Der Neue - Roman

Der Neue - Roman

von: Tracy Chevalier

Knaus, 2018

ISBN: 9783641161446

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 3432 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Neue - Roman



Dee sah ihn als Erste und war glücklich darüber. Es gab ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein: ihn ein paar Sekunden lang ganz für sich zu haben, bis auch die Herzen der anderen einen Schlag aussetzten und sich an diesem Tag nicht mehr davon erholten.

Auf dem Schulhof war vor dem Unterricht einiges los. Viele Kinder waren früh gekommen, um vor dem Klingeln noch Himmel und Hölle oder Kickball zu spielen. Dee war allerdings nicht früh dran – ihre Mutter hatte sie wieder hochgeschickt. Sie sollte sich ein weniger enges Oberteil anziehen, weil sie sich angeblich mit Eigelb bekleckert hatte, dabei war von Eigelb nichts zu sehen. Deshalb hatte Dee so schnell rennen müssen, dass ihr die geflochtenen Zöpfe gegen den Rücken schlugen. Erst, als sie den Strom von Kindern sah, die in dieselbe Richtung gingen, wusste sie, dass sie noch genug Zeit hatte. Eine Minute vor dem ersten Klingeln hatte sie den Schulhof erreicht.

Weil es zu spät war, um ihre beste Freundin Mimi zu begrüßen, die mit den anderen Mädchen seilsprang, ging Dee gleich weiter zum Eingang des Schulgebäudes. Mr Brabant und die Lehrerin der anderen sechsten Klasse warteten schon darauf, dass die Schüler sich aufstellten. Dank seines kurzen, kantigen Haarschnitts hatte Mr Brabant einen quadratischen Kopf und dazu eine stramme Haltung. Anscheinend hatte er in Vietnam gekämpft. Dee war zwar nicht die Klassenbeste – das durfte die brave Patty für sich beanspruchen –, doch sie gab sich Mühe, Mr Brabant jederzeit zu gefallen, auch wenn sie wusste, dass sie deshalb hin und wieder als Streberin galt.

Dee war die Erste, die sich aufstellte. Sie drehte sich zu den Mädchen um, die gar nicht daran dachten, mit dem Seilspringen aufzuhören. Und in diesem Moment sah sie ihn, seine reglose Gestalt am Karussell, auf dem sich vier Jungen – Ian, Rod und zwei Viertklässler – rasant im Kreis drehten. Dee war sich sicher, dass jeden Moment einer der Lehrer einschreiten würde. Einmal war ein Junge herausgeschleudert worden und hatte sich den Arm gebrochen. Die beiden Viertklässler schienen Angst zu haben, konnten das Karussell aber nicht stoppen, weil Ian es mit routinierten Fußtritten kräftig antrieb.

Der Junge, der in der Nähe des wild kreiselnden Karussells stand, war nicht so gekleidet wie die anderen in ihren Jeans, T-Shirts und Turnschuhen. Er trug eine graue Schlaghose, ein weißes, kurzärmeliges Hemd und dazu schwarze Schuhe; wie die Uniform einer Privatschule. Mehr noch stach aber seine Hautfarbe hervor: Sie erinnerte Dee an die Bären, die sie vor einigen Monaten bei einem Schulausflug im Zoo gesehen hatte. Sie hießen zwar Schwarzbären, doch ihr Fell war eigentlich dunkelbraun mit röt­lichen Spitzen. In erster Linie hatten sie geschlafen oder die Futterberge beschnüffelt, die ihnen der Wärter ins Gehege kippte. Erst, als Rod einen Stock nach den Tieren warf, um Dee damit zu imponieren, hatte ein Bär gebrummt und die gelben Zähne gefletscht, worauf die Kinder anfingen zu kreischen. Nicht so Dee: Sie hatte Rod nur einen wütenden Blick zugeworfen und sich abgewandt.

Der Neue schaute nicht zum Karussell, sondern betrachtete das L-förmige Gebäude, Prototyp einer vorstädtischen Schule, vor acht Jahren erbaut, zwei fantasielos aneinandergeklebte Schuhkartons aus rotem Backstein. In Dees erstem Jahr roch hier noch alles nach Neubau, doch inzwischen hatte das Gebäude etwas von einem abgetragenen Kleid, mit seinen Flecken, Rissen und den Spuren des ausgelassenen Saums. Sie kannte jedes Klassenzimmer, jeden Treppenaufgang, jedes Geländer, jede Toilette. Sie kannte jeden Quadratzentimeter Schulhof wie auch den Schulhof der Kleinen auf der anderen Seite des Gebäudes. Sie war von den Schaukeln gefallen, hatte sich auf der Rutsche die Strumpfhose zerrissen, hatte oben auf dem Klettergerüst festgesessen, weil die Angst vor dem Herunterklettern plötzlich zu groß war. Und einmal hatte sie den halben Schulhof zur Mädchenzone erklärt: Gemeinsam mit Mimi, Blanca und Jennifer hatte sie alle Jungen davongejagt, die es wagten, die Grenze zu überschreiten. Mit anderen hatte sie sich hinter der Turnhalle versteckt, wo die Pausenaufsicht sie nicht sehen konnte, um dort Lippenstift auszuprobieren, Comics zu lesen oder Flaschendrehen zu spielen. Auf dem Schulhof hatte sich ihr Leben abgespielt, hier hatte sie gelacht und geweint, sich verknallt, Freundschaften geschlossen und sich nur wenige Feinde gemacht. Dies war ihre vertraute Welt. Doch in einem Monat würde sie alles hinter sich lassen und auf die Junior High gehen.

Und nun hatte ein Neuer das Terrain betreten, jemand, der so anders war, dass auch Dee ihre Welt plötzlich mit anderen Augen sah: Auf einmal kam sie ihr schäbig vor, und sie fühlte sich fremd darin. So fremd wie er.

Inzwischen hatte er sich in Bewegung gesetzt. Nicht wie ein Bär, nicht dieser tapsige, schwerfällige Gang. Eher wie ein Wolf oder – Dee versuchte, an dunkle Tiere zu denken – wie ein Panther oder eine schwarze, überdimensionale Hauskatze. Was auch immer er in diesem Moment dachte (wahrscheinlich, dass er auf einem von weißen Menschen wimmelnden Schulhof der einzige Schwarze und der einzige Neue war), als er auf die an der Tür zum Schulgebäude wartenden Lehrer zuschlenderte, strahlte er das Selbstbewusstsein eines Menschen aus, der seinen Körper kennt und sich darin wohlfühlt. Dee spürte ein Ziehen in der Brust. Sie holte Luft.

»Oha«, bemerkte Mr Brabant. »Mir ist so, als hörte ich Trommeln.«

Miss Lode, die andere Lehrerin, kicherte. »Was hat Mrs Duke gesagt, wo kommt er her?«

»Guinea, glaube ich. Oder war’s Nigeria? Jedenfalls Afrika.«

»Er ist doch in Ihrer Klasse, nicht wahr? Ist mir auch lieber so.« Miss Lode strich ihren Rock glatt und betastete ihre Ohrringe, als müsste sie sich vergewissern, dass sie noch da waren. Eine nervöse Angewohnheit. Bis auf ihren blonden, zerzausten Bubikopf pflegte sie ein adrettes Äußeres. Heute trug sie einen lindgrünen Rock, eine gelbe Bluse und grüne, scheibenförmige Ohrclips. Auch ihre Schuhe waren grün, mit niedrigen viereckigen Absätzen. Dee und ihre Freundinnen ließen sich oft über Miss Lodes Garderobe aus. Sie war zwar eine sehr junge Lehrerin, doch ihre Kleidung unterschied sich komplett von den weißen und rosa T-Shirts und den blumenbestickten Jeans-Schlaghosen ihrer Schülerinnen.

Mr Brabant zuckte die Achseln. »Ich rechne nicht mit Problemen.«

»Nein, natürlich nicht.« Miss Lode hielt ihre großen blauen Augen fest auf den Kollegen gerichtet, um jedes seiner klugen Worte aufzusaugen und so eine bessere Lehrerin zu werden. »Meinen Sie, wir sollten … also … vielleicht … mit den anderen Schülern sprechen? Darüber … ich weiß auch nicht … dass er anders ist? Sie ermuntern, ihn freundlich aufzunehmen?«

Mr Brabant schnaubte. »Jetzt ziehen Sie mal Ihre Samthandschuhe aus, Diane. Der braucht keine Sonderbehandlung, bloß weil er schw… neu hier ist.«

»Nein, aber … ich dachte nur … Ja, natürlich.« Miss Lodes Augen glänzten feucht. Mimi hatte Dee erzählt, dass ihre Lehrerin schon ein oder zwei Mal vor der Klasse in Tränen ausgebrochen war. Hinter ihrem Rücken bezeichneten die Schüler Miss Lode als Heulsuse.

Mr Brabants Blick blieb plötzlich an Dee hängen, die vor ihm wartete. »Geh mal rüber und trommel die Mädchen zusammen.« Er deutete auf die Seilspringerinnen. »Sag ihnen, dass ich ihnen die Seile wegnehme, wenn sie nicht sofort aufhören.«

Als einer der wenigen Männer im Kollegium war er für Dee ganz eindeutig jemand, dem man zu gehorchen hatte und den man, wenn es irgendwie ging, zu beeindrucken versuchte – genauso wie ihren Vater, dem sie es gern recht machte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.

Rasch ging sie über den Schulhof; die hüpfenden Mädchen bevorzugten die sport­lichere Variante und benutzten zwei dicke Springseile gleichzeitig, die mit einem satten Geräusch auf den Betonboden schlugen; dazu sangen sie. Dee zögerte, weil Blanca gerade mit Springen an der Reihe war. Blanca war mit Abstand die beste Springerin der Schule, sie war so gut, dass sie minutenlang zwischen den beiden gegenläufig rotierenden Seilen hüpfen konnte, ohne einen Fehler zu machen. Bei ihr sangen die Mädchen am liebsten Lieder, die möglichst schnell darauf hinausliefen, dass Blanca eine andere Springerin zu sich rufen oder das Feld räumen musste. Während Blanca natürlich am liebsten so lange wie möglich und am allerliebsten allein sprang; an diesem Morgen hatte sie die anderen dazu gebracht, hierfür das passende Lied zu singen:

Götterspeise, Kinderbier,

Wer ist dein Liebster, sag es mir!

Ist es A, B, C, D …

Wenn die Springerin das ganze Alphabet schaffte, ohne hängen zu bleiben, ging es weiter mit den Zahlen bis zwanzig, dann kamen die Lieblingsfarben. Blanca war bereits bei den Farben angelangt und mit ihren langen, schwarzen Locken wunderbar leichtfüßig, obwohl sie Plateausandalen trug. Dee konnte in solchen Schuhen nicht springen; sie trug lieber ihre weißen Chucks, die sie so sauber wie möglich hielt.

Sie ging zu Mimi, die auf einer Seite die Seile drehte.

»Wir sind jetzt schon zum zweiten Mal bei den Farben«, murrte die Freundin leise. »Angeberin.«

»Mr B sagt, er nimmt euch die Seile weg, wenn ihr nicht sofort aufhört.«

»Gut.« Abrupt ließ Mimi die Arme sinken, und schon hingen ihre Seile schlaff auf den Boden, während das andere Mädchen noch ein paar Sekunden weitermachte. Blanca verhedderte sich.

»Warum hörst du einfach auf?«,...

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