Joki und die Wölfe

Joki und die Wölfe

von: Grit Poppe

Peter Hammer Verlag, 2018

ISBN: 9783779505952

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1429 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Joki und die Wölfe



RÄTSELHAFTE SPUREN


Joki hockte vor dem Haus, das auf eine Art gelb war, als hätte ein riesengroßer Hund daran gepinkelt. Und ein bisschen roch es auch so, was wahrscheinlich an der Promenadenmischung Socke lag, der zur Familie Meier gehörte und der sich einfach nicht benehmen konnte.

Joki fiel der Gestank kaum noch auf, denn er wohnte hier schon zehn Jahre, also sein ganzes Leben lang.

Doch das würde sich bald ändern. Genauer gesagt: schon morgen. Und eigentlich sollte er jetzt in seinem Zimmer sein und Umzugskartons packen.

Stattdessen betrachtete er mit konzentriertem Blick die Ameisen, die vor seinen Füßen geschäftig hin und her rannten, irgendwie konfus und zielstrebig zugleich, als hätten sie etwas vergessen und müssten deshalb noch mal zurück. Manche schleppten etwas mit sich herum, kleine weiße Würmchen, die wie Maden aussahen. Wahrscheinlich war das ihr Nachwuchs: Larven, aus denen bald neue Ameisen schlüpfen würden.

Er hörte ein Räuspern und wusste gleich, von wem es kam. Es gab nur eine, die sich auf diese Art räusperte und ihm damit zeigen wollte, dass sie schon eine ganze Weile neben ihm stand.

„Hallo, Sanja“, sagte er, ohne aufzusehen.

„Hey, Joki“, sagte sie ein bisschen atemlos, als wäre sie irgendwie aufgeregt. „Was machst du so?“

„Ich sehe den Ameisen beim Laufen zu“, antwortete Joki, obwohl er das eigentlich überflüssig fand. Sanja sah doch, womit er gerade beschäftigt war.

„Hm“, machte sie. „Willst du immer noch Insektenforscher werden?“

Joki zuckte mit den Schultern. „Das hab ich gesagt, als ich in der dritten Klasse war.“

„Und ich hab es nicht vergessen“, sagte Sanja stolz.

Er war froh, dass sie nicht nach dem Umzug fragte. Sie wusste ja Bescheid, also gab es nichts darüber zu reden. Joki hörte, dass sie schmatzend Kaugummi kaute, eine Blase machte, die leise platzte und die sie in den Mund einsog.

„Meine Tante hat Ameisen in den Füßen“, erklärte Sanja grinsend.

„Ja, klar“, sagte Joki leicht gereizt. Dann fiel ihm ein, was Sanja meinte. „So ein Kribbeln?“, fragte er und sah sie an. Machte sie sich etwa über ihn lustig? Aber Sanjas wilde Löwenmähne verdeckte ihr Gesicht. Nur die sommersprossige Nase und die langen Wimpern konnte er erkennen. „Hat meine Oma auch manchmal“, murmelte Joki.

Sanja kicherte und ließ sich neben ihn fallen und wirbelte dabei etwas Staub auf.

„Wärst du gern eine Ameise?“

„Glaub nicht“, knurrte Joki.

„Was dann? Ich meine, wenn du ein Tier sein könntest.“

Joki zuckte mit den Schultern. „Ich wäre gern groß, stark und wild. Ein Raubtier mit scharfen spitzen Zähnen, das sich von kleinen Sanjas ernährt.“

„Ich bin nicht klein.“

Das stimmte sogar. Sie war zwar ein Jahr jünger, aber fast so groß wie er. Und sie hatte breite Schultern, als würde sie heimlich Rugby spielen.

„Umso besser“, murmelte er. „Dann werde ich wenigstens satt.“

Sanja boxte ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen. Es tat ein bisschen weh, sogar mehr als ein bisschen, aber Joki ließ sich nichts anmerken. Manchmal war sie eine Nervensäge, aber meistens seine Freundin. Seine einzige Freundin.

Eine Löwin mit Mähne und Sommersprossen. Sie konnte fauchen und Zähne zeigen, wenn es sein musste. Und in ihren Augen blitzte es manchmal.

San-Ja.

Ihr komischer Name kam daher, dass ihre Eltern sich nicht einigen konnten, als sie noch ein Embryo war. Ihre Mutter wollte sie Anja nennen und ihr Vater Sandra. So wurde Sanja daraus.

Joki hieß in Wirklichkeit Johannes Kilian. Doch so nannte ihn niemand. Nicht einmal seine Klassenlehrerin, Frau Nebelschütz.

„Weißt du schon das Neuste?“, fragte Sanja.

Sie tat gern geheimnisvoll, weil sie Geheimnisse liebte.

Joki mochte nicht zugeben, dass er keine Ahnung hatte, was sie meinte. Wahrscheinlich versuchte sie sowieso nur, ihn von seiner Traurigkeit abzulenken. Denn eigentlich wollte er gar nicht weg. Hier war er aufgewachsen – und als er klein war, hatte auch sein Vater hier gelebt. Jetzt schrieb er noch ab und zu Briefe aus Guatemala, einem Land, in dem es Brüllaffen gab und Blattschneiderameisen. Joki bekam Bauchschmerzen, wenn er daran dachte, wie lange sich sein Vater schon nicht mehr gemeldet hatte. Also dachte er lieber nicht darüber nach.

„Sie kommen wieder“, sagte sie so leise, dass es fast ein Flüstern war. „Und nicht nur das … Sie sind schon da. Ich habe ihre Spuren gesehen.“

Joki presste die Lippen aufeinander und rührte sich nicht. Sicher würde sie gleich damit herausplatzen – mit einer ihrer Geschichten, die meist seltsam klangen, ausgedacht und märchenhaft. Was sie fast immer auch waren.

„Willst du gar nicht wissen, was ich entdeckt habe?“

Joki schwieg. Er beobachtete eine Ameise, die auf seinen Schuh kletterte. Hatte sie sich verirrt? Was ging wohl in einer Ameise vor? Dachte sie über ihr Leben nach? Vielleicht wollte er doch eine Ameise sein. Wenigstens drei Sekunden lang. Damit er wusste, wie es sich anfühlte.

„Na, wenn es dich nicht interessiert …“ Sanjas Stimme klang jetzt beleidigt.

Beleidigen wollte er seine Freundin wirklich nicht.

„Was denn?“, fragte er schroff.

„Tjaaa … Ich bin auf Spuren gestoßen. Keine gewöhnlichen, musst du wissen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so nahe herankommen. So dicht ans Dorf.“

Wovon redete sie? Von Außerirdischen? Erst vor Kurzem hatte sie ihm berichtet, sie hätte einen hell leuchtenden Meteoriten vom Himmel fallen sehen.

Joki warf ihr einen forschenden Blick zu. Ihre Wangen schimmerten rötlich, und in ihren Augen lag ein merkwürdiger Glanz.

„Geht es dir gut? Du hast doch kein Fieber, oder?“ Auf einmal sorgte er sich wirklich um sie. Sanja gehörte zu den Kindern, die von einer Minute zur anderen krank wurden und komische Punkte im Gesicht bekamen oder einen dicken Elefantenhals.

An ihrem Stirnrunzeln sah er schon, dass er völlig falsch- lag.

Sanja holte tief Luft, als wäre ihr das Geheimnis, das sie mit sich herumschleppte, zu schwer.

„Am besten, ich zeig sie dir.“

„Zeigst mir was?“

Sie verdrehte die Augen und schlug sich die Hand an die Stirn. „Na, die Löcher in meinen Strümpfen meine ich nicht, die kennst du ja schon.“

Joki dachte über eine patzige Entgegnung nach, aber zu seinem Ärger fiel ihm auf die Schnelle nichts ein.

„Die Spuren in der Wildnis“, raunte Sanja direkt in sein Ohr hinein, als könnten sie von irgendwem belauscht werden.

„Na schön“, murmelte Joki so gelassen wie möglich und schnipste die Ameise vorsichtig von seinem Schuh.

Vom Dorf in den Wald war es nur ein Katzensprung.

Sanja ging voran, drehte sich alle paar Meter um und zwinkerte ihm zu, als könnte Joki sonst verloren gehen. Er tat so, als würde er es nicht bemerken, und schaute nach oben zu den Wipfeln der Bäume hinauf. Das Sonnenlicht funkelte zwischen den Blättern. Der Wind, der ihm ins Gesicht blies, war noch kühl, aber irgendwann, bald, würde es Sommer werden.

„Der liegt schon in der Luft, kannst du ihn riechen?“, hatte seine Oma gefragt. Und Joki hatte genickt, obwohl die Luft nach nichts roch, so wie immer. Aber seine Oma schien sich furchtbar zu freuen, und das wollte er ihr nicht verderben. Jokis Mutter sagte solche Sätze nie. Sie schnupperte lieber an einem neuen Parfum herum als an einer Blume. Außerdem war sie selten zu Hause, seit sie Knut kannte. Und seit einiger Zeit wurde sie immer dicker. Zuerst hatte Joki blöderweise gedacht, es läge an den Hefeklößen, die es oft gab, groß, weiß und klebrig, mit warmen matschigen Pflaumen, die nach Zimt schmeckten. Es war das Lieblingsessen seiner Mutter, und sie aß immer einen Kloß mehr als Joki oder seine Großmutter. Aber dann hatte sie erzählt, dass er ein Geschwisterchen bekommen würde, und freudestrahlend auf seine Reaktion gewartet.

„Wenn, dann nur ein halbes“, hatte Joki gebrummt.

Die Antwort trieb seiner Mutter ein trauriges Lächeln ins Gesicht, so dass er sich plötzlich schämte. Sie konnte auf eine Art lächeln, dass es fast wie ein Heulen aussah. „Ich dachte, du freust dich.“

„Mach ich ja auch. Wird es ein Bruder oder eine Schwester?“ Doch da hatte sie sich schon abgewandt und war mit ihrem Murmelbauch, der immer runder wurde, in die Küche gestapft.

Joki wünschte sich einen Bruder, mit dem er am Teich sitzen und nach Fröschen oder Feuersalamandern Ausschau halten konnte. Aber eine Schwester wäre auch okay, wenn sie ungefähr so wurde wie Sanja. Also ein Mädchen, das nur Jeans trug, sich im Wald auskannte, als wäre sie die Försterin höchstpersönlich, die sich aus Puppen und ähnlichem Kram nichts machte und die rülpsen konnte „wie ein Bauarbeiter“. Das hatte jedenfalls Jokis Oma behauptet. Joki konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der fähig war, noch lauter und länger zu rülpsen als Sanja.

Jetzt wich sie vom Weg ab und lief auf Zehenspitzen durchs Unterholz, als wollte sie sich an eine Beute anschleichen. Joki folgte ihr und bemühte sich, ebenso vorsichtig zu sein.

Was hatte sie gesehen? Was wollte sie ihm zeigen? Er spürte eine eigenartige Nervosität – ein Kribbeln, als...

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