Fische

Fische

von: Melissa Broder

Ullstein, 2018

ISBN: 9783843717144

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 552 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Fische



1.


Ich war nicht mehr einsam und war es doch. Ich hatte Dominic, den diabeteskranken Jagdhund meiner Schwester, der mir durch alle Zimmer folgte und ständig auf meinen Schoß kletterte, weil er sein Körpergewicht nicht einschätzen konnte. Ich mochte den fleischigen Geruch seines Atems; der arme Hund wusste ja nicht, dass er stank. Ich mochte Dominics dicken, warmen Bauch und wie er beim Häufchenmachen den Rücken krümmte. Es fühlte sich irgendwie intim an, die langen Würste aufzulesen und die schwere, warme Tüte in der Hand zu halten. Ich dachte: Ihm kann ich meine Liebe schenken, er ist der Richtige für mich, so soll es sein.

Das Strandhaus war ein moderner Glaspalast und die Einrichtung so karg, dass mich nichts an mein Leben zu Hause erinnerte. Hier fühlte ich mich unsichtbar, aber auf eine gute Weise; es war, als hätte ich nie existiert. Diese Art von Verschwinden hatte nichts mit dem langsamen Auflösungsprozess in meiner überhitzten, vollgerümpelten Wohnung in Phoenix gemein, wo alles mich zu ersticken drohte und ich zwischen Erinnerungen an mich und Jamie überwintert hatte. Es gab gute und schlechte Arten des Verschwindens. Ich wollte ab jetzt nichts mehr besitzen.

Statt in meinen alten, muffigen Bademantel hüllte ich mich nun in die weichen Seidenkimonos meiner Schwester. Abends schlief ich draußen auf dem Sonnendeck ein, müde von zu viel Weißwein und unter den Sternen von Venice Beach. Meine nackten Füße steckten unter Dominics Bauch, nichts war vertraut. Nach neun Monaten der Schlaflosigkeit döste ich hier jeden Abend mühelos ein, weil ich endlich keinen Druck mehr verspürte, unbedingt schlafen zu müssen. Gegen drei Uhr nachts wachte ich auf und schleppte mich in das Bett mit den weichen Baumwolllaken, strampelte sie genüsslich herunter, wälzte mich hin und her und stellte mir vor, ein Fremder würde meine Haut berühren. Manchmal schmiegte ich mich an Dominics breiten Hunderücken und war weitere acht Stunden für die Welt gestorben. Ich hätte glücklich sein können.

Aber als ich an einem Abend gegen Ende meiner ersten Woche in Venice auf dem Abbot Kinney Boulevard an den Hipsterboutiquen vorbeischlenderte – jedes Schaufenster ein separater weißer Galeriewürfel – und vor mir ein Paar entdeckte, einen Mann und eine Frau Anfang zwanzig auf dem ersten oder zweiten Date, merkte ich plötzlich, dass es mir noch lange nicht wieder gut ging. Die beiden diskutierten hitzig, wo sie essen sollten. Als wäre das wichtig! Er sprach mit Akzent, deutsch vielleicht, und sah ganz gut aus, genau das Richtige fürs Bett: jungenhaft kurze Haare, muskulöse Oberarme und ein markanter Adamsapfel, an dem ich mich am liebsten festgesaugt hätte.

Die Frau hingegen hätte sich, wie die Erstsemester an meiner Universität in Arizona es ausgedrückt hätten, besser eine Papiertüte über den Kopf gezogen.

Seit neun Jahren finanzierte die Southwest State meine Doktorarbeit mit einem Stipendium. Ich hatte nie eine Arbeitsprobe eingereicht, doch auf wundersame Weise war das Geld immer weitergeflossen. Ich erhielt 25 000 Dollar im Jahr und eine mietpreisgebundene Wohnung in Campusnähe, im Gegenzug arbeitete ich dreißig Stunden pro Woche in der Universitätsbibliothek. Der Titel meiner Doktorarbeit lautete: »Akzentuierender Abstand. Die Leerstelle als Quintessenz bei Sappho«. Leider hatte man mir in diesem Jahr infolge meiner Nachlässigkeit neue Doktorväter zugeteilt, die jeweiligen Leiter der Fachbereiche Englische Literatur und Klassische Philologie. Ich war aufgeflogen.

Im März hatten wir uns in einer Filiale von Panera Bread getroffen, wo mir bei belegten Panini (Hühnchen-Mandelsalat für den Englischdozenten im kaffeebefleckten Osterküken-Pulli, Thunfisch für den Philologen mit der Rosazea-Nase) die schlechte Nachricht überbracht wurde: Ich würde meine Doktorarbeit bis zum Herbstsemester einreichen oder von der Uni fliegen. Wie ich mir inzwischen eingestehen musste, hatte sich die Drohung kein bisschen auf mein Arbeitstempo ausgewirkt.

Nicht dass meine Leidenschaft für Sappho abgeklungen war. Ich war immer noch fasziniert von ihr, so wie man eben von einem Menschen fasziniert sein kann, mit dem man seit neun Jahren zusammenlebt. Im sechsten Jahr war mir klar geworden, dass die meiner Arbeit zugrunde liegende Hypothese fehlerhaft war. Ehrlich gesagt, war sie nicht bloß fehlerhaft, sondern absoluter Humbug. Aber weil ich nicht wusste, wie das Problem aus der Welt zu schaffen wäre, hatte ich beschlossen, es einfach auszusitzen.

In meiner Arbeit stellte ich die gewagte Behauptung auf, die Forschung setze bei Sappho automatisch eine Ich-Erzählerin voraus. Ich hielt Literaturwissenschaftler im Allgemeinen für Idioten, außerdem schienen sie eine geradezu krankhafte Abneigung gegen das Rätselhafte zu hegen. Leerstellen ertrugen sie nicht. Wie alle Menschen fielen sie der Grundeinstellung des Gehirns zum Opfer, Informationsbruchstücke zu einem sinnfälligen Muster zusammensetzen zu müssen. Sie wollten die Welt verstehen. Wer wollte das nicht? Um die Lücken bei Sappho zu füllen, griffen sie auf vermeintlich erwiesene Fakten aus dem Leben der Dichterin zurück, wie ein Psychologe, der drei belanglose Dinge aus der Kindheit einer Person erfährt und sich daraufhin einbildet, den ganzen Menschen zu kennen. Ich fand diese Vorgehensweise absolut willkürlich.

Also verfolgte ich den neuen Ansatz, die unzähligen Leerstellen in Sapphos Werk als beabsichtigt zu lesen. In Wahrheit war natürlich nicht Sappho für die Löcher verantwortlich, sondern der Zahn der Zeit, der seit sechshundert vor Christus an den Manuskripten nagte. Ein Großteil ihres Werks war verschollen, von zehntausend Versen waren lediglich sechshundertfünfzig überliefert. In meiner Doktorarbeit schlug ich vor, von der Instanz einer Ich-Erzählerin Abstand zu nehmen und die Lücken nicht länger mit Interpretationen, Meinungen und spärlichem biografischen Wissen zu füllen, sondern als von der Dichterin gesetzt zu betrachten. Meiner Ansicht nach würde die Projektion nur zu unterbinden sein, indem wir die Lücken als bewusste Auslassungen akzeptierten und vergaßen, ob Sappho eine Lesbe, hypersexuell oder bisexuell war, jüngere Männer bevorzugte oder mehrere Liebhaber gleichzeitig hatte. Wenn wir ihrem Werk schon eine Bedeutung abgewinnen wollten, sollten wir uns auf den vorliegenden Text beziehen, nicht auf Spekulationen.

Leider war mein Theorem absoluter Müll, nicht zuletzt, weil ich selbst an einem überkomplizierten Verhältnis zur Leere, zum Vakuum, zum Nichts litt. Mein dringendstes Anliegen war es, die Leere zu füllen, denn ich fürchtete ständig, sie könnte mich umbringen. An anderen Tagen sehnte ich mich nach totaler Auslöschung, nach einem schmerzlosen, stillen Verschwinden. So gesehen, machte ich mich, wenn es um Projektionen ging, schuldiger als alle anderen. Seit mir das bewusst geworden war, kam ich mit dem Schreiben nicht mehr voran. Ich war mir nicht sicher, ob meine Doktorväter ebenfalls etwas gemerkt hatten; doch als mir der Entzug des Stipendiums drohte, gelangte ich zu dem Schluss, dass ein schlechter Text immer noch besser war als gar keiner.

So quälte ich mich weiter. Ich hatte nicht vor, zu kündigen und mir einen »richtigen« Job zu suchen, außerdem hätte ich ohnehin nicht gewusst, was ich arbeiten sollte. Ich verbrachte meine Zeit zu Hause oder in der Bibliothek bei den Studenten, wo ich Begriffe wie »Papiertüte über den Kopf« aufschnappte. Die Studenten meinten damit eine Frau mit außergewöhnlich guter Figur und hässlichem Gesicht; eine Frau, wie ich sie nun auf dem Abbot Kinney Boulevard entdeckt hatte. Ich folgte dem Pärchen unauffällig, um es noch ein wenig zu belauschen.

Wenn die Frau mit dem jungen Mann sprach, sah ich ihr kantiges Profil. Nase und Kinn ragten weit hervor, aber sie wurde von ihrem vollen Haar und dem makellosen Körper gerettet. Sie trug winzige dunkelblaue Satinshorts, aus denen ihre Pobacken ganz knapp herausragten. Man fühlte sich fast genötigt, die Hand auszustrecken und sie zu berühren. Alles, was die Frau sagte, wurde von ihrem Wissen um diesen perfekten Arsch gefiltert, und alle Worte waren ein schwacher Nachhall der von den Shorts nur knapp verhüllten Pracht. Fast erschien es mir, als wäre sie nur auf der Welt, um diesen Arsch in diesen Shorts durch die Gegend zu tragen. Sie tänzelte über den Gehweg und warf sich das Haar in den Nacken.

Der junge Mann war nicht viel besser. Er stellte dumme Fragen – »Seit wann wohnst du hier?«, »Gefällt es dir?« –, und jede Frage war nur ein Vorwand, seine Sexyness zur Schau zu stellen. Warum machten die beiden sich überhaupt die Mühe zu sprechen? Wer hatte Zeit für so etwas? Warum fielen sie nicht gleich hier auf der Straße übereinander her? Die gesamte Show war nur dazu da, vom Wesentlichen abzulenken: vom Nichts.

Gewiss, verglichen mit dem größeren Nichts – der Leere, der Sinnlosigkeit des Lebens, der Tatsache, dass keiner weiß, was das alles soll – war es immerhin etwas. Der armselige Versuch, die Restaurantfrage auf eine höhere Bedeutungsebene zu hieven, das Gerede über Kombucha, die Überbewertung des Vergänglichen, die Satinshorts – am Ende sollte das alles der Leere den sprichwörtlichen Mittelfinger zeigen. Oder vielleicht bewies es nur, dass diese Leute sich von der Leere keinen Begriff machen konnten. Waren sie tatsächlich in der Lage, das Nichts zu übersehen und sich mit ihrem trivialen Alltag zu beschäftigen?

Konnte man die Leere überhaupt übersehen? Bekamen wir nicht alle hin und wieder einen Vorgeschmack, und sei es nur flüchtig, bei der Beerdigung eines geliebten Menschen beispielsweise, wenn einem nach der...

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