Dunkelgrün fast schwarz

Dunkelgrün fast schwarz

von: Mareike Fallwickl

Frankfurter Verlagsanstalt, 2018

ISBN: 9783627022587

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 539 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Dunkelgrün fast schwarz



1986

Ich hatte vergessen, dass es die Sterne gibt. Ich stehe am Fenster und frage mich, wann ich sie zuletzt so deutlich gesehen habe, die Sterne, die in der Großstadt hinter den grellen Lichtern verblassen, und ich weiß es nicht. Mit dreizehn vielleicht, in meinem letzten Sommer bei Tante Grete auf dem Land, als ich in der Wiese gelegen bin hinter dem Hof, den Kopf voller Gedanken, die längst verjährt sind. In Wien habe ich die Sterne nicht beachtet, Wien leuchtet selbst viel zu hell, ich habe sie erahnen können in manchen Nächten, aus dem Augenwinkel, aber ich habe ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt sind sie da. Und sie sind näher als je zuvor. Ich staune, auf eine kindliche Art, ich spüre dieses Wundern in der Brust, ein Ziehen, ein Drängen. Der Sternenhimmel senkt sich herab auf mich, hüllt mich ein, macht mich schwindlig und leer, es fühlt sich gut an. Ich bin winzig im Vergleich zu dieser düsteren, mit Lichtfunken durchschossenen Unendlichkeit, durch Zufall an diesen Platz im Universum geschleudert. Ich habe keine Konturen, keinen Anfang, kein Ende. Es ist, als wäre ich verschmolzen mit der Dunkelheit, als zögen die Sterne mich zu sich, wo ich eigentlich hingehöre.

In diesem Moment taucht eine Erinnerung in mir auf. Ich sitze auf dem Schoß meines Vaters, auf seinem Schaukelstuhl in der Ecke, und er erzählt mir etwas über Sternbilder, über Leo Minor, den Kleinen Löwen, und über Bootes, den Bärenhüter, er zeigt mir ihre Formen in einem dicken Atlas mit ledernem Einband und hellbraunen Seiten, ihre Farbe erinnert mich an den Milchkaffee, den er morgens trinkt. Er trägt einen kratzigen Wollpullover und umfängt mich mit seinen Armen, er tippt mit den Fingern auf die Bilder im Buch über Planetenkunde, ich bin hellwach und eingeschüchtert. Mehr als diese Namen fällt mir nicht mehr ein, und wenn ich jetzt am Himmel nach diesen Sterntieren suche, finde ich sie nicht. Es muss ein besonderer Moment gewesen sein, denn ich saß nicht oft bei meinem Vater, der meist vergraben war in seinen Büchern, und zwar allein. Zu diesen Büchern hatte ich keinen Zugang, zu ihm genauso wenig. Schmal waren seine Oberschenkel und knochig, aber ich saß still, um möglichst lang bleiben zu dürfen, nicht auf das Gewicht meines Körpers aufmerksam zu machen und den Augenblick hinauszuzögern, in dem er mich unter den Achseln nahm, hochhob, auf den Boden stellte und vergaß.

Moritz seufzt im Schlaf. Schlagartig saugt die Wirklichkeit mich an, die Müdigkeit drückt sich auf mich, meine Arme schmerzen vom Tragen der Kartons und Kisten. Mein Oberteil riecht nach Schweiß und Staub. Ich drehe mich um. Im Schlafzimmer gibt es nur einen leeren Schrank und das riesige Bett mit zwei getrennten Matratzen, auf dem Moritz gerade eingeschlafen ist, während ich ihm den Rücken gestreichelt habe. Er war aufgeregt und unruhig, wie wir alle, er ist den ganzen Tag mit seinem kleinen Koffer voller Malstifte und Spielzeugautos zwischen Haus und Umzugswagen hin- und hergelaufen, die Hose schmutzig, die Locken verschwitzt. Vor Erschöpfung ist er schnell eingeschlafen, ohne viel zu reden.

Seit ich Kinder habe, weiß ich, dass Wärme einen Geruch hat. Ein Kind riecht nach Wärme, vor allem an den Schläfen, am Haaransatz, es duftet nach einem Gefühl, für das es keinen Namen gibt, nach Weichheit, nach Vertrauen. Nie zuvor war mir so heiß wie mit einem Baby auf dem Bauch, das schläft, ohne sich zu bewegen, und dabei so viel Hitze ausstrahlt, dass meine Haut nicht weiß, wohin damit. Ich nehme diese Hitze auf und fülle sie in meinen inneren Speicher. Seit ich Kinder habe, friere ich nicht mehr.

Es ist zu finster, um Moritz’ Gesicht zu erkennen, er atmet wieder gleichmäßig. Ich sehe mich im dunklen Zimmer mit den Bauernmöbeln um, von denen im Moment nur die wuchtigen Umrisse zu erkennen sind, und versuche probeweise, mich einzufinden. Noch habe ich keine zugehörige Empfindung. Das ist jetzt mein Zuhause, ich werde hier, wenn alles nach Plan läuft, sehr lange bleiben.

Ich schaue noch einmal aus dem Fenster. Die Sterne sind zurückgeschnellt in die Ferne, beeindruckend hell und doch wieder unerreichbar. Vielleicht hätte ich mir, einer alten Vorstellung der Menschheit zufolge, etwas wünschen können von ihnen, und es fühlt sich an, als hätte ich das versäumt. In die angenehme Losgelöstheit finde ich nicht zurück, die Erde hält mich erneut fest, ich höre die Geräusche um mich herum, ich spüre die Mauern, die mich umgeben. Den Pfeifentabak meines Vaters habe ich nicht mehr in der Nase.

Sophia wird gleich hungrig sein und weinen, Alexander wandert mit ihr auf dem Arm durch das Labyrinth aus Umzugskartons im Wohnzimmer, um sie abzulenken, bis Moritz schläft. Ich werde sie holen und mich mit ihr zu ihm legen, sie stillen und uns alle zudecken. Uns wird nicht kalt werden in dieser Nacht.

Moritz erkundet das Haus auf seine Art. Er ist ein Beobachter, ein Registrierer, ein Bemerker. Seit wir in der fremden Umgebung sind, fällt mir mehr denn je auf, dass er die Welt begreift, indem er sie mit den Augen studiert. Moritz öffnet die Tür zu einem Zimmer, bleibt stehen und schaut. Er betrachtet die Möbel, die Decke, die Fenster und bewegt sich nicht. Ich gehe mit der frischen Bettwäsche um ihn herum, ich berühre ihn nicht, lasse ihn versunken sein in seine Wahrnehmung. Er entscheidet selbst, wann er genug gesehen hat und sich wieder rühren kann. Es hat lange gedauert, bis er das Haus betreten konnte, er stand an der Schwelle und lugte hinein und war uns im Weg. Ich habe gelernt, ihn zu lassen, ihn nicht mehr hineinzuzerren ins Unbekannte, weil er dann schreit und weint, starr wird und sich zusammenkauert. Wenn er in ein Zimmer zurückkehrt, das er bereits kennt, lächelt er, dann legt er sich auf das ausgebeulte Sofa oder spielt mit den bunten Knöpfen aus der Kommodenschublade, dann ist er ruhig.

Wir räumen die Kisten aus, hängen unsere Kleidung in die Schränke, entsorgen Gerümpel und putzen alle Zimmer in dem Haus, das elf Jahre lang leer stand. An manchen Stellen sind Staub und Spinnweben fest verbacken, Asseln flüchten aus ihren Verstecken, in denen sie viele Jahre ihre Ruhe hatten. Ich reibe die Küche mit Essigreiniger ab, beim Kehren im Keller setze ich mir einen Jägerhut auf, der am Haken neben der Haustür hing, damit mir keine Spinnen ins Haar fallen. Alexander hat nur drei Tage Zeit, uns zu helfen, dann muss er zurück nach Wien an die Uni. Das Semester beginnt erst im Oktober, aber er hat wohl Arbeiten zu schreiben und Prüfungen abzulegen, womöglich will er auch allein sein. Er wird bloß gelegentlich hierherkommen, an den Wochenenden, zweimal im Monat vielleicht, mit dem alten Ford, den er dafür gekauft hat, in einem rostigen Rot und mit Dellen in den hinteren Türen. Ich habe gar keinen Führerschein.

Er bringt die alten Dinge, die seit Jahren niemand mehr berührt hat, zur Mülldeponie der Stadt unten im Tal. Zwei eingestaubte Gewehre findet er und vergilbte Fotos, auf denen Männer mit Backenbärten und finsteren Gesichtern ernst in die Kamera schauen, kaputte Fahrräder und eine ganze Reihe Einmachgläser mit Hollerkoch, Marmelade und Gurken. Sophia lege ich in die schöne Wiege aus Holz, die er in der Garage entdeckt, abgeschmirgelt und neu lackiert hat. Wir wissen nicht, wer sie gebaut und geschnitzt hat, wie alt sie ist. Freilich könnte Alexander seine Mutter fragen, aber das fällt ihm nicht ein. Sie selbst anzurufen, um über Dinge aus der Vergangenheit zu sprechen, die mich ihrer Meinung nach nichts angehen, wage ich nicht. Ich mache mir keine Illusionen. Sie hat sich etwas Besseres für ihren Sohn gewünscht. Sie hat das nie gesagt, aber es lag gut sichtbar in den vertikalen, verkniffenen Zügen um ihren Mund und in den schmalen Schatten unter ihren grauen Augen. Seit wir in das Haus auf dem Berg gezogen sind, haben Alexanders Eltern kein einziges Mal angerufen.

Wem auch immer die alte Wiege gehörte, Sophia fühlt sich wohl darin. Mich überkommt eine unerklärliche Wehmut, wenn ich das handgeschliffene Holz ansehe, weil die Zeit, während sie vergeht, alles mit sich zieht, bis nur Vereinzeltes übrig bleibt, ein abgelatschtes Paar Schuhe, ein Jägerhut, ein Foto mit gezacktem Rand. Ich kannte diese Menschen nicht und fühle mich ihnen dennoch verbunden. Meine Kinder sind mit ihnen verwandt, entstammen ihnen, es gäbe meine Kinder ohne sie nicht, nicht in dieser Form. Ich putze und entsorge, was sie hinterlassen haben. Und eines Tages wird das mit den Dingen geschehen, die von mir geblieben und niemandem mehr von Nutzen sind.

Das Haus ist alt, einstöckig und unterkellert, kein wuchtiger Generationenbau wie die Nachbarhäuser im Dorf. Wer hat es gebaut und wann? War zu wenig Geld vorhanden oder zu wenig Ehrgeiz? Hat Alexanders Großvater es geerbt oder gekauft? Ich habe so viele Fragen und niemanden, dem ich sie stellen kann. Alles, was ich weiß, ist, dass der Großvater hier gewohnt hat mit seiner Frau, nachdem er seinem Sohn die Praxis sowie die angrenzende Wohnung in der Stadt überlassen und sich zur Ruhe gesetzt hatte. Das Haus sollte seine Altersresidenz werden, auf dem Berg, im Grünen, mit einem Garten rundherum und dem Café nebenan zum Biertrinken und Kartenspielen. Auskosten konnte er das allerdings bloß ein paar Jahre. Sie sind bei einem Unfall gestorben, er und die Großmutter, auf dem Weg zum Nachmittagsspaziergang in Berchtesgaden, über die Böschung gestürzt mitsamt dem Auto. Im Krieg war er Sanitäter, das hat Alexander mir erzählt, danach hat er eine Auffangstation für Verletzte und Kriegsversehrte eingerichtet, er war kein Arzt, sondern Uhrmacher. Ich stelle mir vor, dass er weniger behandelt als vielmehr zugehört hat. Erst sein Sohn, Alexanders Vater, hat Medizin studiert und...

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