Zartbittertod

Zartbittertod

von: Elisabeth Herrmann

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2018

ISBN: 9783641172985

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 3186 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Zartbittertod



2.

Nie wurde es still in dem großen Haus. Mal knackte irgendwo das verzogene Holz einer Stiege, dann wieder schrie draußen ein Nachtvogel. Früher hatten ihn diese Geräusche gestört. Doch seit Wilhelm Herders Ohren langsam aber sicher ihren Dienst einstellten, vermisste er sie. Er lauschte. Aber entweder schliefen die Vögel und das Haus auch, oder er war auf dem besten Weg, völlig taub zu werden.

Mit einem leisen Seufzen setzte er den Füllfederhalter wieder an und schrieb die letzten Worte. Im Vollbesitz meiner körperlichen und geistigen Kräfte, Lüneburg, den

Na, das mit den körperlichen Kräften war heillos übertrieben. Er hoffte, dass sein Notar sie in Relation zu seinem Alter setzte: 93 Jahre. Fast ein Jahrhundertleben …

Er legte den Füller ab und lehnte sich zurück. Das Holz des alten Stuhls knarrte leise. Das konnte er hören, also war es tatsächlich sehr still um ihn herum geworden. Er liebte die späte Stunde. Alles schlief, die Welt da draußen schloss die Augen. Niemanden interessierte es, ob er um Mitternacht oder um vier Uhr morgens das Licht löschte. Keiner störte ihn. Er war mit sich allein, umgeben von Büchern und Erinnerungen.

Immer öfter glitten dann seine Gedanken zurück in frühere Zeiten. Zeiten, in denen das Haus und die Fabrik noch eine Einheit gewesen waren und die Eingangstür offen gestanden hatte für Mitarbeiter und Freunde. Die Abendgesellschaften waren groß und glanzvoll gewesen, und oft war er als kleiner Junge durch den Kellergang hinübergelaufen in die Manufaktur und hatte staunend vor den großen Maschinen gestanden, die ohrenbetäubend laut arbeiteten. Oder er hatte in die Kupferkessel mit dem brodelnden Zucker gelinst, bis der Meister ihn vertrieb. Da war das wuchtige Dreiwalzwerk, mit dem Zucker, Milchpulver und Kakao vermahlen wurden. Oder der Conchensaal, wo tagelang die dicke, glänzende Schokoladenmasse unter einer Granitwalze veredelt wurde. Rudolph Lindt hatte den Längsreiber erfunden, mit dem sie stundenlang bewegt wurde – dunkel, träge fließend und so betörend duftend, dass er bis heute den Geruch von Kakao weniger mit fremden, exotischen Ländern verband, sondern vielmehr mit der alten Halle. Der Nougat wurde mit dem Melangeur verarbeitet. Die Fondantmaschine machte aus Zucker eine halbelastische Masse, die anschließend in Förmchen gedrückt wurde. Kleine Osterhasen, Weihnachtsengel oder … Ja, sogar ein Nashorn war darunter gewesen.

Irgendwo standen die Aluminiumformen noch herum. Warum verwendete man sie nicht wieder? Die Leute liebten das. In Berlin arbeitete ein Konditor bis heute mit den Originalen aus den Zwanzigerjahren. Kleine Mäuse aus Schaumzucker mit schwarzen Knopfaugen, die noch mit Handarbeit aufgetupft wurden … Aseli hieß die Firma, er erinnerte sich an eine Messe in Breslau, wo er an der Hand des Vaters durch die Hallen gegangen war und sich sofort in diese Mäuse verliebt hatte (am liebsten hätte er ihnen allen die Schwänze abgebissen und die Äuglein weggeknuspert). Aber die Herders arbeiteten nicht mit Schaumzucker, sondern mit Schokolade. Der Pralinensaal – ein Paradies! Die Frauen hatten ihn rundgefüttert mit Walnussmarzipan und Nougat-Ganache und Buttersahnetrüffeln und Katzenzungen. Als seine Mutter dahintergekommen war, dass auch die eine oder andere Weinbrandbohne darunter gewesen war, hatte es ein Donnerwetter gegeben!

Noch heute konnte er das Lachen und Schwatzen der Frauen hören, die in Schürzen und mit Hauben auf dem Kopf garnierten, verzierten, die köstlichsten Pralinen mit Schokolade überzogen. Einen Raum weiter wurden sie in die Schachteln mit dem berühmten Herder-Schriftzug gepackt. »Rosengruß« hieß eine dieser Bonbonnieren. »Orchidee«, »Liebeslied«, »Wiener Walzer«.

Schokolade war in seiner Jugend eine frivole Verführung gewesen. In einer Zeit, in der die Sinnlichkeit am Knöchel endete, hatte der Gedanke an zart schmelzende, auf der Zunge zergehende Pralinen durchaus etwas Zweideutiges gehabt. Vor allem wenn die Pralinenschachtel von einem schneidigen jungen Mann überreicht wurde, wie er einer gewesen war …

Und dann waren die Braunhemden gekommen. Die Fackelzüge. Die Aufmärsche. Alles wurde zertreten von ihren Stiefeln, und ein Mädchen, das er sehr geliebt hatte, verschwand und kam nie wieder. Dieser entsetzliche Krieg! Das Leid. Die Schuld. Die Bomben. Die Bomben! Seltsamerweise hatten sie das Werk verschont. Ob die Tommies gewusst hatten, dass die Herders in ihrer altmodischen kleinen Fabrik nur Kanonenkugeln aus Schokolade herstellten? Dann der Untergang. Die Not. Es gab schon lange keine Rohstoffe mehr. Erbsenmehl, Braumalz und Haferflocken, dazu gehärtetes Pflanzenfett, mach mal einer Schokolade aus diesen Zutaten! Erst 1949 kam wieder Rohkakao in Bremen an und wurde unter allen Schokoladenherstellern aufgeteilt. Von da an ging’s bergauf. Noch bis in die Achtzigerjahre hatten sie dort produziert. Dann, auf einmal, war Schluss damit.

Da hatte sein Sohn das Zepter übernommen. Aus der alten Halle aus Glas, Eisen und Ziegelstein hatte er ein Gästehaus gemacht und die Herder-Werke produzierten am Rande der Stadt in einer modernen Fabrik. In der Garage standen vier Autos, dazu noch irgendwo zwei Oldtimer. Es gab ein Ferienhaus in der Schweiz und moderne Kunst im Esszimmer, die seine Schwiegertochter Gabi in Basel oder Miami auf irgendwelchen Kunstmessen aufgeschwatzt bekam. Wann hatte das angefangen, dass der Reichtum eine so große Rolle in der Familie spielte? Mit Wolfgang, das musste er widerwillig zugeben. In den Achtzigerjahren war das gewesen, als Wilhelm gemerkt hatte, dass er langsam den Anschluss verlor an das, was sich Globalisierung, Arbeitsmarktprozesse und Kosten-Nutzen-Optimierung nannte. Der Firma war es gut gegangen, den Mitarbeitern auch. Herder-Schokolade galt etwas. Man verschenkte die großen Pralinenschachteln zu besonderen Anlässen, und an den Läden in Lüneburg, Hannover und Hamburg drückten sich die Steppkes die Nasen platt, wenn sie zu Weihnachten und Ostern die Schaufenster mit den Meisterwerken aus der Fabrikation dekorierten. Mit Wolfgang aber hatte eine Veränderung begonnen. Die Herders hatte sie reich gemacht. Immer noch ein paar Cent mehr für den Sack Kakao herauspressen. Immer höhere Produktionsleistungen. Dann die billigeren Zutaten, die nicht ganz so teuren Nüsse und Öle.

»Wir müssen weg von diesem Manufaktur-Image«, hatte Wolfgang erklärt. »So kommen wir nicht in die Discounter rein!«

Discounter … Noch so ein Wort, das Wilhelm fremd geblieben war. Er hatte begriffen, dass die Leute kein Geld für Qualität mehr ausgeben wollten. Dass es ihnen auf Masse ankam und Wolfgang lieferte sie ihnen. Eine Tafel Schokolade für 29 Pfennige. Als Wilhelm sie zum ersten Mal probierte, hätte er sie um ein Haar wieder ausgespuckt. Um auf den gleichen Gewinn zu kommen, mussten sie nun das Fünffache verkaufen. Und siehe da – es gelang!

»Es ist der Preis, Papa. Die Leute schauen nur auf den Preis. Es ist ihnen egal, wo die Rohstoffe herkommen.«

Und ihm, ja, ihm war es irgendwann auch egal gewesen. Seine liebe Reinhild wurde krank. Immer kränker, immer schmaler wurde sie. Ihre letzten gemeinsamen Jahre wollte er nicht mit den Umstrukturierungen der Firma belasten. Wolfgang machte es doch gut, oder? Die kleinen Läden verschwanden, die Fabrikhalle hinter dem Haus wurde geräumt. Das neue Werk entstand. Die Produktion lief wie geschmiert. Und dann kamen die Skandale. Kinderarbeit auf den Plantagen. Verseuchtes Milchpulver aus China. Krebserregendes Mineralöl in den Verpackungen. Wolfgang gelang es immer irgendwie, sich herauszuwinden. Aber als man ihm mit dem Vanille-Betrug auf die Schliche kam – künstliche statt natürliche –, verlor er den Prozess. Weitere folgten. Geschmack und Duft kamen nicht mehr von den verarbeiteten Produkten, sondern von Firmen, die Aromastoffe herstellten. Da hatte Wilhelm seine Reinhild schon lange begraben und sich völlig zurückgezogen.

Immerhin – seit ein paar Jahren war die Sehnsucht nach dem Echten, Unverfälschten wieder erwacht. Wolfgang eröffnete die »Herder Manufactur«-Läden: Geschäfte, in denen das Personal altmodische Schürzen trug und die Kunststoffregale auf Holz getrimmt worden waren. Verkauft wurde im Großen und Ganzen dasselbe Sortiment: Schokolade, Gebäck, Pralinen aus der Massenproduktion. Dafür aber einzeln angeboten und in knisternde Papiertüten oder Kartons verpackt. Augenwischerei, hatte Wilhelm gedacht, als er vor Jahren zum letzten Mal in Bremen eines der Geschäfte von außen betrachtet hatte. Warum geben die Leute dafür nun mehr Geld aus? Weil ihnen die Illusion von etwas Handgemachtem verkauft wird? Er war die Fußgängerzone hinuntergelaufen, die er kaum noch wiedererkannt hatte, und hatte sich in eines dieser neuen Cafés gesetzt, die so gemütlich waren wie das Nagelbrett eines Fakirs. In seinem Kakao ertrank ein Berg Sprühsahne, verunziert mit zäher, künstlicher Karamellsoße. Wilhelm hatte den Becher stehen gelassen. Das war keine heiße Schokolade. Das war … Chemie, Stickstoff, Zucker. Eine blassrosa, kränklich aussehende Brühe. Warum kauften die Leute so etwas? Kannten sie denn nicht mehr den Geschmack des Echten?

Er schreckte auf. Was war das? Er lauschte. Nichts. Sein Besucher war schon lange gegangen, die Haustür war abgeschlossen. Langsam sank er wieder zurück. Wenn man den Gedanken einmal freien Lauf ließ … Die beiden Kartons standen auf dem Tisch. Ihr Inhalt war seit einem halben Jahrhundert nicht mehr durchgesehen worden. Ein Glück, dass er sie aufgehoben hatte. Oben, auf dem Dachboden, in der Kiste, die außer ihm niemand mehr öffnete. Irgendwo musste es sein, das alte Tagebuch, das plötzlich so wichtig geworden war. Aber wo? In...

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