Zehn unbekümmerte Anarchistinnen - Roman

Zehn unbekümmerte Anarchistinnen - Roman

von: Daniel de Roulet

Limmat Verlag, 2017

ISBN: 9783038551249

Sprache: Deutsch

186 Seiten, Download: 910 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Zehn unbekümmerte Anarchistinnen - Roman



ERSTES KAPITEL


in dem VALENTINE in der Rolle der ­Berichterstatterin von den Ereignissen im Jahre 1851 in einem Uhrmacherdorf erzählt, als ein israelitischer Arzt von der Regierung ­verjagt, aber von den Dorfbewohnern verteidigt wurde.


Früh weckte uns das Geräusch der Schaufeln, die vor den Türen den Schnee fortschippten und die Wege bis zur Straße freiräumten, wo der Spitzpflug vorbeikommen würde. Die ganze Nacht hatte es auf das Tal und seine Dörfer geschneit. Die Väter und großen Brüder arbeiteten hart, während wir Mädchen hinter den Fenstern unserer Häuser zuschauten, wie die Dampfwolken aus ihren Mündern aufstiegen. Eine dicke Schneeschicht hatte die Formen der Landschaft weich gezeichnet, auch die Buchsbaumhecken des Gemüsegartens, die Trocken­steinmauern, die Tannenzweige, die einen hübschen Schwung bekommen hatten. Wir zogen unsere Sonntagskleider an, um unsere Eltern zum Gottesdienst zu begleiten. Sobald die Straße frei wäre, würde Vater Grimm mit Valentine und ihrer großen Schwester Blandine zu Fuß losgehen. Valentine war damals sechs, Blandine acht Jahre alt.

Zwei Pferde zogen den Spitzpflug, der aus zwei v-förmig zusammengesetzten, metallbeschwerten Bret­tern bestand. Sobald es bergauf ging, ächzten die Tiere, und die Dampfwolken, die aus ihren Nüstern wehten, schienen ihre endgültige Erschöpfung anzukündigen. Zuerst waren sie die Hauptstraße entlanggetrabt, hatten dann Stufe für Stufe ansteigend die Wege an den Flanken des Sonnenbergs freigeräumt und waren weiter oben an den Höfen von Colettes und Juliettes Eltern vorbeigekommen.

Es war acht Uhr, als die Straße, die über die Suze und am Haus der Grimms vorbeiführt, endlich vom Schnee befreit war. Wir wussten, dass der Spitzpflug nun nacheinander die Zuwege zu den abgelegenen Häusern am Schattenberg freiräumen würde. Jedes Dorf hatte seine Wintergerätschaften, die je nach dem Gefälle seiner Hänge von einem oder zwei Pferden gezogen wurden. In den Dörfern des weiten, ebenen Untertals genügte ein Zugtier. In Courtelary wurde nur ein Ochse vor den Pflug ge­spannt.

Um halb zehn riefen im Tal die Kirchenglocken, al­len voran die der Kirche von Saint-Imier, eine Viertelstunde lang zum Gottesdienst. An ihrem gedämpften Klang konnte man allein vom Hören abschätzen, wie hoch der Schnee lag. Die letzten Flocken schwebten zu Boden. Die Wolken zogen nach Frankreich hinüber, wir erwarteten einen blauen Himmel und beißende Kälte nach dem Gottesdienst. In dieser Jahreszeit erreicht die Sonne den Schattenberg nicht. Ihre hellen Strahlen tref-fen nur den Sonnenberg und überziehen dort die Schneedecke mit einem bläulichen Schimmer.

Im Tal tun sich selbst die Alten schwer mit der Wettervorhersage, denn der Himmel ist nie in seiner ganzen Weite zu sehen, zwei tannenbestandene Bergketten grenzen ihn ein. Die Wolken bilden sich im Verborgenen. Plötzlich sind sie da. Wenn sie hinter dem Bergkamm ver­schwinden, weiß man nicht, wohin sie ziehen. Blandine, die ihre kleine Schwester Valentine gerne ärgerte, hatte ihr während des Schlussgesangs ein Rätsel aufgegeben: Wo­hin verschwindet das Weiß des Schnees, wenn er schmilzt? Schwestern gehen nicht zimperlich miteinander um. Va­­len­­tine schmollte, weil sie die Antwort nicht wusste.

Es war Sonntag, der 12. Januar 1851, in Saint-Imier in der Schweiz, im Berner Jura, dem französischsprachigen Teil des Kantons, kurz vor elf, am Ende des Gottesdienstes.

Der Pulverschnee taugte nicht besonders für Schneebälle. Über dem Tal war der schmale Streifen Himmel mittlerweile blau. In Erwartung des Umzugs hatten sich die Menschen auf dem Marktplatz und entlang der Hauptstraße versammelt. Auch wir waren da, die Mädchen, die eines Tages ans andere Ende der Welt auswandern würden. Colette und Juliette, beide bald dreizehn Jahre alt, schlängelten sich zwischen den Erwachsenen hindurch. Auf den Schultern ihres Vaters sitzend, er­blickte Valentine zuvorderst die Musiker und den Fahnenträger, der den Schaft der bestickten Fahne im Gurt trug. Im Rhythmus der Trommeln kamen sie näher. Als der Pfiff des Tambourmajors erscholl, ergriffen sie ihre Instrumente, zählten drei Schritte und stimmten das erste der vier Stücke ihres Repertoires an.

Hinter dem durch den Spitzpflug mehr oder weniger hoch aufgetürmten Schneewall begrüßten die Be­woh­ner von Saint-Imier ihr Musikkorps mit Applaus. Knaben und Männer mit bloßen Händen, Mütter und junge Mädchen, ohne ihre Wollhandschuhe auszuziehen. Ein Vater bückte sich, um seine Tochter zu Boden zu lassen, seine Schultern waren vom Schneeschippen müde. Wir haben deshalb nicht genau mitbekommen, wie der un­beliebte Lehrer den Streit auslöste, als die Musik an der Schule vorbeizog. Heute ist der letzte Sonntag vom Basswitz, nieder mit den Roten!, hörte ihn Valentine brüllen. Ein Verwandter verwies ihn in die Schranken: Geh nach Hause, du Mistkerl! Als der Lehrer sich weiter aufspielte, traf ihn ein Schneeball mitten ins Gesicht, kein dicker Brocken, aber seine Brille überstand den Angriff nicht. Der Lehrer sah nichts mehr und musste sich wü­tend verziehen.

Abends in den Häusern wurde im Kreis der Familien über den Vorfall gesprochen. Im ersten Augenblick hatten wir das alles nicht richtig verstanden. Jedermann schätzte doch den Doktor Basswitz, der deutscher Staatsbürger, Israelit und politischer Flüchtling war. Er hielt schöne Vorträge über Jean-Jacques Rousseau, behandelte die ar­men Leute, ohne Geld dafür zu nehmen, war sogar Ge­­mein­derat gewesen. Aber die da oben in Bern hatten be­schlossen, ihn zu vertreiben. Eine Petition hatte die Runde gemacht, in der die Leute sich für diesen Arzt einsetzten, der nach seinem Studium in Bern das Krankenhaus von Saint-Imier gegründet und mit dem Aufbau einer Sekun­darschule für Knaben begonnen hatte.

In vielen Häusern herrschte die ganze Nacht hindurch ein Kommen und Gehen. Das Thermometer zeigte minus zehn Grad an, die Fensterscheiben waren mit einer dicken Schicht Eisblumen überzogen. Junge Leute kamen vorbei, um zu erzählen, dass sie alle Konservativen besucht hätten, um sie ordentlich zu verprügeln. Angeblich war ein Polizist bewusstlos im Schnee aufgefunden worden, neben ihm ein Blutfleck. Die Sa­che war ernst, man musste rasch irgendeine Ge­­schichte erfinden, sagen, er habe wie immer zu viel getrunken. Wir verstan­den nicht, was los war. Aber wir sahen, wie die Erwachsenen sich aufregten, als die Berner am nächsten Morgen in der Zeitung behaupteten, es habe einen Aufstand gegen die Obrigkeit gegeben.

Statt uns in die Schule zu schicken, nahmen unsere Eltern uns mit auf die Straße, um lauthals Lieder gegen die Konservativen zu singen. Auf dem Marktplatz war ein Freiheitsbaum aufgestellt worden, eine große Tanne, nicht sehr stabil befestigt. Wir haben sie alle auf den jungen Gagnebin fallen sehen. Die Leute rannten in alle Richtungen, das Schlimmste aber war die Frau, die schrie: Das ist mein Mann, tut doch was! Doch der rührte sich nicht mehr, denn, auch wenn sich das blöd an­hört, er war tot.

Am nächsten Morgen haben die, die behaupteten, die Obrigkeit zu sein, eine Art Krieg begonnen. Wieder mussten wir unsere Eltern begleiten, die Widerstand ge­gen die militärische Belagerung des Tals leisten wollten. Aus der Hauptstadt rückten über tausend Soldaten an, hundertsechzig Pferde zogen Kanonen, die uns niedermetzeln sollten. Die Sturmglocke läutete. Fanfaren und Trommler vorneweg zog der Gemeinderat mit we­­hen­den Fahnen den Soldaten entgegen. Auf der Höhe der Place Neuve stieß er auf die im Karree aufgestellten Truppen. Wir blieben mit unseren Müttern auf Beobachtungsposten in einer Seitenstraße. Die Polizisten versuchten, all jene festzunehmen, die der Statthalter Un­­ruhestifter nannte: Gigon, Bourquin, Ketterer. Jemand rief: An die Waffen!, als müsse jetzt das Gewehr hervorgeholt werden, das unsere Eltern unter ihrer Matratze versteckt hatten. Jedenfalls die von Valentine.

Der Oberst, ein Mistkerl, befahl die Truppe in Stellung und brüllte: Waffen – laden! Unsere Mütter schlugen vor, nach Hause zu gehen, unter dem Vorwand, die Kinder würden sich erkälten. Der Bürgermeister verhandelte. Er wollte nicht, dass wirklich Krieg ausbrach. Blandine hatte Angst, Valentine nicht, sie schmollte im­mer noch, weil sie das Rätsel ihrer Schwester nicht lösen konnte. Sie ließ Schnee in ihrem Mund zergehen, aber er wurde zu Wasser, nicht zu Milch. Wohin verschwand bloß das Weiß? Der Oberst schaffte es nicht, dass man ihm gehorchte. Am Ende befahl er der Truppe den Rückzug und vereinbarte, dass die vermeintlich Schuldigen sich freiwillig ins Gefängnis des Statthalteramts begeben sollten. Erleichtert ließen die Soldaten die auf uns gerichteten Gewehre sinken.

Von dem Tag an besetzte das Militär einen Monat lang die Dörfer des oberen Tals: Renan, Sonvilier, Saint-Imier. Wir folgten der Truppe, bewarfen sie mit Schneebällen. Da unsere Eltern uns den Unterschied zwischen Soldaten, Leutnants und Oberst erklärt hatten, be­­schimpften wir Letzteren direkt. Du gemeiner Deutschschweizer Kommandant!, riefen wir. Männer der Truppe gingen Arm in Arm mit Dorfbewohnern spazieren. Die Herbergen waren ständig voll. Zum Zeichen, dass sie sich mit uns verbündeten, trugen die Soldaten einen Tannenzweig im Knopfloch. Der Aufstand wurde zum Fest, die Eltern arbeiteten nicht mehr. Die Uhrmacherwerkstätten waren ausgestorben, trotz der Ermahnungen des Statthalters Lombach, die Colette, da sie schon lesen konnte, laut deklamierte und dabei die Obrigkeit nachäffte: «Arbeiter! Die militärische Okkupation darf nicht länger ein Grund für Untätigkeit sein, kehrt so­fort in eure verlassenen Werkstätten zurück und nehmt eure...

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