Die Geflüchteten - Erzählungen

Die Geflüchteten - Erzählungen

von: Viet Thanh Nguyen

Blessing, 2018

ISBN: 9783641234669

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 895 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Geflüchteten - Erzählungen



SCHWARZÄUGIGE FRAUEN

S C H W A R Z Ä U G I G E F R A U E N

Da erlangt jemand Berühmtheit. Üblicherweise eine Art Berühmtheit, wie sie sich kein zurechnungsfähiger Mensch wünschen würde – jahrelange Gefangenschaft infolge einer Entführung oder ein demütigender Sexskandal oder weil er etwas überlebt hat, was man normalerweise nicht überlebt. Diese Überlebenden brauchen jemanden, der ihnen beim Schreiben ihrer Memoiren hilft, und ihre Agenten stoßen manchmal auf mich. »Wenigstens taucht so dein Name nirgends auf«, sagte meine Mutter einmal. Als ich erwiderte, dass ich gegen eine Erwähnung in den Danksagungen nichts einzuwenden hätte, sagte sie: »Ich erzähle dir jetzt mal eine Geschichte.« Diese Geschichte sollte ich nun zum ersten, aber nicht zum letzten Mal hören. »In unserer Heimat«, sagte sie, »gab es einen Reporter, der behauptete, die Regierung würde Menschen im Gefängnis foltern. Also macht die Regierung genau das mit ihm, von dem er behauptete, dass sie es mit anderen Menschen machen würde. Sie lassen ihn verschwinden, und er taucht nie wieder auf. Genau das passiert Schriftstellern, die ihre Namen irgendwo draufschreiben.«

Als Victor Devoto sich für mich entschied, hatte ich mich schon damit abgefunden, dass mein Name nicht auf Buchumschlägen auftauchte. Sein Agent hatte ihm ein Buch gegeben, das ich als Ghostwriterin für den Vater eines Jungen geschrieben hatte, der in seiner Schule mehrere Menschen erschossen hatte. »Ich kann nachempfinden, dass der Vater sich schuldig fühlt«, sagte Victor zu mir. Er war der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes, bei dem einhundertdreiundsiebzig Menschen gestorben waren, darunter seine Frau und seine Kinder. Er tingelte durch die Talkshows, war dabei zwar körperlich anwesend, aber ansonsten war nicht mehr viel von ihm übrig. Er sprach mit leiser und monotoner Stimme, und in seinen Augen, wenn sie denn aufblickten, schienen sich die Silhouetten trauernder Menschen versammelt zu haben. Sein Verleger sagte, er müsse seine Geschichte unbedingt erzählen, solange das Publikum sich noch an die Tragödie erinnere. Und genau damit war ich beschäftigt an dem Tag, als mein toter Bruder zu mir zurückkehrte.

Draußen war es noch ganz dunkel, als meine Mutter mich weckte. »Keine Angst«, sagte sie.

Das Licht im Flur, das durch die offene Tür hereindrang, blendete mich. »Warum sollte ich Angst haben?«

Als sie den Namen meines Bruders nannte, dachte ich nicht an meinen Bruder. Er war schon vor langer Zeit gestorben. Ich schloss die Augen und sagte, ich würde niemanden kennen, der so heißt. Aber sie ließ nicht locker. »Er ist zu Besuch gekommen«, sagte sie, zog mir die Bettdecke weg und rüttelte mich an der Schulter, bis ich schließlich aufstand, die Augen noch halb geschlossen. Sie war dreiundsechzig, ab und zu verwirrt, und als sie mich ins Wohnzimmer führte und aufschrie, überraschte mich das nicht. »Genau hier hat er gestanden.« Sie kniete im Baumwollpyjama neben ihrem geblümten Lehnstuhl und betastete den Teppich. »Nass.« Auf allen vieren folgte sie der Spur bis zur Haustür. Ich berührte den Teppich ebenfalls, er war feucht. Einen Augenblick lang war ich verunsichert. Es war vier Uhr morgens, und eine unheilvolle Stille erfüllte das Haus. Dann hörte ich den Regen in der Dachrinne, und die Angst, die mich im Nacken gepackt hatte, lockerte ihren Griff. Meine Mutter hatte wahrscheinlich die Tür geöffnet, war nass geworden und dann wieder ins Haus gegangen. Mit der Hand am Griff kauerte sie vor der Tür. Ich kniete mich neben sie auf den Boden und sagte: »Das bildest du dir ein.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.« Sie stieß meine Hand von ihrer Schulter und stand auf. Ihre dunklen Augen funkelten vor Zorn. »Er ist hereingekommen. Er hat geredet, und er wollte dich sprechen.«

»Und, Mama, wo ist er jetzt?« Sie seufzte, als sei ich diejenige, die das Offensichtliche nicht kapierte. »Er ist ein Geist, oder?«

Seit dem Tod meines Vaters ein paar Jahre zuvor lebten meine Mutter und ich artig zusammen. Wir teilten die Leidenschaft für Worte, allerdings zog ich die Stille des Schreibens vor, während sie es liebte zu reden. Sie fütterte mich unablässig mit Klatsch und Geschichten, von denen ich nur eine Sorte mochte: die über meinen Vater, als er noch der Mann gewesen war, den ich nicht kannte, jung und glücklich. Außerdem erzählte sie gern Horrorgeschichten wie die eine über den Reporter, mit der Moral, dass sich das Leben, genauso wie die Polizei, gelegentlich einen Spaß daraus macht, auf einen einzudreschen. Und schließlich waren da noch ihre Lieblingsgeschichten, sie handelten von Geistern, und ein paar davon hatte sie sogar selbst erlebt.

»Tante Six ist mit sechsundsiebzig an einem Herzanfall gestorben«, erzählte sie mir einmal, zweimal, vielleicht dreimal. Sich zu wiederholen gehörte zu ihren Angewohnheiten. Ich nahm ihre Geschichten nicht ernst. »Sie lebte in Vung Tau, wir lebten in Nha Trang. Ich trug gerade das Essen auf, da sah ich Tante Six in ihrem Nachthemd am Tisch sitzen. Die langen grauen Haare, die sie sonst zu einem Knoten zusammengebunden hatte, fielen ihr offen auf die Schultern und ins Gesicht. Fast hätte ich das Geschirr fallen lassen. Als ich sie fragte, was sie hier mache, lächelte sie nur. Dann stand sie auf, küsste mich, fasste mich an den Schultern und drehte mich zur Küche. Als ich mich wieder umwandte, war sie verschwunden. Es war ihr Geist gewesen. Ich rief den Onkel an, und er bestätigte es mir. Sie war am Morgen in ihrem Bett gestorben.«

Laut meiner Mutter hatte Tante Six einen schönen Tod gehabt, zu Hause, im Kreis ihrer Familie. Ihr Geist hatte einfach eine Runde gedreht, um sich zu verabschieden. An dem Morgen, als meine Mutter behauptete, sie habe meinen Bruder gesehen, ihren Sohn, wiederholte sie am Küchentisch diese Geschichte. Ich hatte ihr eine Kanne grünen Tee gekocht und gegen ihren Willen ihre Temperatur gemessen. Sie war normal, wie sie es prophezeit hatte. Sie fuchtelte mir mit dem Thermometer vor dem Gesicht herum und erzählte, er sei wahrscheinlich verschwunden, weil er müde gewesen sei. Schließlich hätte er gerade eine Reise von mehreren Tausend Meilen hinter sich gehabt.

»Und wie ist er hergekommen?«

»Er ist geschwommen.« Sie sah mich mitleidig an. »Deshalb war er nass.«

»Ein exzellenter Schwimmer war er ja«, sagte ich spöttisch. »Wie hat er ausgesehen?«

»Genau wie damals.«

»Das ist fünfundzwanzig Jahre her. Er hat sich überhaupt nicht verändert?«

»Sie sehen immer genau so aus wie zu dem Zeitpunkt, als man sie das letzte Mal gesehen hat.«

Ich erinnerte mich daran, wie er beim letzten Mal ausgesehen hatte, und sofort verging mir jeglicher Spott. Der fassungslose Gesichtsausdruck, die weit geöffneten Augen, die nicht einmal zuckten, als ihm die zersplitterte Planke des Bootsdecks gegen die Wange drückte – ich wollte ihn nicht wiedersehen, wenn es denn überhaupt irgendetwas oder irgendwen zu sehen geben sollte. Nachdem meine Mutter zu ihrer Schicht ins Nagelstudio gegangen war, versuchte ich vergeblich, wieder einzuschlafen. Wenn ich meine Augen schloss, starrten mich seine an. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich seit Monaten nicht mehr an ihn gedacht hatte. Ich hatte mich lange bemüht, ihn zu vergessen, brauchte aber nur um eine Ecke zu biegen – in der Welt wie in meinem Kopf –, um ihm, meinem besten Freund, zufällig zu begegnen. Seit ich denken kann, habe ich ihn draußen vor dem Haus meinen Namen rufen hören. Das war das Signal für mich, ihm zu folgen, auf den Wegen und durch die Gassen unseres Dorfes, durch die Jackfrucht- und Mangohaine, um die zerfetzten Palmen und Bombenkrater herum, zu den Deichen und Feldern. So sah damals eine normale Kindheit aus.

Rückblickend wurde mir jedoch klar, dass wir unsere Jugend in einem heimgesuchten Land verbracht hatten. Unser Vater war eingezogen worden, und wir fürchteten, dass er nie mehr zurückkehren würde. Bevor er ging, hatte er neben unserem Haus einen Luftschutzraum gegraben, einen Bunker mit einem Dach aus Sandsäcken, das von Holzbalken abgestützt wurde.

Obwohl es drinnen heiß und stickig war, nach feuchter Erde roch und von Würmern wimmelte, spielten wir als Kinder oft dort. Als wir älter waren, gingen wir zur Schule und erzählten Geschichten. Ich war die beste Schülerin an der ganzen Schule, so exzellent, dass mein Lehrer mir nachmittags Englischstunden gab. Die Lektionen gab ich an meinen Bruder weiter, der mir dafür Märchen, Sagen und Klatschgeschichten erzählte. Wenn wir mit unserer Mutter im Bunker kauerten, während Flugzeuge über unsere Köpfe hinwegkreischten, flüsterte er mir zur Ablenkung Geistergeschichten ins Ohr. Nur behauptete er eisern, dass es keine Geistergeschichten waren, sondern historische Berichte aus zuverlässigen Quellen, sprich: von uralten Weibern, die in der Hocke auf dem Markt saßen, Betelnüsse kauten und roten Saft ausspuckten, während sie ihre Kohleöfen oder Warenkörbe bewachten. Zu den festen Bewohnern unseres Landes, so sagten sie, gehörten die obere Hälfte eines koreanischen Leutnants, die eine Mine in die Zweige eines Gummibaumes katapultiert hatte, ein skalpierter schwarzer Amerikaner, der nicht weit von seinem abgeschossenen Hubschrauber in einem Bach trieb und dessen Augen und frei liegende Hirnsichel im Wasser glitzerten, und ein enthaupteter japanischer Gefreiter, der im...

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