Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken

Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken

von: John Green

Carl Hanser Verlag München, 2017

ISBN: 9783446259171

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 2061 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken



Zwei


Die Angst hatte ich inzwischen weitgehend ausgeschwitzt, aber als ich von der Cafeteria zu Geschichte ging, schaffte ich es nicht, den Impuls zu unterdrücken, mein Telefon rauszuholen und mir noch mal die Horrorstory durchzulesen, die der Wikipedia-Artikel über das »Mikrobiom« für mich darstellte. Als ich lesend durch den Flur ging, rief mich meine Mutter durch die offene Klassentür. Sie saß an ihrem Metallschreibtisch und las ein Buch. Mom unterrichtete Mathematik, aber ihre große Liebe galt der Literatur.

»Keine Handys auf dem Schulflur, Aza!« Ich steckte mein Telefon ein und ging zu ihr. Die Mittagspause war in genau vier Minuten zu Ende, die perfekte Länge für ein Mom-Gespräch. Sie sah von ihrem Buch auf und schien etwas in meinem Blick zu entdecken. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte ich.

»Du fühlst dich nicht unwohl?«, fragte sie. Dr. Singh hatte meiner Mutter irgendwann erklärt, es sei kontraproduktiv, mich zu fragen, ob ich mich unwohl fühlte, und seitdem formulierte sie die Frage indirekt.

»Mir geht’s gut.«

»Und du nimmst deine Medikamente.« Wieder keine direkte Frage.

»Ja«, antwortete ich, was mehr oder weniger stimmte. In der neunten Klasse hatte ich eine Art Zusammenbruch gehabt, und seitdem sollte ich täglich eine runde weiße Tablette nehmen. Im Durchschnitt nahm ich sie drei Mal die Woche.

»Du siehst …«

Verschwitzt aus, dachte sie, ich wusste es.

»Wer entscheidet eigentlich, wann es klingelt?«, fragte ich. »Ich meine, die Schulglocke?«

»Weißt du was? Ich habe keine Ahnung. Ich schätze, irgendjemand von der Verwaltung bestimmt das.«

»Und warum ist die Mittagspause ausgerechnet 37 Minuten lang statt 50? Oder 22? Oder sonst was?«

»In deinem Gehirn scheint viel vorzugehen«, sagte Mom.

»Ich finde es einfach komisch, dass jemand, den ich gar nicht kenne, solche Dinge für mich entscheidet, und ich muss mein Leben danach ausrichten. Ich meine, ich lebe nach dem Stundenplan von jemand anderem. Und ich weiß nicht mal, von wem.«

»Tja, in dieser Hinsicht und manchen anderen ähneln amerikanische Highschools wirklich einem Gefängnis.«

Ich sah sie erschrocken an. »O Gott, Mom, du hast so recht. Die Metalldetektoren. Die Betonwände.«

»Beide sind überfüllt und schlecht ausgestattet«, sagte Mom. »Und in beiden bestimmt die Glocke, wann man sich in einen anderen Raum zu begeben hat.«

»Und du kannst dir nicht aussuchen, wann es Mittagessen gibt«, sagte ich. »Und in Gefängnissen gibt es sadistische, korrupte Wärter, genau wie die Lehrer bei uns.«

Sie sah mich streng an, aber dann musste sie lachen. »Kommst du nach der Schule nach Hause?«

»Ja, aber später fahre ich Daisy zur Arbeit.«

Mom nickte. »Wenn ich manchmal die Zeit vermisse, als du klein warst, muss ich nur an Chuck E. Cheese denken.«

Chuck E. Cheese, wo Daisy arbeitete, war ein Indoor-Spielplatz, der sich eigentlich nur durch die Lautstärke und den Pizzageruch von einer Spielothek unterschied.

»Sie verdient sich Geld fürs College.«

Meine Mutter sah wieder in ihr Buch. »Wenn wir in Europa leben würden, wäre das Studium nicht so teuer.« Ich wusste, was jetzt kam. Moms Bildungskostentirade. »In Brasilien gibt es kostenlose Universitäten. In den meisten europäischen Ländern. In China. Nur hier knöpfen sie einem 25.000 Dollar pro Jahr für ein mittelmäßiges College ab. Ich habe erst vor ein paar Jahren meinen eigenen Studienkredit abgezahlt, und jetzt müssen wir bald den Kredit für dein Studium aufnehmen.«

»Ich bin erst in der Elften. Wir haben noch jede Menge Zeit, um im Lotto zu gewinnen. Und wenn das nicht klappt, verkaufe ich Crystal Meth, um mein Studium zu finanzieren.«

Sie lächelte nur matt. Sie machte sich wirklich Sorgen, wie sie meine Ausbildung bezahlen sollte. »Und du bist dir sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?«, fragte sie.

Ich nickte, als von oben die Schulglocke klingelte und mich zu Geschichte schickte.

Als ich nach der Schule auf den Parkplatz kam, saß Daisy schon auf dem Beifahrersitz. Sie hatte das Flecken-T-Shirt gegen ihr rotes Chuck-E.-Cheese-Polohemd ausgetauscht, hatte den Rucksack auf dem Schoß und trank ihre Schulmilch. Daisy war der einzige Mensch auf der Welt, dem ich einen Schlüssel zu Harold anvertraute. Nicht einmal Mom hatte ihren eigenen Harold-Schlüssel, nur Daisy und ich.

»Bitte nimm in Harold keine milchigen Flüssigkeiten zu dir«, sagte ich.

»Milch ist nicht milchig«, gab sie zurück.

»Gelogen«, sagte ich und fuhr zum Haupteingang, wo ich wartete, bis Daisy ihre Milch weggeworfen hatte.

Vielleicht hast du auch schon mal geliebt. Ich meine wahre Liebe, die Art von Liebe, die meine Großmutter meinte, wenn sie den Ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther zitierte, die Art von Liebe, die gütig und geduldig ist, die nicht neidet oder prahlt, die alles erträgt und alles glaubt und alles übersteht. Ich werfe nicht gern mit dem L-Wort um mich; es ist zu edel und zu kostbar, um es durch übermäßigen Gebrauch abzunutzen. Man kann ein gutes Leben führen, ohne die wahre Liebe zu kennen, Liebe von der Korinther-Sorte, doch ich war gesegnet, denn ich hatte die wahre Liebe in Harold gefunden.

Harold war ein 16 Jahre alter Toyota Corolla, dessen Lackfarbe sich Mystic Teal Mica nannte und dessen Motor rhythmisch klopfte, der Puls seines unbefleckten Stahlherzen. Harold war der Wagen meines Vaters gewesen – Dad hatte ihm auch den Namen gegeben. Mom hatte Harold nie verkauft, und so stand er acht Jahre lang bei uns in der Garage – bis ich mit 16 den Führerschein machte.

Nach der langen Zeit Harolds Motor wieder zum Laufen zu bringen kostete mich mein gesamtes Vermögen von 400 Dollar, das ich mir im Laufe meines Lebens zusammengespart hatte – Taschengeld, gehamsterte Münzen, wenn ich für Mom beim Eckladen war, Ferienjobs bei Subway, Weihnachtsgeschenke von Großeltern –, und so war Harold der Höhepunkt meines Seins, zumindest in finanzieller Hinsicht. Und ich liebte ihn. Häufig träumte ich von ihm. Er hatte einen geräumigen Kofferraum, ein extragroßes weißes Lenkrad, und seine Rückbank war mit sandfarbenem Leder bezogen. Er beschleunigte mit der sanften Gelassenheit eines buddhistischen Zen-Meisters, der weiß, dass nichts wirklich Eile hat; das Quietschen seiner Bremsen war Romantic Metal in meinen Ohren, und ich liebte ihn.

Aber Harold hatte kein Bluetooth, nicht einmal einen CD-Player, und wenn man mit Harold zusammen war, hatte man drei Möglichkeiten: erstens, Stille, zweitens, Radio, oder drittens, die B-Seite von Dads Missy-Elliott-Kassette, dem wunderbaren Album So Addictive, die ich – weil der Kassettenrekorder sie nicht mehr ausspuckte – schon Hunderte Male in meinem Leben gehört hatte.

Doch am Ende war Harolds unvollkommene Audioanlage der letzte Ton in der Melodie der Zufälle, die mein Leben verändern sollte.

Auf der Suche nach dem Song einer besonders brillanten und besonders unterschätzten Boyband gingen Daisy und ich die Radiosender durch, bis wir bei den Nachrichten hängen blieben. »… der in Indianapolis ansässigen Baufirma Pickett Engineering mit weltweit über 10.000 Mitarbeitern hat heute …« Ich wollte schon weitersuchen, aber Daisy schob meine Hand weg.

»Das meinte ich«, rief sie, als die Meldung weiterlief. »… 100.000 Dollar Belohnung für sachdienliche Hinweise, die zum Verbleib des Vorstandsvorsitzenden Russell Pickett führen. Pickett, der in der Nacht vor einer polizeilichen Hausdurchsuchung im Zusammenhang mit Betrugs- und Korruptionsermittlungen spurlos verschwand, wurde zuletzt am achten September auf seinem Anwesen am White River gesehen. Die Polizei bittet jeden, der über Informationen zu Russell Picketts derzeitigem Aufenthaltsort verfügt, sich beim Indianapolis Police Department zu melden.«

»100.000 Dollar«, wiederholte Daisy. »Und du kennst den Typen.«

»Kannte«, wandte ich ein. Zwei Sommer, nach der fünften und nach der sechsten Klasse, hatten Davis und ich im Trauerkloßcamp verbracht, wie wir Camp Spero nannten, das Feriendorf in Brown County für Kinder mit toten Eltern.

Ein paarmal hatten Davis und ich uns auch während des Schuljahrs gesehen, weil er von uns aus nur ein Stück den Fluss runter wohnte, wenn auch am anderen Ufer. Mom und ich wohnten auf der Seite, die manchmal unter Wasser stand. Die Picketts wohnte auf der Seite mit den hohen Ufermauern, die das Hochwasser in unsere Richtung drückten.

»Wahrscheinlich erinnert er sich nicht mal an mich.«

»Jeder erinnert sich an dich, Holmesy«, sagte sie.

»Das ist nicht …«

»Rein objektiv. Ich meine nicht, dass du besonders toll oder großzügig oder herzlich oder sonst was bist. Ich meine, dass du objektiv unvergesslich bist.«

»Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen«, sagte ich. Aber natürlich vergisst man Besuche bei Spielkameraden nicht, die eine Villa mit Golfplatz und einen Swimmingpool mit Insel und fünf Wasserrutschen hatten. Unter meinen persönlichen Bekannten war Davis das, was einer richtigen Berühmtheit am nächsten kam.

»100.000 Dollar«, wiederholte Daisy. Wir waren auf dem Autobahnring um Indianapolis. »Ich setze für 8 Dollar 40 die Stunde Kaugummiautomaten in Gang, und da warten hundert Riesen auf uns.«

»Ich würde nicht sagen, sie warten auf...

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