Gebrandmarkt - Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika

Gebrandmarkt - Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika

von: Ibram X. Kendi

Verlag C.H.Beck, 2017

ISBN: 9783406712319

Sprache: Deutsch

605 Seiten, Download: 3389 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Gebrandmarkt - Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika



Prolog


Jeder Historiker schreibt zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt und ist von dessen Auswirkungen betroffen. Mein Zeitpunkt, der Zeitpunkt dieses Buches, fällt mit den Tötungen unbewaffneter Menschen durch Polizeibeamte zusammen, die man in den Medien zum Teil in Echtzeit miterleben konnte, und mit der plötzlich zunehmenden Bedeutung der Bewegung #BlackLivesMatter im Verlauf von Amerikas stürmischsten Nächten. Irgendwie schaffte ich es, dieses Buch zu schreiben, während Trayvon Martin und Rekia Boyd und Michael Brown und Freddie Gray und die Charleston 9 und Sandra Bland litten und starben; ihr Leiden und ihr Tod sind das Resultat der amerikanischen Geschichte und der rassistischen Ideen in den Köpfen der Menschen, genau wie dieses Buch der Geschichte rassistischer Ideen das Resultat dieser Todesfälle ist.

Zwischen 2010 und 2012 war nach staatlichen Statistiken die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei getötet zu werden, in der Gruppe der jungen schwarzen Männer einundzwanzigmal höher als in der Gruppe der jungen weißen Männer. Das noch viel zu wenig dokumentierte und zu wenig analysierte ethnisch bedingte Missverhältnis bei den verschiedenen Gruppen der weiblichen Opfer tödlicher Polizeigewalt könnte sogar noch größer sein. Staatliche Daten zeigen, dass die durchschnittliche Finanzkraft weißer Haushalte die durchschnittliche Finanzkraft schwarzer Haushalte sage und schreibe um das Dreizehnfache übersteigt; und die Wahrscheinlichkeit eines Gefängnisaufenthalts ist bei Schwarzen fünfmal höher als bei Weißen.[1]

Doch diese Statistiken sind kaum überraschend. Die meisten Amerikaner sind sich wahrscheinlich dieser ethnischen Ungleichheiten bei Polizeimorden, bei den Vermögensverhältnissen und den Gefängnisaufenthalten – in fast jedem Bereich der Gesellschaft der Vereinigten Staaten – bewusst. Unter ethnischer Ungleichheit verstehe ich, dass ethnische Gruppen statistisch nicht gemäß ihrem Anteil an der Bevölkerung repräsentiert sind. Wenn Schwarze 13,2 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, dann sollten etwa 13 Prozent der Amerikaner, die von der Polizei getötet werden, und etwa 13 Prozent der Amerikaner, die im Gefängnis sitzen, Schwarze sein, und sie sollten über etwa 13 Prozent der privaten Finanzkraft des Landes verfügen. Aber heute sind die Vereinigten Staaten weit entfernt von ethnischer Gleichheit. Afroamerikaner besitzen 2,7 Prozent des nationalen Vermögens und machen 40 Prozent der inhaftierten Bevölkerung aus. Das sind ethnische Unterschiede, und ethnische Unterschiede sind älter als die Vereinigten Staaten.[2]

2016 feierten die USA ihren 240. Geburtstag. Doch sogar schon bevor Thomas Jefferson und die anderen Gründerväter die Unabhängigkeit erklärten, stritten sich Amerikaner heftig über ethnische Ungleichheit, über die Ursachen ihrer Existenz und ihres Fortbestehens und über die Gründe dafür, dass weiße Amerikaner als Gruppe statistisch gesehen erfolgreicher waren als schwarze Amerikaner. Historisch gesehen hat es in dieser hitzigen Debatte drei Seiten gegeben. Eine Gruppe, nennen wir sie Segregationisten oder Anhänger der Rassentrennung, hat die Schwarzen selbst für die ethnische Ungleichheit verantwortlich gemacht. Eine zweite Gruppe, nennen wir sie Anti-Rassisten, verwies auf ethnische Diskriminierung. Eine dritte Gruppe, nennen wir sie Assimilationisten, hat versucht, Argumente für beide Seiten zu finden. Diese Gruppe sagte, dass die Schwarzen selbst und die ethnische Diskriminierung schuld seien an der bestehenden Ungleichheit. In der aktuellen Debatte über die Polizeimorde waren alle drei Seiten vertreten. Die Segregationisten haben das rücksichtslose kriminelle Verhalten der Schwarzen angeprangert, die von den Polizisten getötet wurden. Michael Brown war ein monströser, bedrohlicher Dieb; deshalb hatte Darren Wilson allen Grund, ihn zu fürchten und zu töten. Die Anti-Rassisten gaben dem rücksichtslos rassistischen Verhalten der Polizei die Schuld. Das Leben dieses dunkelhäutigen Achtzehnjährigen hatte für Darren Wilson keine Bedeutung. Die Assimilationisten haben versucht, beiden Seiten recht zu geben. Sowohl Wilson wie auch Brown verhielten sich wie verantwortungslose Kriminelle.

Diese drei Argumentationsansätze, die man in den letzten Jahren hören konnte, werden sich in meinem Buch ständig wiederholen. Fast sechs Jahrhunderte lang mussten antirassistische Ideen gegen zwei Hauptströmungen rassistischer Vorstellungen kämpfen: segregationistische und assimilationistische. Die Geschichte rassistischer Ideen, die Sie hier lesen, ist die Geschichte dieser drei verschiedenen Stimmen – der Segregationisten, der Assimilationisten und der Anti-Rassisten –, die auf ihre je eigene Weise ethnische Ungleichheit zu erklären versuchten und Gründe dafür ins Feld führten, warum Weiße immer auf der Gewinnerseite blieben und Schwarze immer verloren.

Der Titel Gebrandmarkt stammt aus einer Rede, die ein Abgeordneter aus Mississippi, Jefferson Davis, am 12. April 1860 vor dem amerikanischen Senat hielt. Bald darauf sollte Davis Präsident der Südstaaten sein. In seiner Rede erhob er Einspruch gegen ein Gesetz zur Finanzierung von Bildung für Schwarze in Washington, D. C. «Diese Regierung wurde nicht von Negern und nicht für Neger geschaffen», sondern «von weißen Männern für weiße Männer», belehrte er seine Kollegen. Das Gesetz gründe auf der falschen Vorstellung von rassischer Gleichstellung, erklärte er. Die «Ungleichheit der weißen und der schwarzen Rasse» sei «ein Brandmal von Geburt an».[3]

Es überrascht kaum, dass Jefferson Davis schwarze Menschen als biologisch verschieden und weißen Menschen unterlegen ansah – und schwarze Haut als einen hässlichen Stempel auf der schönen weißen Fläche «normaler» menschlicher Haut – und dieser schwarze Stempel war das Zeichen der immerwährenden Minderwertigkeit des Negers. Es fällt nicht schwer, diese Art segregationistischen Denkens als offensichtlich rassistisches Denken zu bestimmen – und zu verurteilen. Und doch gab es viele prominente Amerikaner mit sehr guten Absichten, die assimilationistisch dachten und mit diesem Denken ebenfalls rassistischen Überzeugungen über die Minderwertigkeit von Schwarzen den Weg bereiteten. Wir erinnern uns gern an den glorreichen Kampf der Assimilationisten gegen ethnische Diskriminierung, aber wir scheuen davor zurück, davon zu reden, dass sie auf sehr wenig glorreiche Art das angeblich minderwertige schwarze Verhalten für ethnische Ungleichheit verantwortlich machten. Sie akzeptierten die biologische ethnische Gleichheit und verwiesen gleichzeitig auf die Umwelt – das heiße Klima, Diskriminierung, Kultur und Armut – als Ursachen des minderwertigen schwarzen Verhaltens. Wenn man sie nach einer Lösung fragt, sind sie der Meinung, dass der hässliche schwarze Stempel ausradiert werden und minderwertiges schwarzes Verhalten unter günstigen Bedingungen durchaus zu Höherem entwickelt werden kann. Daher propagieren Assimilationisten die Übernahme von weißen kulturellen Merkmalen und/oder körperlichen Idealen durch Schwarze. In seiner wegweisenden Arbeit über die Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen, die nach der einhelligen Meinung fast aller Forscher ein starker Impuls für die Bürgerrechtsbewegung gewesen ist, schreibt der schwedische Ökonom und Nobelpreisträger Gunnar Myrdal 1944: «Es ist für die amerikanischen Neger als Individuen und als Gruppe von Vorteil, sich der amerikanischen Kultur zu assimilieren und jene Wesenszüge anzunehmen, die von den dominanten weißen Amerikanern hochgeschätzt werden.» In seinem Buch An American Dilemma erklärt er, dass «die amerikanische Negerkultur in praktisch all ihren Abweichungen … als eine verzerrte Entwicklung oder ein pathologischer Daseinszustand der allgemeinen amerikanischen Kultur» anzusehen sei.[4]

Doch es gibt und es gab immer auch eine anhaltende Strömung von antirassistischem Denken in diesem Land, das jene assimilationistischen und segregationistischen Strömungen infrage stellte und für die Wahrheit hoffen ließ. Anti-Rassisten sagen schon lange, dass ethnische Diskriminierung den Anfängen Amerikas aufgestempelt war, was erklärt, warum ethnische Ungleichheit seit damals besteht. Anders als Segregationisten und Assimilationisten erkennen Anti-Rassisten an, dass die unterschiedliche Beschaffenheit von Haut, Haar, Verhaltensweisen und kulturellen Eigenheiten von Schwarzen und Weißen sich auf dem gleichen Niveau befindet und sie gleich sind in ihrer Verschiedenheit. Wie die legendäre schwarze...

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