich von Marten.

Nik streckte einmal den Kopf durch die Tür – nur um sicherzugehen. Der Raum war leer. Unterhalb des Lichtschalters leuchtete das WLAN.

Vor dem Schlafsaal der Mädchen wandten sie sich nach rechts. Im Gang dort gab es nicht weniger als drei Abstellkammern. In der einen brummte der Academy-Server, in der zweiten stapelten sich die Getränkekisten, aber das Fenster ließ sich nur in der dritten öffnen, in deren Regalen Putzmittel und der übliche Kram aufbewahrt wurden: LEDs, Akkus, Kabel und ein paar Dutzend der weißen Kartons, in denen die Netbooks, Smartphones und Tablets angeliefert wurden. Niemand wusste, dass sich das Fenster dort öffnen ließ, nicht mal Marten, der hier von allen am meisten zu Hause war.

Die Academy war, die Q-Zwerge nicht mitgerechnet, für über hundert Schüler ausgelegt, aber so viele Qwip.com-Kinder gab es bei Weitem nicht. Die Deutschland-Zentrale war erst im Aufbau begriffen und die meisten Angestellten waren jung und kinderlos. Bei den Zwergen wurde ein rundes Dutzend Kleinkinder betreut. Von den Großen konnten die meisten abends nach Hause oder wurden, wie Konrad, Leroy oder Noah, irgendwann spätabends abgeholt.

Qwip.com-Angestellte machten fast immer Überstunden. Niks und Levis Mutter kam oft erst tief in der Nacht, um sie zu holen, und nicht selten hätte Nik dann lieber weitergeschlafen. So viel wert war eine halbe Nacht in der eigenen Wohnung auch nicht. Zumal sie die Räume ohnehin nur am Wochenende bei Tageslicht sahen. Dann kamen Nik die Sachen in seinem Zimmer beinahe fremd vor und er wusste nicht viel mit ihnen anzufangen.

Und Levi wollte sowieso nur raus in den Park. Sein Kinderzimmer war ihm so wurscht wie seine Wabe oder sein Smartphone, das er überall liegen ließ. Er hatte nicht mal ein Passwort und qwippte nur, wenn es gar nicht anders ging. Er qwippte nicht mal mit Ma, sodass Nik meist so etwas wie ihr Bote war. Ma hat geqwippt, sagte er dann, obwohl sie den Qwip genauso an Levi geschickt hatte. Aber Levi sah in solchen Momenten nicht mal von seinem Tablet auf, auf dem er Eulenvögel oder Spitzmaus oder Fuchsräude googelte.

Bestimmt, dachte Nik, hatte er das Internet schon wieder die halbe Nacht nach Ratten durchforstet: Hausratten, Wanderratten, Ratten in der Kanalisation, Rattennester in der Stadt. Nik war dieser Eifer manchmal unheimlich, aber andererseits war Levi nur in solchen Momenten Levi und nicht bloß dieser schmale, blasse Junge, den nichts auf der Welt etwas anzugehen schien.

Sie hatten die dritte Abstellkammer erreicht, und Nik drückte behutsam die Tür auf und ließ sich und Levi ein, um die Tür gleich wieder leise zu schließen. Er hätte gern die Taschenlampe benutzt, aber er fürchtete den Sicherheitsdienst. Wahrscheinlich war überhaupt nichts alarmierender als ein einsamer Taschenlampenstrahl in der Nähe eines Serverraums.

Sie schlüpften in die Sneakers und tasteten sich im Dunkeln bis zum Fenster vor. Es lag ziemlich weit oben, und sie mussten jedes Mal einen der vollen Kartons aus dem Regal ziehen, um sich einen Tritt zu bauen.

»Hilf mir mal!« Der Karton war schwer, aber wenn er schwer war, war er auch stabil. Nik stieg als Erster drauf und streckte den Arm nach dem Fenstergriff aus. Es beruhigte ihn jedes Mal, dass Levi nicht bis da oben reichte. Levi war zehn, drei Jahre jünger als er – das gab Nik, vorausgesetzt, dass Levi nicht schneller wuchs als er, noch drei Jahre, in denen Levi nicht allein aus dem Fenster stieg.

Man hatte besser ein Auge auf ihn. Levi war unberechenbar. Es war schlimm genug, dass Nik ihn während des Unterrichts aus den Augen lassen musste. Levi brachte es fertig und schwänzte Webpublishing, um nach einer Ameisenstraße zu sehen, von deren Existenz auf dem Gelände er allein wusste.

»Du zuerst!« Das Fenster war offen. Unklimatisierte Nachtluft drang ein wie ein neugieriges Tier.

Nik stieg vom Karton, um Levi auf das Fensterbrett zu hieven.

»Räuberleiter«, sagte Levi, und weil jetzt das Licht von draußen ins Fenster fiel, konnte Nik ihn lächeln sehen.

Es war eine milde Nacht, vermutlich ohne Sterne, aber die Sterne konnte man hier sowieso nicht sehen. Hinter der Mauer glomm Berlin und über ihnen leuchtete das Space Dock aus tausend Fenstern.

Sie kauerten im Schatten der Academy. Der Bau war flach, halb in die Erde eingegraben und lief wie der Strich eines Q auf das Rund des Space Dock zu, das so hieß, weil es einer Raumstation aus Star Trek nachempfunden war. Ihr Vater konnte begeisterte...

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