Samuel Johnson ist ungehalten - Stories

Samuel Johnson ist ungehalten - Stories

von: Lydia Davis

Droschl, M, 2017

ISBN: 9783990590102

Sprache: Deutsch

216 Seiten, Download: 1161 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Samuel Johnson ist ungehalten - Stories



Blind Date

»Es gibt da nicht wirklich viel zu erzählen«, sagte sie, aber sie würde es erzählen, wenn ich das möchte. Wir saßen in einer Imbissstube im Stadtzentrum. »Ich hatte nur ein Blind Date in meinem Leben. Und es war kein richtiges. Mir kommen interessantere Situationen in den Sinn, die einem Blind Date ähnlich sind – etwa, wenn dir wer ein Buch schenkt, wenn man dich mit diesem Buch verkuppelt. Einmal habe ich einen Essayband über Lesen, Schreiben und Büchersammeln geschenkt bekommen. Ich fand, er passte genau zu mir. Noch auf dem Rücksitz des Wagens habe ich darin zu lesen begonnen. Ich hörte der Unterhaltung vorne nicht mehr zu. Ich lese gerne davon, wie andere Leute Bücher lesen und sammeln, selbst davon, wie sie ihre Bücher in den Bücherregalen anordnen. Aber als ich mit dem Buch fertig war, hatte ich eine heftige Antipathie gegenüber der Person der Autorin entwickelt. Mit ihr würde ich mich zu keinem zweiten Date treffen!« Sie lachte. An dieser Stelle wurden wir durch den Kellner unterbrochen, und an dem Tag kam es dann zu einer Reihe weiterer Ereignisse, die uns daran hinderten, unsere Unterhaltung wieder aufzunehmen.

Als dieses Thema das nächste Mal aufkam, saßen wir auf zwei Adirondack-Sesseln und blickten auf einen See hinaus, und zwar tatsächlich in den Adirondacks. Zunächst saßen wir bloß still und zufrieden da. Wir waren müde. Wir waren an dem Tag im Adirondack-Museum gewesen und hatten eine Menge interessanter Dinge gesehen, darunter alte Führungsboote und gute Schaustücke von originalen Adirondack-Sesseln. Nun sahen wir auf das Wasser hinaus und zum Waldrand hin, und beide – dessen war ich mir sicher – dachten wir an James Fenimore Cooper. Nachdem ein paar Gruppen von Kanufahrern vorübergefahren waren – ältere Leute mit Segeltuchhüten, deren ruhige Stimmen weit über das Wasser zu uns her drangen – unterhielten wir uns weiter. Es waren kostbare gemeinsam verbrachte Ferientage, und wir beendeten viele unbeendete Gespräche.

»Ich glaube, ich war fünfzehn oder sechzehn«, sagte sie. »Ich kam vom Internat nach Hause. Vielleicht war es Sommer. Ich weiß nicht, wo meine Eltern waren. Sie waren oft weg. Sie ließen mich oft alleine da zurück, manchmal einen Abend lang, manchmal ganze Wochen am Stück. Das Telefon klingelte. Ein Junge war dran, den ich nicht kannte. Er sagte, er sei der Freund eines Jungen aus der Schule – ich kann mich nicht erinnern, wessen. Wir unterhielten uns ein wenig, und dann fragte er mich, ob ich mit ihm zum Dinner gehen würde. Er klang so nett, dass ich zusagte, und dann machten wir einen Tag und einen Zeitpunkt aus, und ich sagte ihm, wo ich wohnte.

Aber nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, fing ich an, zu überlegen und mir Gedanken zu machen. Was hatte dieser andere Junge über mich gesagt? Was hatten die beiden über mich geredet? Vielleicht hatte ich einen gewissen Ruf. Noch heute kann ich mir nicht vorstellen, dass das, was sie geredet haben, so ganz lauter und unschuldig war – zum Beispiel, dass ich hübsch sei und dass man mit mir Spaß habe. Es musste etwas Hässliches dran sein – zwei Jungs, die sich privat über ein Mädchen unterhielten. Das schreckliche Wort, das mir in den Sinn kam, war flott unterwegs. Sie ist flott unterwegs. In Wahrheit war ich nicht sehr flott unterwegs. Ich war flotter unterwegs als manche, aber nicht so flott wie andere. Je mehr ich mir vorstellte, wie sich die beiden Jungen über mich unterhielten, desto miserabler fühlte ich mich.

Ich mochte Jungs. Ich mochte die Jungs, die ich kannte, auf eine Art, die viel unschuldiger war, als sie wahrscheinlich dachten. Ich traute ihnen eher als den Mädchen. Mädchen verletzten meine Gefühle, Mädchen taten sich gegen mich zusammen. Es waren immer Jungs, die ich zu Freunden hatte, das fing an, da war ich erst neun und zehn und elf. Bei dem Gefühl, dass sich zwei Jungs über mich unterhielten, war mir unwohl.

Als nun der Tag gekommen war, da wollte ich mit diesem Jungen nicht zum Dinner ausgehen. Ich wollte mit dem Problem dieses Dates einfach nichts zu schaffen haben. Es war mir unheimlich – nicht, weil an diesem Jungen etwas unheimlich gewesen wäre, sondern weil er ein Fremder war. Ich kannte ihn nicht. Ich wollte nicht ihm gegenüber in einem Restaurant sitzen und ganz von vorne anfangen, ohne irgendeine Ahnung. Dem Gefühl nach war das nicht richtig. Und dazu kam das Gewicht dieser Empfehlung – Versuch’s doch mal mit ihr.

Andererseits aber – vielleicht gab es auch andere Gründe. Vielleicht war ich bis dahin so viel alleine gewesen in diesem Apartment, dass ich mich in eine Art inneren, ungeselligen Raum zurückgezogen hatte, aus dem nur schwer herauszukommen war. Vielleicht hatte ich das Gefühl, dass ich verschwunden war und mich in diesem Zustand wohlfühlte und mich nicht wieder zurück ins Dasein zwingen lassen wollte. Ich weiß es nicht.

Um sechs ertönte der Summer. Der Junge war da, unten vor dem Haus. Ich reagierte nicht darauf. Es summte ein weiteres Mal. Noch immer reagierte ich nicht. Ich weiß nicht, wie oft es summte oder wie lange er draufdrückte. Ich ließ es summen. Irgendwann ging ich quer durch das ganze Wohnzimmer, bis zum Balkon. Die Wohnung war im vierten Stock. An der anderen Straßenseite, am unteren Ende einer Flucht aus Steinstiegen gab’s einen Park. An einem klaren Tag konnte man vom Balkon aus, vielleicht eine Meile weit, bis hin zum anderen Fluss sehen, über den Park und über die ganze Stadt hinweg. In diesem Augenblick, glaube ich, duckte ich mich oder ging auf Hände und Knie hinunter und bewegte mich Zentimeter um Zentimeter vorwärts, bis zum Rand des Balkons. Ich glaube, ich beugte mich weit genug vor, um ihn da unten auf dem Gehsteig zu sehen, von wo er – wie ich mich erinnere – heraufblickte. Oder aber er hatte die Straße überquert und blickte herauf. Er hat mich nicht gesehen.

Ich weiß, dass ich, als ich da auf dem Balkon oder knapp dahinter kauerte, einen bestimmten Eindruck von ihm hatte: dass er verwirrt war, betroffen, enttäuscht, und nicht wusste, was er nun tun sollte, weil er nicht damit gerechnet hatte – mit allen anderen Möglichkeiten, wie dieses Date verlaufen mochte, mit anderen Schwierigkeiten gerechnet hatte, nicht aber mit keinem Date. Kann sein, dass er auch ärgerlich oder beleidigt war, wenn er dabei oder aber später auf den Gedanken verfiel, dass er möglicherweise keinen Fehler gemacht hatte, sondern dass ich ihn absichtlich versetzt hatte, und zwar nicht auf die Weise, wie ich es tat – allein da oben in der Wohnung, unbehaglich und verlegen, mit eingezogenem Schwanz in meinem Versteck – sondern, so stellte er es sich vor, in geheimer Absprache mit jemand anderem, einer Freundin oder einem Freund, zu dem ich Vertrauen hatte und mit dem ich über ihn kicherte.

Ich weiß nicht, ob er mich anrief oder ob ich, falls das Telefon läutete, den Hörer abnahm. Ich hätte irgendeine Ausrede erfinden können – ich hätte sagen können, ich sei krank geworden oder hätte plötzlich außer Haus gehen müssen. Vielleicht habe ich auch aufgelegt, als ich seine Stimme hörte. Damals waren, anders als heute, Vermeidungen für mich auf der Tagesordnung – Vermeidung von Konfrontationen, Vermeidung von problematischen Begegnungen. Und ich habe, auch das anders als heute, eine ganze Menge gelogen.

Eigentümlich war, wie fürchterlich ich mich dabei fühlte. Ich behandelte einen Menschen wie ein Ding. Und ich betrog nicht nur ihn, sondern etwas Größeres, einen Gesellschaftsvertrag oder etwas in der Art. Wenn du weißt, unten wartet ein anständiger Mensch auf dich, einer, mit dem du dich verabredet hast, dann reagierst du nicht nicht auf den Türsummer. Was mich noch mehr überrascht hat, war, wie ich mir in diesem Augenblick selbst dabei vorkam. Ich verhielt mich so, als hätte ich nichts und niemandem gegenüber Verantwortung, und das gab mir ein Gefühl, als existierte ich außerhalb der Gesellschaft, als irgendeine Kriminelle, oder als existierte ich überhaupt nicht. Ich habe mich sogar mehr noch zerstört als ihn. Es war ein schrecklicher Gewaltakt.«

Sie machte eine Pause und dachte nach. Weil es regnete, saßen wir nun drinnen. Wir waren hereingekommen und hatten uns in einer Art Lounge oder Erholungsraum hingesetzt, die den Gästen dieses Quartiers am See zur Verfügung gestellt wurde. Es regnete dort jeden Nachmittag, manchmal ein paar Minuten, manchmal stundenlang. An der anderen Seeseite ragten die weißen Kiefern und Fichten still und stumm vor dem Hintergrund des grauen Himmels in die Höhe. Das Wasser war silbern. Wir sahen keine der Seevögel, die wir manchmal am Seeufer herumpaddeln sahen – Krickenten und Seetaucher. Drinnen brannte im Kamin ein Feuer. Über unseren Köpfen hing ein Leuchter aus Geweihen. Zwischen uns stand ein Tisch eine unbehandelte Holzplatte, die auf den Beinen eines Rehs aufsaß, mit Hufen und allem Drum und Dran. Auf dem Tisch stand eine aus einem alten Gewehr hergestellte Lampe. Sie wandte ihren Blick weg vom See und sah sich im Raum um. »In dem Buch über die Adirondacks, das ich gestern Abend gelesen habe«, bemerkte sie, »stellt er fest, dass es bei den Adirondacks, das heißt beim Adirondack-Stil, um Dinge geht, die aus Dingen hergestellt werden.«

Etwa einen Monat danach, als ich wieder zu Hause und sie wieder in der Stadt war, telefonierten wir miteinander, und sie sagte, sie habe eines ihrer alten Tagebücher, die sie auf ihrem Regal stehen habe, nach Informationen darüber, was passiert war, durchsucht – obwohl sie natürlich nur Details darüber eingetragen hatte, was nicht wirklich passiert war. Aber...

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