Winterdunkel - Erzählungen

Winterdunkel - Erzählungen

von: Åke Edwardson

Ullstein, 2017

ISBN: 9783843716086

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 2387 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Winterdunkel - Erzählungen



Eigentlich ist alles perfekt

Am Lucia-Abend klingelte das Telefon, es war noch nicht spät, aber die Kinder schliefen schon. Er kannte die Nummer nicht, meldete sich jedoch trotzdem.

»Ja? Hier ist Peter.«

»Peter! Christian hier!«

Name und Stimme kamen ihm bekannt vor, aber nur vage, wie eine Erinnerung, die sich fast in Luft aufgelöst hat.

»Christian Becker! Eine Stimme aus der Vergangenheit!«

»Becker!« Er hörte sein eigenes Ausrufezeichen. Die Erinnerungen kehrten zurück, unmittelbar wie ein Windstoß, nicht alle waren angenehm. Aber Becker war ein Freund gewesen.

»Ich hab was über dich gelesen«, sagte Christian.

»Dann hast du mehr gelesen als ich.«

»Haha, du bist berühmt, alter Freund.«

»Vorbei.«

»Wie meinst du das, Peter?«

»Es ist schon lange her, seit ich in den Medien war. Nicht, dass ich gerade darunter leide. Aber es ist lange her, seit ich etwas geschrieben habe, das Aufmerksamkeit erregt hat. Auch darunter leide ich nicht.«

»Unsinn, mein Freund. Du bist einer der größten Schriftsteller des Landes, und alle warten auf dein nächstes Buch.«

»Alle?«

»Haha, ja genau, alle. Wir warten alle! Wird Zeit, dass du’s rausbringst, Junge.«

»Vielleicht in meiner nächsten Inkarnation.«

Sie unterhielten sich noch eine Weile. Christian war enthusiastisch, und Peter versuchte, es auf das zu reduzieren, was es war: Schreibblockade und Schweigen. Vielleicht war es keine richtige Schreibblockade, morgens spürte er jedenfalls keine Sehnsucht nach seinem Schreibtisch. Früher hätte man ihn nicht einmal mit Gewalt davon vertreiben können. Jetzt verließ er den Schreibtisch schon am Vormittag, je eher, desto besser. Er hatte vorgeschlagen, dass die Kinder den ganzen Tag bei ihm zu Hause sein könnten, weil er ja ohnehin nicht schrieb. Das könnten sie sich eine Weile leisten. Irgendwann würde er wieder ein Buch schreiben, das Geld einbrachte. Er hatte keine Eile.

Dennoch war er traurig, als wäre etwas für immer in ihm abgestorben. Als wüsste er, dass es ihm nie mehr gelingen würde, eine Geschichte zu Ende zu erzählen.

»Dann sehen wir uns also Freitag«, hörte er Christian sagen. Sie hatten offenbar verabredet, sich zu treffen. Hier bei ihm zu Hause. Er fragte sich, was Elin dazu sagen würde.

»Muss das wirklich sein?«, sagte sie. »Mitten in den Weihnachtsvorbereitungen.«

»Es wird nicht länger als eine Stunde dauern.«

»Ihr hättet euch in einem Pub treffen können. Das ist eine bessere Idee, finde ich. Ich bin zu müde, um Gastgeberin zu spielen.«

»Das brauchst du nicht. Christian möchte einfach gern sehen, wie wir leben.«

»Und du konntest nicht nein sagen?«

»Nein.« Er lächelte. »Es ist schwer, Christian etwas abzuschlagen.«

»Wann habt ihr euch das letzte Mal gesehen?«

»Das ist … ungefähr fünfundzwanzig Jahre her. Dreißig Jahre.«

»Und du kannst ihm immer noch nichts abschlagen?«

»Ich hab bloß Spaß gemacht.«

»So klang das aber nicht.«

Um sieben klingelte Christian an der Haustür. Die Kinder waren noch auf. Sie rannten um die Wette zur Tür.

»Aber hallo, ihr Kleinen!«, sagte er und lachte.

Er hatte sich nicht verändert, überhaupt nicht. Peter konnte keinen Unterschied sehen zu den dreißig Jahren, aber vielleicht hatte er es vergessen. Christian sagte etwas, das er nicht verstand.

»Entschuldige, was hast du gesagt?«

»Du hast dich überhaupt nicht verändert, Peter.«

»Ach was. Komm rein und mach die Tür zu. Es ist kalt.«

»Ja, es ist sehr kalt für die Jahreszeit«, sagte Christian und schloss die Tür hinter sich.

»Es ist Winter«, sagte Elin. »Da muss es doch kalt sein.«

»Das ist meine Frau«, sagte Peter.

»Angenehm.« Christian streckte die Hand aus. Elin sah sie an und nahm sie, ohne zu lächeln. Peter dachte, sie könnte sich ruhig ein bisschen mehr Mühe geben, aber das tat sie nie. Sie verstellte sich nicht, in dieser Hinsicht war sie wie ein Kind.

»Ich bring jetzt die Kinder ins Bett«, sagte sie.

»Gute Nacht, Kinder«, sagte Christian.

»Ich komm später rauf und sag euch gute Nacht«, sagte Peter.

»Vielleicht komme ich mit.« Christian lächelte.

Sie saßen vorm Kaminfeuer. Der Kamin war eins der schönsten Details des Hauses, Peter konnte stundenlang davorsitzen, in die Flammen und die Glut schauen und von nichts träumen. Wenn er an nichts dachte, ging es ihm am besten. Wenn er schrieb, ging es ihm am schlechtesten, das hatte er begriffen. All diese Reisen zurück im Leben, um Stoff zu finden, ein endloser Highway 61 revisited, das war nicht gut für die Seele. Der Mensch ist nicht dafür geschaffen, zurückzuschauen, es galt, nach vorn zu schauen. Es spielt keine Rolle, woher man kommt, dachte er, sondern wohin man unterwegs ist und so weiter und so weiter. Das konnte er sich einreden und es dann vergessen, aber das große Glück war nicht gekommen, um zu bleiben. Und jetzt war Christian aufgetaucht, der die Vergangenheit überhaupt nicht verlassen zu haben schien. Fast jeden Satz begann er mit: »Erinnerst du dich …«

»Erinnerst du dich, wie der Rektor die Schulzeitung verboten hat?«, sagte er jetzt. »Und du hast sie trotzdem rausgebracht.«

»Ich war nicht allein.«

»Erinnerst du dich, wie der Hausmeister geholfen hat, sie zu drucken?«

»Klar erinnere ich mich.«

»Erinnerst du dich, dass du für jede Ausgabe eine Novelle geschrieben hast?«

»Jetzt hör auf, Christian.«

»Erinnerst du dich nicht?«

»Ich will mich nicht an jeden Scheiß erinnern, den man in der Jugend verzapft hat.«

Christian war plötzlich ernst. Er stellte das Whiskyglas, das er schon halbwegs zum Mund geführt hatte, wieder ab.

»Aber das hat dich doch zum Schriftsteller gemacht. Dass du dich erinnern und es später gestalten kannst. Das ist kein Scheiß, das ist alles andere als Scheiß. Du hast eine einzigartige Begabung, Peter. Nur einer von Millionen besitzt so eine Begabung. Du bist ein richtiger Schriftsteller. Manche nennen sich Schriftsteller, aber sie reichen nicht an deine Klasse heran. Man kann sie nicht einmal zu den Schriftstellern zählen. Sie sind bestenfalls Brotschreiber. Niemand erreicht deine Klasse, Peter.«

»Erzähl das mal den Ausschüssen für Stipendien.« Peter versuchte zu lachen, aber das Lachen blieb ihm im Hals stecken.

»Das werde ich bestimmt tun«, sagte Christian. Er lächelte immer noch nicht, es war, als würde er sein dummes Gerede ernst nehmen. »Gib mir ihre Adressen. Ich kümmre mich darum.«

»Das sollte nur ein Witz sein«, sagte Peter.

»Darüber macht man keine Witze«, sagte Christian. »Wir sprechen über deine Zukunft, Peter. Es geht um deine einzigartige Begabung.«

»Du sprichst darüber.«

»Du weißt, wie ich das meine. Das muss ein Ende haben.«

Christian saß jetzt sehr gerade im Sessel, als wollte er sich erheben und vielleicht gehen. Peter wäre es nur recht gewesen, er hatte keine Lust, das Gespräch fortzusetzen, es war kein Gespräch, sondern ein Monolog, der zu kippen drohte, als geilte Christian sich an dem auf, was er sagte, als glaubte er wirklich daran. In seinen Augen war ein Blitzen, etwas Fremdes.

Christian stand auf, ging zum Fenster und sah in den Winterabend hinaus, der mehr weiß als schwarz war. Der Schnee schien zum Himmel aufzusteigen, um die ganze Welt zu übernehmen. Heute Abend war der Himmel weiß und schwarz, so, wie alles sein sollte, so einfach wie möglich sollte alles sein.

Ihr Haus lag fernab am Ortsrand, alles, was man sehen konnte, gehörte zum Grundstück, und es war weiß und unschuldig wie ihre Kinder, dachte er. Heute hatten sie Engel im Schnee gemacht, wenn man wollte, konnte man ihre Abdrücke immer noch erkennen, die überfrieren würden und den ganzen langen Winter zu sehen wären. Vielleicht wird es sie immer geben, dachte er. Es war ein merkwürdiger Gedanke, als hätte er ihn nicht selbst gedacht.

»Eigentlich ist alles perfekt«, sagte Christian und schaute weiter hinaus in den stillen Abend.

»Wie meinst du das?«

Christian drehte sich um.

»Alles ist perfekt. Hier könntest du die perfektesten Voraussetzungen schaffen, Peter.«

»Voraussetzungen für was?«

»Dein Schreiben natürlich.« Christian machte eine Handbewegung, die das unterstreichen sollte. »Hier kannst du große Kunst schaffen.«

»Zum Teufel, nun hör auf.«

»Du verstehst es nicht, Peter. Du siehst nicht, was du haben könntest.«

Elin betrat das Zimmer.

»Sie möchten dir jetzt gute Nacht sagen«, sagte sie.

Sie sah, dass Christian am Fenster stand. Er hatte sich wieder dem Weißen und Schwarzen zugewandt. Es wirkte fast so, als ob Elin sie stören würde. Als würde sie sich aufdrängen.

»Ich geh zu ihnen«, sagte Peter und verließ das Zimmer.

Als er wieder herunterkam, spürte er immer noch die Wärme der schläfrigen Kinder. Er war selbst fast eingeschlafen, es wäre schön gewesen, einfach einzuschlafen und erst morgen wieder aufzuwachen.

Aber sie hatten einen Gast.

Er hörte Lachen aus dem Wohnzimmer. Es war Elin. Ihr Lachen machte ihn froh, es bedeutete, dass sie beschlossen hatte aufzubleiben, bis ihr Gast ging. Er würde ohnehin bald gehen.

»Christian hat gerade erzählt, wie man einen perfekten Martini...

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