Das schwarze Herz des Verbrechens - Roman

Das schwarze Herz des Verbrechens - Roman

von: Marcelo Figueras

Nagel & Kimche, 2018

ISBN: 9783312010707

Sprache: Deutsch

464 Seiten, Download: 1742 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das schwarze Herz des Verbrechens - Roman



 

 

EINS

 

Der Hund, der vom Mann gebissen wurde

 

 

1.

 

Ende 1956 war Buenos Aires Opfer einer glühenden Hitzewelle. Die Stadt war zu der Zeit schon ein Leviathan, ein Moloch, ähnlich dem Ungeheuer, das Jahwe während der Genesis einen ganzen Tag in Atem gehalten hatte.

Mit jedem Sonnenaufgang schien die Stadt näher am Äquator und immer weiter von dem kalten, schmutzigen Fluss entfernt zu liegen, der seit ihrer Gründung ihre Ausläufer umspülte.

Hauswände und Straßen speicherten die Wärme. Durch die Hochhäuser konnte die Luft nicht zirkulieren. Die Wasserhähne spuckten nur noch lauwarme Brühe aus. Die Motoren der Autos glühten. Wenn ein paar Tropfen Regen fielen und auf den Stein träfen, wäre die Luftfeuchtigkeit nicht mehr auszuhalten.

Doch Regen war noch lange nicht in Sicht. Unterdessen waren die Gebäude im Zentrum – Erben der Altstadt, zwischen dem Bajo und der 9 de Julio – eine Zweigstelle der Hölle, nur ebenerdig.

 

 

2.

 

In den Verlagshäusern war die Hitze am schlimmsten. Täglich entbrannte in den Räumen über der Avenida de Mayo ein zäher Kampf um die Ventilatoren und ihre Ausrichtung.

Gregorio positionierte seinen General Electric so, dass der Luftstrom die Seiten nicht durcheinanderwirbelte, an denen er gerade arbeitete. (An dem Nachmittag lag auf seinem Schreibtisch ein bunter Stapel mit Werken von Faulkner, Alberdi, Holmberg, Leguizamón und George Musters in unterschiedlichen Phasen des Editionsprozesses: Larve, Puppe oder Schmetterling.) Doch aus diesem Winkel blies der Ventilator den kühlen Wind zu Horacios Tisch hinüber und wirbelte die Reproduktionen von Cézanne auf. Also drehte Horacio – der zu dem Zeitpunkt schon alle verbalen Möglichkeiten der Einflussnahme ausgeschöpft hatte – seinen Westinghouse so, dass er der von Gregorio erzeugten Windböe Paroli bot. Dabei hätten sowohl Gregorio als auch Horacio die sinnlos vergeudete künstliche Brise dringend benötigt, um la Hitze zu überleben. So aber landeten die aus dem Streit entstandenen Luftmassen bei Enriqueta. Und es ging aus der Schlacht diejenige siegreich hervor, die sich aus allen Scharmützeln heraushielt.

Wie ihre männlichen Kollegen ging auch Enriqueta einer geistigen Tätigkeit nach. Sie studierte gerade den Brief einer Leserin, die die Übersetzung eines Verbs in ihrer Übertragung des Rolandslieds kritisierte. (Man könne esclargier nicht im Sinne von apaiser übersetzen, man müsse bei allem, was mit la granz ire von Karl dem Großen zu tun hat, vorsichtig sein.) Doch im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen war sie durchaus in der Lage, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, ohne alles andere auszublenden.

Sie war strikt pragmatisch. Sie betrachtete die kleinen Probleme des Alltags nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung für ihre Intelligenz. Auf diese Weise sparte sie Zeit und Spucke: Sie hatte den Brief mit Büroklammern an einem Heft befestigt; so war er vor den Windstößen geschützt. Immer wieder bot sie ihre Hilfe an, in dem Wissen, dass ihre Kollegen sie ablehnen würden. Der Mann müsste erst noch geboren werden, der nicht alles in eine Grundsatzdiskussion münden ließ.

Rs Erscheinen hatte sie irritiert. Plötzlich war er am Ende der Treppe aufgetaucht. Wenn jemand an einem solchen Tag den Aufzug scheute wie der Teufel das Weihwasser, musste er den Verstand verloren haben. R war natürlich nicht immun gegen die Hitze: Er trug das Jackett in der Hand, war knallrot, und das Hemd hatte Schweißflecken unter den Achseln.

Die Art, wie er sich zwischen den Schreibtischen bewegte, sagte einiges aus. Er war in Eile oder zumindest angespannt. Ohne ein Wort des Grußes sah er sich um. Als er nicht fand, was er suchte, begab er sich in die Umlaufbahn des nächstgelegenen Gestirns.

«Gibt es irgendwo eine Schreibmaschine?»

«Nimm meine», sagte Gregorio.

R warf seine Aktentasche auf die Underwood und begann den Tisch wegzuschieben. Die quietschenden Rollen übertönten mit ihrem Ostinato die Ventilatoren. Das ließ erst nach, als die Wand ihn ausbremste.

Dort schlug er in einer Ecke sein Lager auf. Er besorgte sich einen Stapel Papier, holte eine Mappe heraus, spannte zwei durch Kohlepapier getrennte Seiten ein und begann zu schreiben.

Und sich zu vertippen.

Den ersten Fehler strich er wütend aus. Das Geratter der Maschine war ein eindeutiges Indiz: Solch eine Musik entsteht nur, wenn der Schreibende unterstreicht – und R hatte es zu eilig, um einen Gedanken auf das Erscheinungsbild des Textes zu verschwenden – oder wenn er durch Aneinanderreihung des Buchstabens X einen barmherzigen Schleier über das Missglückte legt.

Beim zweiten Fehler verkniff er sich das Fluchen und ersuchte ein anderes Gestirn um Beistand.

«He, Horacio – Korrektur?»

Horacio, ebenso ein Anhänger sprachlicher Ökonomie, griff in die Schublade und warf ihm ein Fläschchen zu. R fing es in der Luft.

Männer mögen unpraktisch sein, aber werfen und fangen können sie, dachte Enriqueta.

Beim ersten Pinselstrich war R noch sparsam. Beim nächsten Fehler sah das schon anders aus; Enriqueta beobachtete, wie er sich mit einer Geste, die zu van Gogh gepasst hätte, über seine Leinwand hermachte. Sie dachte an den Durchschlag: Wenn R das Original allzu stark übermalte, wäre das zweite Blatt vollkommen unleserlich.

Eine Minute später hatten sich die Hämmerchen verhakt, weil er drei Buchstaben gleichzeitig heruntergedrückt hatte. Der Fluch, eine Anspielung auf das weibliche Geschlecht, war laut und deutlich zu hören.

Enriqueta zögerte. Sie kannte R schon eine Weile, aber sie hatten sich beide davor gehütet, ihren rapport zu vertiefen. Ihre Beziehung zu ihm war wie die zu Greg und Horacio: professionell und belanglos. Doch von den dreien war R der Einzige, der nicht gleich nervös wurde, wenn sie ihnen in manchen Situationen etwas voraushatte. Das gab den Ausschlag. Sie legte den Leserbrief beiseite, stand auf und ging auf ihn zu.

«Guten Tag», sagte sie. Grundsätzlich wusste sie es zu schätzen, wenn sich jemand jede Form von Galanterie sparte, es gefiel ihr, dass R sie «wie einen der Jungs» behandelte. Doch jetzt ging es darum, die Karten neu zu mischen. «Kann ich Ihnen behilflich sein?»

R sah sie an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Er deutete auf die Mappe auf dem Schreibtisch und sagte: «Sie werden meine Schrift nicht lesen können.»

«Dann diktieren Sies mir eben.»

«Ich will Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten.»

«Ich hab den Roland satt. Ich brauche mal eine Auszeit.»

«Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Freund haben.»

«Einen Freund? Ich? Wer hat Ihnen gesagt …»

R machte sich über sie lustig. Jetzt war es Enriqueta, die innerlich fluchte: Rot zu werden war wirklich das Letzte, was sie wollte; jetzt stand sie da wie ein alberner Backfisch. Reflexartig griff sie nach der Mappe. Sie wollte sich selbst überzeugen, ob seine Schrift so krakelig war, wie R behauptete, und nebenbei herausfinden, was das für ein Text war, der ihn derart quälte.

Rs Hand fegte ihre einfach weg. Es tat nicht weh, aber sie war verdattert: Unversehens war die Mappe zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgekehrt, der sie an seine Brust drückte.

Betretenes Schweigen. Unvermittelt stand R auf und überließ ihr den Stuhl, nicht aber die Mappe.

Enriqueta überlegte, ob sie auf dem Absatz kehrtmachen und zu ihrem Platz zurückkehren sollte. In den nächsten Jahren würde sie sich unzählige Male fragen, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie diesem Impuls nachgegeben hätte.

Doch sie setzte sich.

Sie schob die Beine zusammen, setzte sich gerade hin, legte die Finger auf die Tastatur und las die letzten Zeilen, die R getippt hatte.

Die Kugel war durch die Wange in Höhe des linken Nasenflügels eingetreten und am Kiefer wieder ausgetrete

Rs letzter Anschlag hatte das n verfehlt und stattdessen einen anderen Buchstaben getroffen, den er unter einem Korrekturklecks begraben hatte.

«Eine neue Geschichte von Daniel Hernández?», fragte Enriqueta. Hernández war der Protagonist der Erzählungen, für die R den Preis erhalten hatte. Sie dachte, er habe plötzlich einen Einfall gehabt, den er umgehend zu Papier bringen wollte. Besser spät als nie, im Verlag war man es schon leid, ihn nach einem neuen Buch zu fragen.

Anstelle einer Antwort blickte R zum anderen Ende des Raums, wo Gregorio und Horacio sich wieder an ihren Ventilatoren zu schaffen machten. Er fuhr sich mit den Fingern über die Mundwinkel, legte die andere Hand auf die Rücklehne von Enriquetas Stuhl und sagte wie ein Pirat, der eine geheime Karte entdeckt hat: «Ich glaube, ich habe den Hund gefunden, der vom Mann gebissen wurde.»

 

 

3.

 

Die Formulierung verwunderte Enriqueta nicht weiter. Es war ein geflügeltes Wort in Journalistenkreisen. Eine ironische Umschreibung für außergewöhnliche Geschichten, echte Knüller. Das Rätsel um den Text war gelöst: Was sie in die Maschine tippen würde, war keine erfundene Geschichte.

«Oh, das freut mich», erwiderte sie. «Jetzt bleibt Ihnen nichts anderes...

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