Ein Baum wächst in Brooklyn - Roman

Ein Baum wächst in Brooklyn - Roman

von: Betty Smith

Insel Verlag, 2017

ISBN: 9783458747314

Sprache: Deutsch

621 Seiten, Download: 3566 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein Baum wächst in Brooklyn - Roman



2

Die Bücherei war klein, alt und schäbig. Francie fand sie wunderschön. In ihr fühlte sie sich ebenso wohl wie in der Kirche. Sie drückte die Tür auf und ging hinein. Sie mochte das Geruchsgemisch von abgewetzten Ledereinbänden, Bücherkleister und frisch betinteten Stempelkissen lieber als den Duft brennenden Weihrauchs beim Hochamt.

Francie glaubte, in der Bücherei seien alle Bücher der Welt, und ihr Plan war, alle Bücher der Welt auch zu lesen. Sie las ein Buch pro Tag in alphabetischer Reihenfolge und übersprang auch nicht die trockenen. Sie erinnerte sich, dass der erste Autor Abbott gewesen war. Sie hatte nun schon sehr lange ein Buch pro Tag gelesen und war noch immer bei B. Sie hatte schon über Bienen und Büffel gelesen, über Ferien auf den Bermudas und byzantinische Architektur. Bei aller Begeisterung musste sie jedoch zugeben, dass manche Bs schwierig waren. Aber Francie war eine Leserin. Sie las alles, was sie finden konnte : Schund, Klassiker, Fahrpläne und die Preisliste beim Lebensmittelhändler. Manches, was sie las, war wundervoll, beispielsweise die Bücher von Louisa Alcott. Sie plante, alle Bücher noch einmal zu lesen, wenn sie mit Z durch war.

Samstags war es anders. Da gönnte sie es sich, ein Buch außerhalb der alphabetischen Reihe zu lesen. An dem Tag bat sie die Bibliothekarin, ihr ein Buch zu empfehlen.

Nachdem Francie hereingekommen war und die Tür leise hinter sich geschlossen hatte – wie man es in einer Bücherei ja tun soll –, schaute sie rasch auf den kleinen goldbraunen Keramiktopf, der hinten auf dem Tisch der Bibliothekarin stand. Er zeigte die Jahreszeiten an. Im Herbst waren ein paar Zweige Bittersüß darin, zu Weihnachten Stechpalmenzweige. Sah sie Weidenkätzchen, wusste sie, dass der Frühling nahte, selbst wenn noch Schnee lag. Und heute, an dem Samstag im Sommer 1912, was stand da in dem Topf ? Langsam hob sie den Blick vorbei an den grünen Stielen und den runden Blättchen und sah … Kapuzinerkresse ! Rote, gelbe, goldene und elfenbeinweiße. Angesichts eines solch wundervollen Anblicks ergriff sie ein Kopfschmerz zwischen den Augen. Das wollte sie ihr ganzes Leben nicht vergessen.

»Wenn ich einmal groß bin«, dachte sie, »habe ich auch so einen braunen Krug, und im heißen August steht dann auch Kapuzinerkresse drin.«

Sie legte die Hand auf die Kante des polierten Tischs ; ihr gefiel, wie er sich anfühlte. Sie blickte auf die ordentlich ausgerichtete Reihe frisch gespitzter Bleistifte, das saubere grüne Viereck der Kladde, den dicken weißen Krug mit dem cremigen Klebstoff, den präzisen Kartenstapel und die zurückgegebenen Bücher, die darauf warteten, wieder einsortiert zu werden. Der erstaunliche Stift mit dem Datumsstempel als Spitze lag separat neben der Kladde.

»Ja, wenn ich groß bin und mein eigenes Haus habe, gibt’s keine Plüschsessel und Spitzenvorhänge. Und keine Gummipflanzen. Dann habe ich genau so einen Tresen im Salon und weiße Wände und jeden Samstagabend eine saubere grüne Kladde und eine Reihe glänzender gelber Bleistifte, die zum Schreiben immer gespitzt sind, und einen goldbraunen Topf, in dem immer eine Blume oder ein paar Blätter oder Beeren drin sind, und Bücher … Bücher … Bücher …«

Sie wählte sich ihr Buch für den Sonntag ; etwas von einem Autor namens Brown. Francie hatte das Gefühl, schon seit Monaten Browns zu lesen. Wenn sie glaubte, sie sei damit fast fertig, musste sie erkennen, dass das nächste Bord mit Browne anfing. Danach kam Browning. Sie stöhnte auf, da sie unbedingt weiter nach C wollte, wo ein Buch von Marie Corelli stand, in das sie schon einmal hineingeschaut hatte und das sie aufregend fand. Ob sie wohl jemals so weit kam ? Vielleicht sollte sie ja zwei Bücher täglich lesen. Vielleicht …

Sie stand lange an dem Tisch, bis die Bibliothekarin geruhte, sich ihr zuzuwenden.

»Ja ?«, fragte die Dame gereizt.

»Das Buch da, das will ich.« Francie schob ihr das Buch hin, hinten aufgeschlagen, das Kärtchen aus der Hülle gezogen. Die Bibliothekare hatten den Kindern beigebracht, ihnen die Bücher so vorzulegen. Das ersparte ihnen die Mühe, mehrere hundert Bücher täglich aufzuschlagen und mehrere hundert Kärtchen aus ebenso vielen Hüllen zu ziehen.

Die Bibliothekarin nahm die Karte, stempelte sie und steckte sie in einen Schlitz im Tisch. Dann stempelte sie Francies Karte und schob sie ihr hin. Francie nahm sie, ging aber nicht.

»Ja ?« Die Bibliothekarin blickte gar nicht erst auf.

»Könnten Sie ein gutes Buch für ein Mädchen empfehlen ?«

»Wie alt ?«

»Sie ist elf.«

Woche für Woche hatte Francie dieselbe Bitte, und Woche für Woche stellte die Bibliothekarin dieselbe Frage. Ein Name auf einer Karte war für sie ohne Bedeutung, und da sie dem Kind nie ins Gesicht schaute, lernte sie auch nicht das Mädchen kennen, das Tag für Tag ein Buch auslieh und samstags zwei. Ein Lächeln hätte Francie viel bedeutet, und ein freundliches Wort hätte sie sehr glücklich gemacht. Sie liebte die Bücherei und wollte die verantwortliche Dame unbedingt verehren. Doch die Bibliothekarin war mit anderen Dingen beschäftigt. Und Kinder mochte sie ohnehin nicht.

Francie zitterte erwartungsvoll, als die Frau unter den Tisch langte. Sie sah den Titel, als das Buch erschien : Wenn ich der König wär’! von McCarthy. Wunderbar ! Letzte Woche war es Beverly of Graustark gewesen und dasselbe auch zwei Wochen davor. Sie hatte das McCarthy-Buch erst zweimal gehabt. Die Bibliothekarin empfahl stets dieselben beiden Bücher. Vielleicht waren es ja die einzigen, die sie selbst gelesen hatte, vielleicht standen sie auf einer Empfehlungsliste, vielleicht hatte sie auch gemerkt, dass sie bei elfjährigen Mädchen ein todsicherer Tipp waren.

Francie drückte die Bücher fest an sich, als sie nach Hause lief ; sie widerstand der Versuchung, sich auf die erste Haustreppe zu setzen, an der sie vorbeikam, und mit dem Lesen anzufangen.

Endlich zu Hause, war nun die Zeit, auf die sie sich die ganze Woche schon gefreut hatte : Feuerleiterzeit. Sie legte einen kleinen Teppich auf den Treppenabsatz, holte das Kissen von ihrem Bett und lehnte es an die Stäbe. Zum Glück war Eis im Eisschrank. Sie hackte ein Stückchen davon ab und tat es in ein Glas Wasser. Die am Vormittag gekauften rosa-weißen Pfefferminzwaffeln wurden in einer kleinen Schale arrangiert, die zwar einen Sprung hatte, aber schön blau war. Glas, Schale und Buch reihte sie auf dem Fenstersims auf, dann stieg sie auf die Feuerleiter. Dort draußen lebte sie in einem Baum. Von oben, von unten oder von gegenüber konnte niemand sie sehen. Sie dagegen konnte durch das Laub hinausschauen und sah alles.

Es war ein sonniger Nachmittag. Ein träger warmer Wind brachte warmen Meergeruch mit. Das Laub des Baums zeichnete flüchtige Muster auf den weißen Kissenbezug. Niemand war im Hof, und das war schön. Für gewöhnlich war er von dem Jungen in Beschlag genommen, dessen Vater den Laden im Erdgeschoss gemietet hatte. Der Junge spielte ein nicht enden wollendes Friedhofsspiel. Er hob winzige Gräber aus, steckte lebende Raupen in Streichholzschachteln, begrub sie mit formloser Zeremonie und stellte kleine Kieselgrabsteine auf die winzigen Erdhügel. Das ganze Spiel wurde von falschen Schluchzern und tiefen Seufzern begleitet. Heute aber war der trübsinnige Junge zu Besuch bei einer Tante in Bensonhurst. Das Wissen, dass er weg war, war fast so gut wie ein Geburtstagsgeschenk.

Francie sog die warme Luft ein, betrachtete die tanzenden Laubschatten, aß die Waffeln und trank beim Lesen kleine Schlucke des gekühlten Wassers.

Wenn ich der König wär’,

Ach, wenn ich der König wär’ …

Die Geschichte von François Villons Abenteuern wurde mit jedem Lesen noch wundervoller. Manchmal hatte sie Angst, das Buch könnte in der Bücherei verloren gehen und sie könnte es dann nie mehr lesen. Einmal hatte sie angefangen, das Buch in ein Notizbuch für zwei Cent abzuschreiben. Sie hätte so gern ein Buch besessen, und sie hatte gedacht, mit dem Abschreiben könne es gehen. Doch die beschrifteten Seiten wirkten und rochen nicht wie das Büchereibuch, weshalb sie es aufgegeben und sich mit dem Schwur getröstet hatte, dass sie, wenn sie groß wäre, hart arbeiten, Geld sparen und dann wirklich jedes Buch, das ihr gefiele, kaufen würde.

Während sie las, im Frieden mit der Welt und glücklich, wie es nur ein kleines Mädchen ganz allein im Haus mit einem schönen Buch und einer kleinen Schale Süßigkeiten sein kann, wanderten die Laubschatten, und der Nachmittag verging. Gegen vier Uhr erwachten die Wohnungen in den Mietshäusern auf der anderen Seite von Francies Hof zum Leben. Sie schaute durch das Laub hindurch in die offenen, vorhanglosen Fenster und sah, wie Humpen eilends hinausgetragen und voll mit kühlem, überschäumenden Bier zurückgebracht wurden. Kinder rannten durch die Wohnungstüren hinaus, zum Fleischer, zum Lebensmittelladen und zum Bäcker und wieder hinein. Frauen kamen mit dicken Packen vom Pfandhaus. Der Sonntagsanzug des Mannes war wieder da. Am Montag wanderte er dann für eine weitere Woche ins Pfandhaus. Das florierte von den wöchentlichen Zinsen, und der Anzug profitierte davon, dass er gebürstet und in Kampfer aufgehängt wurde, wo die Motten nicht drankamen. Montag rein, Samstag raus. Zehn Cent Zinsen an Onkel Timmy. Das war der...

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