Nitro
von: Fritz Lehner
Seifert Verlag, 2017
ISBN: 9783902924797
Sprache: Deutsch
292 Seiten, Download: 554 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
2
Orion-Nebel
Für die wenigen Zeilen hatte Mike eine Ewigkeit gebraucht, er war erschöpft und ausgelaugt, aber die Ansichtskarten an Inge waren notwendig, wenn er in Zukunft ein brauchbares Leben haben wollte. Um die eigenartigen Gedanken loszuwerden und auch von Kanada zurückzukommen, sah er dem Wasser beim Fließen zu, eine Stunde oder auch länger, vielleicht war er sogar kurz eingeschlafen. Von den Studenten waren jedenfalls nur noch leere Getränkedosen auf den Stufen zurückgeblieben.
Mike kehrte dem Donaukanal den Rücken, er wollte den Wahnsinn der letzten Tage und der Ansichtskarte vergessen, sich den wichtigen Dingen zuwenden, und in der Liste der wichtigen Dinge stand Jacqueline obenauf, ganz hoch oben, eigentlich an erster Stelle. Sie musste er bekommen, nicht Nitro. Was war ein an die Wand gespritzter Sternenhaufen gegen ein Mädchen von höchster Erotik, noch dazu wenn jetzt Inges Haus unten in den Praterauen nur darauf wartete, mit neuem Leben erfüllt zu werden, mit wilden Dingen, die seine Schwester nicht einmal aus ihren Träumen kannte und an denen er ihr zuliebe ebenfalls vorbeigegangen war.
Als Mike nun über die Salztorbrücke ging, verstand er überhaupt nicht mehr, wie er sich in den letzten Tagen derart hatte verlaufen können und hinter einem Mann her gewesen war, statt Jacqueline zu jagen und zu erobern. Noch nie hatte er seine Bank an einem späten Freitagnachmittag betreten, doch heute war alles anders. Heute würde auch das Organigramm für ihn arbeiten und nicht umgekehrt.
Im Foyer des Danubia-Turms umfing Mike die herrliche Kühle der revolutionären Klimaanlage, die sogar unterirdisch ihre Rohre wie Greifarme bis hinunter zum Donaukanal ausstreckte, um aus dem Wasser erträgliche Temperaturen zu holen. Diese Idee war naheliegend, und verwirklicht hatte man sie schon vor ein paar Jahren in einer anderen Bank, doch deren Hochhaus am Ufer war um zwei Stockwerke niedriger als der Turm der Danubia, und ihr Organigramm erreichte nicht annähernd die Schönheit, wie sie Mike in monatelanger einsamer Arbeit in seinem Büro gelungen war. Über die verzweigten Rohre und Schächte hatten auch die Mäuse und Ratten Zutritt zum Haus. Richard hatte einmal solche Andeutungen gemacht, weil sein Arbeitsplatz in der Rezeption dem Donaukanal am nächsten lag und er eben alles wusste, bis hinauf in die höchsten Etagen.
»Was machst du heute hier? Das Wochenende hat schon angefangen«, begrüßte ihn Richard jetzt, als Mike sich an seine Theke lehnte. »Sag’s nicht, ich kenne die Antwort, ich kenne dich, lieber Freund. Du brauchst mich, unser Haus, deine Organigramme, dir ist langweilig. Deine Schwester ist ja ausgeflogen, auf Weltreise, die Frau Professor.«
»Das hast du dir gemerkt? Inge würde sagen, sehr gut, Richard, setzen!«
»Danke. Aber wichtiger ist, man hat den Fremden nicht gefunden. Das nagt an mir. Und dass du mit ihm im Lift warst, du mit ihm, das lasse ich mir nicht nehmen. Hat er mit dir etwas zu tun? Was hat dieser Mann mit dir zu tun?«
»Wir planen einen Anschlag auf das Haus, höchste Zeit, dass es in die Luft fliegt, die Bombe ist oben auf dem Dach, schick Brubeck hinauf, jetzt gleich, ruf ihn an, er findet sie, wird sich freuen, er macht Karriere, du auch.«
»Man kann über meine Ratten und Mäuse Witze machen, über diesen Mann nicht. Er ist gefährlich. Du hast ihn doch auch gesehen, ich nur eine Sekunde, das hat mir genügt.«
»Richard, ich schwöre dir beim Leben meiner Schwester, ich habe diesen Mann nicht gesehen, nie!«
Mike spürte Richards Hand auf seiner.
»Mike, tut mir leid, sehr leid, du bist immer anständig zu mir, und ich treibe dich in die Enge. Beim Leben meiner Schwester, das sagt man nicht so leicht, du schon gar nicht. Hand aufs Herz, ich glaube dir.«
»Auch die Bombe auf dem Dach?«
»Natürlich, das ist fast so gut wie ich als Sean Connery.«
»Dann nichts wie hinauf zu meinem Organigramm!«
Mike steuerte auf das Drehkreuz zu.
»Mach dich nur lustig über mich, Mike«, rief ihm Richard nach. »Deine anderen Witze waren besser. Wenn er zu dir in den Lift steigt, reize ihn nicht.«
»Nitro hat anderes zu tun.«
Mike verfluchte sich und seinen Kopf, der voll von Nitro war.
»Was hast du gesagt, Mike?«
»Mike hat anderes zu tun. Dein Mike hat anderes zu tun, als ihn zu reizen. Wer steigt zu, wen soll ich nicht reizen?«
Mike nahm den mittleren Lift wie damals, obwohl auch die anderen mit offenen Türen warteten.
»Brubeck«, hörte er noch von der Rezeption. »Brubeck sollst du nicht reizen. Er möchte endlich seine Pistole ziehen. Der Mann verbringt sogar seine Freizeit auf einem Schießstand, also trifft er auch.«
Richard war laut geworden, aber er konnte sich das erlauben, denn seine Stimme hallte durch ein leeres Foyer. Außer ihnen beiden und Brubeck schienen sich keine Menschen im Turm der Danubia zu befinden. Die Lifttür schloss sich, Mike glitt lautlos in den 15. Stock, kein Halt, niemand stieg zu, und auch danach blieb der Aufzug bewegungslos, undenkbar an normalen Werktagen.
Mike betrat sein Büro. So still hatte er es noch nie erlebt. Sein Telefon klingelte nicht, keine Gongs und Piepsgeräusche, keine Jacqueline, die hereinstürmte. Bei der Hitze dieses Tages war sie wahrscheinlich wieder im Wald, Seite an Seite mit einem Kerl, den es nun auszuschalten galt. Mike öffnete das Organigramm, suchte nach ihm. Hier war der Idiot, tatsächlich, ein Ausbund an Bedeutungslosigkeit aus dem 5. Stock, mit einem Gesicht, das man sich nicht merkte, weil es in der Stadt tausende davon gab, wie ein Verkehrsschild, aber keine Stopptafel, bestens geeignet, daran vorbeizulaufen. Mike fand in den Mails das neue Foto, es zeigte einen anderen Menschen, lachend, glücklich, verliebt, nur am hinterhältigen Befehlston im Begleittext war der Mann wiederzuerkennen. »Austauschen, bitte! Wald wegretuschieren, stört den Gesamteindruck. Megaliebe Grüße.«
Mike sah Jacqueline vor sich, wie sie auf dem Waldweg ihre Kamera hob, auf den Mann richtete, auf den richtigen Moment wartete und abdrückte. Ein Liebespaar, noch. Das Foto war nicht schlecht, sehr gut sogar, doch ein Megatalent war die zwanzigjährige Ferialpraktikantin nicht, giga schon gar nicht. Mike überflog die Personalien des Mannes, atmete auf. Er war verheiratet. Mit wem, war gleichgültig, es war nur zu hoffen, dass die Ehefrau genügend eifersüchtig war.
Bevor er sich noch einmal hinauf aufs Dach begab, setzte Mike das neue Bild in den unteren Ast des Organigramms und dankte den strengen Vorschriften des Hauses und dem Copyright. Sollte er nur Jacqueline einsetzen oder ihren ganzen Namen? Jacqueline allein klang persönlicher, und vor allem sehr erotisch. Auch wenn die Schrift unter dem Bild nur sehr klein war, man wusste, wer den Bedeutungslosen fotografiert hatte und in wen er in diesem Augenblick verliebt gewesen war. Mike löschte den Wald im Hintergrund, aber um ganz sicher zu gehen, ließ er einen Baum stehen.
Mike streckte sich zufrieden in seinem Drehstuhl. In nur einer Viertelstunde hatte er Jacqueline zurückerobert, vielleicht schon den Abend auf dem Badeschiff gerettet. Es war keine Schande, sich dabei an Nitro zu orientieren. Jacqueline liebte Künstler, davon war Mike überzeugt, sie hatte es nur nicht gesagt, in den drei Minuten waren postlagernd und Priority wichtiger gewesen, doch außerhalb des Büros und unten an einem gemütlichen...