Nummer 11

Nummer 11

von: Jonathan Coe

Folio Verlag, 2017

ISBN: 9783990370711

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 1040 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Nummer 11



1.


Schwarz und glänzend ragte der runde Turm in den schiefergrauen Oktoberhimmel. Als Rachel und ihr Bruder sich ihm aus dem Osten über das Moor näherten, stellten sie fest, dass er von zwei blattlosen, skelettförmigen Eschen umrahmt wurde. Es war ein windstiller Nachmittag, kurz vor der Dämmerung. Sie gingen auf die Bäume zu, dort würden sie sich wie gewöhnlich auf die Bank setzen, die dazwischen stand, und auf die nicht weit entfernte Ortschaft Beverley zurückblicken, auf die ordentlichen Häusergruppen und die riesigen, identischen, grauen Türme des Münsters.

Nicholas ließ sich auf die Bank fallen. Rachel hingegen, die damals erst sechs war, acht Jahre jünger als er, konnte es gar nicht erwarten, zu dem schwarzen Turm hinzulaufen, in seine Nähe zu gelangen. Während ihr Bruder sich ausruhte, rannte sie weiter, stapfte durch den von den Kühen zertrampelten Schlamm rund um den Sockel des Turms, bis sie direkt davor stand und ihre Hand auf die glänzenden schwarzen Ziegel legen konnte. Mit beiden Handflächen am Turm schaute sie nach oben und konnte es nach wie vor nicht fassen, wie groß er war und dass er eine perfekte, glänzende Kurve beschrieb, sich vor dem bedrohlichen Himmel, über den zwei krächzende Krähen endlos im Kreis flogen, nach hinten zu neigen schien.

„Was war das früher einmal?“, fragte sie.

Nicholas war ihr gefolgt. Er zuckte mit den Achseln.

„Keine Ahnung. Vielleicht so eine Art Windmühle.“

„Glaubst du, wir können hineingehen?“

„Es ist zugemauert.“

Eine Holzbank lief rund um den Sockel des Turms, und Rachel setzte sich neben Nicholas und starrte in seine abwesenden blassblauen Augen, die zwar kalt waren, ihr aber dennoch das Gefühl gaben, dass sie sich glücklich schätzen konnte, einen älteren, derart gutaussehenden und selbstsicheren Bruder zu haben. Sie hoffte, eines Tages genauso blonde Haare, einen genauso wohlgeformten Mund und eine genauso flaumbedeckte, reine Haut zu haben wie er. Sie schmiegte sich an seine Schulter, so nah, wie sie sich traute. Sie wollte ihn nicht bedrängen, ihm nicht zu sehr zeigen, dass er der Einzige war, der ihr in dieser merkwürdigen und fremden Stadt Sicherheit gab.

„Ist dir vielleicht kalt?“, fragte er und schaute zu ihr hinunter.

„Ein bisschen.“ Sie rückte etwas zur Seite. „Ist es warm, dort, wo sie sind?“

„Natürlich. Es hat doch keinen Sinn, in ein Land auf Urlaub zu fahren, wo es kalt ist, oder?“

„Ich wünschte, sie hätten uns mitgenommen“, sagte Rachel sehnsüchtig.

„Haben sie aber nicht. Basta.“

Sie schwiegen eine Zeitlang; jeder versuchte für sich das Rätsel zu lösen, warum ihre Eltern mitten im Jahr ohne sie auf Urlaub gefahren waren. Als die Kälte zu stechen begann, sprang Nicholas auf.

„Los“, sagte er. „Besichtigen wir die Kathedrale, bevor es finster wird?“

„Es ist ein Münster, keine Kathedrale“, sagte Rachel.

„Egal. Eine große alte Kirche eben, egal, wie du sie nennst.“

Er ging schnell davon, und Rachel lief ihm nach und versuchte mit ihm Schritt zu halten, doch lange bevor sie die Hauptstraße erreicht hatten, blieben sie stehen; sie sahen, dass ihnen zwei Personen entgegenkamen. Eine saß in einem Rollstuhl; offenbar eine sehr alte Frau, die man aufgrund des kalten Nachmittags in mehrere Schichten dicker Wolldecken eingewickelt hatte. Ihre Züge waren kaum zu erkennen, ihr Kopf hing müde herab, und ihr Gesicht wurde zum Großteil von einem Seidenschal bedeckt. Je länger die Kinder sie betrachteten, desto mehr waren sie davon überzeugt, dass sie schlief. Der Stuhl wurde unsanft von einem jugendlich wirkenden Mann geschoben, er trug eine Motorradkluft und irgendetwas saß auf seinem linken Vorderarm. Zuerst war nicht zu erkennen, was dieses „etwas“ war, doch je näher die Gestalten kamen, desto deutlicher wurde es – obwohl das völlig unwahrscheinlich war –, dass es ein Vogel war. Die Ahnung bestätigte sich plötzlich auf dramatische Weise, als das Tier seine Flügel beeindruckend weit spannte und vor dem Hintergrund des grauen Himmels träge flatterte. In diesem Augenblick wirkte die schwarze Silhouette eher wie ein fantastisches Mischwesen aus der Mythologie denn wie ein echter Vogel, wie irgendein Vogel, den Rachel je gesehen hatte.

Nicholas bewegte sich nicht, und Rachel neben ihm fasste ihn an der Hand, sie genoss seinen schwachen Händedruck, sogar durch die dicken, kratzigen Wollfäustlinge spürte sie die Kälte seiner Hand. Unschlüssig, was sie tun sollten, beobachteten sie den Mann in der Lederkluft, er stellte den Rollstuhl ab und sagte ein paar Worte zu dem Vogel, der folgsam von seinem Arm auf einen Griff des Rollstuhls hüpfte. Der Mann, der nun beide Arme frei hatte, überprüfte, ob die alte, ihm anvertraute Dame nicht fror und ob sie bequem saß, zupfte an den Decken und stopfte sie noch sorgfältiger zwischen sie und den Stuhl. Dann wandte er sich dem Vogel zu.

Rachel ging weiter und versuchte ihren Bruder mitzuziehen.

„Was tust du?“

„Ich dachte, du wolltest weitergehen.“

„Schon. Aber vielleicht ist es gefährlich.“

Der Mann hatte ein Stück Schnur herausgeholt, an dessen Ende etwas befestigt war, und ließ sie langsam über seinem Kopf kreisen. Die Straße war in diesem Augenblick kaum befahren, und der Nachmittag war so ruhig, dass die beiden Kinder das regelmäßige laute Geräusch – SWUSCH – der durch die Luft sausenden Schur ganz deutlich hörten. Sie hörten sogar das Flattern des Turmfalken (mittlerweile war es klar, dass es ein Turmfalke war), als er aufflog, um den Köder zu schnappen; mit tödlicher Präzision stürzte er sich immer wieder auf das Fleischstück am Ende der Schnur, doch im letzten Augenblick zog der Mann sie mit großer Kraft und Kunstfertigkeit zurück, weshalb er sie immer wieder verfehlte. Immer wenn der Vogel den Köder verfehlte, tauchte er nach unten, flog tiefer und gewann wieder gleichmäßig an Höhe, schwang sich empor, bis er den Höhepunkt der Flugbahn erreicht hatte, dort stand er ganz kurz still, trudelte und stürzte sich wieder mit übernatürlicher Geschwindigkeit und Präzision nach unten, in Richtung des begehrten Fleischstücks, das im allerletzten Augenblick seinem begehrlich aufgerissenen Schnabel entrissen wurde.

Nachdem dieses betörende Ritual zwei- oder dreimal wiederholt worden war, gingen Nicholas und Rachel vorsichtig weiter. Der Mann stand mitten auf dem Weg und ließ den Köder über seinem Kopf kreisen, deshalb wichen sie ein wenig aus – zumindest so weit, dass sie nicht von der kreisenden Schnur erfasst wurden. Nicht weit genug für den Falkner, er brüllte sie wütend an, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von dem Falken abzuwenden.

„Geht mir aus dem Weg. Geht mir verdammt noch mal aus dem Weg!“

Nicht die Wut überraschte die Kinder. Sondern der Ton der Stimme: hoch, schrill und eindeutig weiblich. Jetzt waren sie nur noch ein paar Meter von der strammen, konzentrierten Gestalt in Motorradkluft entfernt, und der Irrtum war offensichtlich. Es war eine Frau: Grob geschätzt war sie so fünfundvierzig – allerdings waren sie nicht sehr gut darin, das Alter von Erwachsenen zu schätzen. Ihr Gesicht war bleich, die Wangen waren eingesunken, sie trug einen strengen und kompromisslosen Bürstenschnitt. Die Ohren und die Nase waren gepierct, mit allerlei Silberringen und -steckern versehen. Ein fahles, blaugrünes Tattoo von ungewisser Größe bedeckte offenbar einen Großteil ihres Nackens und Halses. Zweifellos die furchterregendste Frau, die Rachel je gesehen hatte. Sogar Nicholas schien erschrocken. Abgesehen von ihrem irritierenden Äußeren war da der zunehmend ärgerliche Ton in ihrer Stimme angesichts der Kühnheit, wenn nicht gar Frechheit der Kinder, die es wagten, auf das Territorium vorzudringen, das sie offenbar als ihr Eigentum und das des Vogels betrachtete. „Verschwindet! Haut ab!“, schrie sie. „Geht mir aus dem Weg! Habt ihr denn keine Augen im Kopf!“

Nicholas packte seine Schwester fester an der Hand und bog scharf nach links ab, sodass sie die Gefahrenzone verließen. Sie gingen immer schneller, bis sie nahezu rannten. Erst in einem Sicherheitsabstand von ungefähr zwanzig Metern blieben sie stehen und drehten sich ein letztes Mal um. Es war ein Gemälde, ein Anblick, der sich Rachels Gedächtnis auf immer und ewig einbrannte: die „Verrückte Vogelfrau“ (wie sie sie von nun an nannten), die mit wütender Energie und Konzentration den Köder über ihrem Kopf kreisen ließ, die unglaubliche Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sich der Vogel auf die Beute stürzte und dann wieder emporflog,...

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