Der gefährlichste Ort der Welt - Roman

Der gefährlichste Ort der Welt - Roman

von: Lindsey Lee Johnson

dtv, 2017

ISBN: 9783423432672

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 1427 KB

 
Format:  EPUB

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Der gefährlichste Ort der Welt - Roman



Prolog


Dokumentation: Unsere Stadt von Tristan Bloch, 8. Klasse

 

Tristan Bloch

Sozialkunde 8. Klasse – Miss Lamb

Geschichtsprojekt Mill Valley

13. Dezember 2009

Mount Tamalpais, von Mill Valley aus gesehen, circa 1914

Vielleicht haben Sie davon gehört, dass unsere Stadt Mill Valley, Kalifornien, dem Smithsonian Institute zufolge die VIERTBESTE KLEINSTADT AMERIKAS ist. Nun ja. Da ich nie woanders gelebt habe, bin ich wohl nicht der Richtige, um das Best- oder Schlechtestsein einer Stadt wie unserer zu beurteilen. Aber ich werde Ihnen erzählen, was ich über Mill Valley herausgefunden habe, und dann können Sie selbst entscheiden.

 

Die Legende von der Schlafenden Frau

1921 wurde in einem Theaterstück namens Tamalpa die Geschichte unseres Bergs erzählt, des Mount Tamalpais. Es war nicht die erste Version der Miwok-Legende und auch nicht die letzte, aber diese wurde aufgeschrieben, und deshalb ist es diejenige, die zählt.

Die Geschichte geht so.

Tamalpa war die Tochter von Ah-Shawn-Nee, der Berghexe, die den Großen Weißen Geist oben auf dem Berg bewachte. Piayutuma war der tapfere Miwok-Krieger, der sich allein auf den Gipfel wagte. Die Berghexe war fuchsteufelswild, weil dieser Sterbliche es wagte, so hoch hinauf zu steigen, und sie rief den bösen Geistern ringsum zu: Gebt das Leben dieses tapferen Piayutuma in meine Hände, damit ich es zermalmen kann. Dann schickte die Hexe ihre Tochter los, die schöne Tamalpa, damit sie Piayutuma mit einem bösen, tödlichen Zauber belegte.

Als Piayutuma sich mit seinem goldenen Kopfschmuck und goldenen Stab dem Gipfel näherte, erschien Tamalpa vor ihm. Sie bot einen wunderbaren Anblick. Unwiderstehlich. Sie nahm ihm den Kopfschmuck und den Stab ab und damit seine ganze Macht.

Piayutuma war das egal. Er war in ihren Bann geschlagen. Er sagte zu ihr: Ich kenne einen Grat, wo das Sonnenlicht sich in Wasserbecken von glitzerndem Gold sammelt und Bergflieder zarten Duft verströmt. Dort legen wir uns hin, über uns nur der Himmel, unten das weite silberne Wasser, und die Welt ist fern und klein.

Das Wunder und die Überraschung waren, dass Tamalpa ihn auch liebte. Sie konnte nicht anders. Man darf nicht vergessen, dass dieses Mädchen von bösen Mächten großgezogen worden war. Es war das erste Mal, dass sie Glück empfand oder wahre Liebe erlebte. Und eben weil sie ihn liebte, hielt sie Piayutuma weiter mit ihrem Zauber gefangen, obwohl sie wusste, dass es sie beide vernichten würde. Und als seine gebrechliche alte Mutter den Berg hinaufwanderte, um ihn zu suchen, traf Tamalpa sich mit ihr und hörte ihr zu, weil sie Piayutuma liebte.

Ich bin gekommen, um meinen Sohn zurückzufordern, sagte Piayutumas Mutter, und was hast du einer so großen Liebe wie meiner entgegenzusetzen?

Tamalpa wusste darauf keine Antwort. Sie erlaubte der Frau, die fast blind war, ihr Gesicht zu berühren, damit sie erkannte, wie schön sie war. Aber die Frau hatte Zweifel an der Schönheit von Tamalpas Seele. Das konnte Tamalpa verstehen. Sie wusste, dass ihre Seele böse war und dass sie Piayutuma durch einen bösen Zauber in ihrer Gewalt hatte. Also versprach sie, ihn freizugeben.

Am nächsten Tag schickte Tamalpa Piayutuma fort, was ihr das Herz brach, aber seines rettete. Doch Piayutuma begriff nicht, in welcher Gefahr er schwebte. Er war verliebt und weigerte sich, sie zu verlassen. Sie musste drastischere Maßnahmen ergreifen, um ihn vor ihr zu retten.

Am Morgen ihres Hochzeitstags stieg Tamalpa einen dunklen Pfad zu einem Berggipfel hinauf, wo eine schwarz blühende giftige Pflanze wuchs. Als sie wieder zurück war, mischte sie die Pflanze in das Hochzeitsmahl. Zur Essenszeit verschlang sie die vergiftete Mahlzeit sofort und verbot Piayutuma, auch nur einen Bissen zu sich zu nehmen. Sie sagte zu ihm: Lebwohl, ich habe keine Angst davor, allein zu gehen. Meine Füße werden den Weg der Sterne nachzeichnen, und eines fernen Tages wirst du mir folgen. Ich bin so müde. Lass mich lange, lange ruhen. Dann bedeckten drei Frauen ihren Leichnam mit einem purpurnen Mantel, und der Berg, der Mitleid mit ihr hatte, nahm ihre Form an. Wie ein Zauberer. Oder ein Geist.

In unserer Kindheit haben wir oft auf der Marsch im Bayfront Park gestanden und zum Mount Tamalpais hochgeschaut. Wenn wir die Augen zusammenkniffen, konnten wir die Nase, den Busen, die Taille und die Beine der Schlafenden Frau erkennen. Es war seltsam, dass wir sie SCHLAFEND nannten, wo doch alle wussten, dass sie tot war. Aber darüber hat in Mill Valley niemand geredet.

Der Berg war schön, aber man vergaß leicht, dass er schön war, wenn man ihn jeden Tag sah. Es war wie bei einem Poster, das man sich an die Wand hängt, weil es einem so gut gefällt, aber nach einer Weile sieht man es gar nicht mehr. Und wenn einen jemand fragt, wie es aussieht, muss man erst mal überlegen.

Der Berg war tiefgrün wie ein Edelstein. Manchmal legte sich Nebel um seine Schultern. Manchmal war der Himmel dahinter leuchtend blau.

 

Die kurvenreichste Bahnlinie der Welt

Nach den amerikanischen Ureinwohnern kamen die Rancheros: Spanier nahmen das Land und teilten es in Stücke. Das ist meins, das ist deins. Dann kamen die Iren und bauten eine Sägemühle in einem Mammutbaumwäldchen in der Innenstadt. Deshalb heißt unsere Stadt »Mill Valley«. Es ist ein ganz normal klingender Name.

Dann: Urlaub. Reiche Städter kamen mit der Fähre über die San Francisco Bay nach Mill Valley. In Sozialkunde haben wir einen Film darüber gesehen. Männer in schönen Anzügen und feine Damen mit großen Hüten, die wie Torten aussahen.

In Mill Valley stiegen sie in den Zug, der auf den Mount Tamalpais fuhr: »Die kurvenreichste Bahnlinie der Welt«. Der Berg ist 784 Meter hoch, mit 281 Kurven. Der Berg war so schön, dass die Leute es gar nicht fassen konnten!

Hier sind ein paar von den Dingen, die sie sahen:

  1. Wiesenhänge mit gelbgrünem Gras.

  2. Habichte, die seitlich abdrifteten wie Flugzeuge.

  3. Riesige Mammutbäume, die aus den Canyons ragten.

  4. So scharfe Kurven, dass es aussah, als würde der Zug gleich in den Canyon kippen und dann ewig fallen. Ohne je den Boden zu erreichen. Nur immer noch mehr grün angemaltes Dunkel.

  5. Aber dann, kurz vor dem Gipfel, lugte der Pazifik zwischen all den dicht gedrängten Eichen, Lorbeer- und Erdbeerbäumen hervor. Er zwinkerte. Und die Leute erkannten, dass sie nicht in den Abgrund stürzen und sterben würden. Sie würden nach ganz oben gelangen.

Ganz oben war die Tavern of Tamalpais. Dort tranken die Leute Bier und schauten über die Brüstung nach unten. Was sie sahen, gefiel ihnen. Alles war perfekt. Und dafür bezahlten sie.

Mill Valley war so schön, dass einige dieser Leute beschlossen, für immer hierzubleiben. Sie schrieben San Francisco ab. Bei dem Erdbeben 1906 stürzte dort ohnehin alles ein, weil die Häuser aus Lehm gebaut waren. Die feinen Leute wollten nicht, dass ihre Häuser über ihnen zusammenbrachen und ihre Familien umkamen.

Das Gute an Mill Valley war nämlich, dass dort nichts Schlimmes passieren würde. Dort wurden die Häuser aus Holz gebaut.

 

Hippies, Hippies, Hippies

Eine Weile ging das Leben in Mill Valley seinen normalen Gang. Und dann: Hippies, Hippies, Hippies. Auch die kamen aus San Francisco, und zwar als der Summer of Love vorbei war. Aber sie kamen über die Golden Gate Bridge, denn die gab es inzwischen. (Sie wurde 1933 erbaut und war 2737 Meter lang.) Sie hängten gebatikte Vorhänge in die Fenster ihrer Berghütten. Sie waren sehr umstritten. Einige von ihnen waren berühmt. Einige nahmen sogar Drogen.

1970 schrieb eine Grundschullehrerin mit langen dunklen Haaren und einem orangefarbenen Muumuu namens Rita Abrams ein Lied namens »Mill Valley«. Es war unser Erkennungssong. Er lief in ganz Amerika im Radio. Angeblich.

In unserer Kindheit haben wir bei Schulversammlungen »Mill Valley« gesungen. Das Lied ist wie ein Film, der fröhlich anfängt und dann auf eine Weise traurig aufhört, die man Außenstehenden nur schwer erklären kann.

Hier ist der Teil, in dem erklärt wird, dass und warum die Leute in Mill Valley immer fröhlich und nett sind:

Ich erzähl euch von ’ner Stadt, die mir am Herzen liegt (Mill Valley!)

’ner kleinen Stadt, wo man ganz frei lebt und vergnügt (Mill Valley!)

wo jeder gern ein Schwätzchen hält

dir lächelnd dies und das erzählt

und du kannst nett zu allen sein, wenn’s dir beliebt (Mill Valley!)

Hier gibt es Bäume, riesig und uralt

Und Bäche plätschern munter durch den Wald

Es ist, als fing das Leben hier erst wirklich an (Mill Valley!)

Ich rede von – Mill Valley, rede von – Mill Valley, hier bin ich daheim!

Und dann kommt der traurige Teil, in dem es darum geht, was passiert, wenn man in Mill Valley aufwächst und dann versucht, woanders hinzuziehen. Es ist seltsam, denn das Lied kriegt etwas richtig Drohendes. Was passiert, ist nämlich, dass diese Traurigkeit einen packt und dann auf immer und ewig an einem zieht und zerrt.

Ich weiß, es kommt die Zeit, da muss ich von hier fort (Mill Valley!)

Und die...

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