Die Verängstigten - Roman

Die Verängstigten - Roman

von: Dima Wannous

Blessing, 2018

ISBN: 9783641206093

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1542 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die Verängstigten - Roman



Vor genau fünfzehn

Vor genau fünfzehn Jahren saß ich in Kamils Praxis.

Kamil, wirst du je lesen, was ich jetzt schreibe? Klingelt es dir bei dieser Zahl in den Ohren? Fünfzehn Jahre, Kamil. »All diese Jahre«, wie es so schön heißt. Und du sprichst in meinen Träumen über viereinhalb Jahre gleichsam, als wären auch das »all diese Jahre«!

Ich saß in dieser winzigen Praxis, die sich nach allen Seiten hin ausdehnte, sodass sie Dutzenden Patienten Platz bot. Nur einige wenige von ihnen hatten länger als eine Woche im Voraus einen Termin vereinbart. Die meisten waren Notfälle und kamen nicht aus Damaskus, sondern von außerhalb. Sie saßen auf den wenigen Stühlen oder hockten draußen auf der schmalen Treppe. Rauchend betrachtete ich die Patienten um mich herum, während die Sprechstundenhilfe, die außergewöhnlich niedlich und hübsch war, mit großer Ernsthaftigkeit ein Skript ihrer Vorlesungen studierte, um sich auf die Halbjahresprüfungen vorzubereiten. Von Zeit zu Zeit schaute sie verstohlen zu mir herüber und lächelte. Obwohl sie so niedlich war, wirkte sie meistens gelangweilt. Der Mensch kann niedlich und gelangweilt zugleich sein. Diese Sprechstundenhilfe war eine junge Frau, die sowohl studierte als auch arbeitete. Sie sorgte für ihre Familie, die wie viele andere von der Katastrophe heimgesucht worden war. Ihre Mutter hatte, nachdem ihr Mann ein paar Jahre zuvor gestorben war, alle erdenklichen Krankheiten bekommen. Sie war eine agile, schöne Frau gewesen, und das Leben hatte es gut gemeint mit ihrem fünfzigjährigen schlanken Körper. Doch nachdem ihr geliebter Mann gestorben war, bekam sie Bluthochdruck, Diabetes, Probleme mit den Nieren und der Schilddrüse und war plötzlich nur noch eine weiche Masse, die das Bett hütete. Die geschiedene Schwester der Sprechstundenhilfe lebte mit ihrer zweijährigen Tochter ebenfalls bei ihnen. Der einzige Bruder hatte schon vor langer Zeit den Verstand verloren. Mit einundzwanzig Jahren hatte er sich in eine Kommilitonin an der Hochschule der Bildenden Künste verliebt, wo auch ich studiert habe. Jene Kommilitonin war die Tochter eines Offiziers niederen Ranges und wohnte in »Mazzeh 86«. Eines Tages hatte der Sohn eines Geheimdienstabteilungschefs sie zufällig an der Uni gesehen. Welcher Geheimdienst, hat Laila mir nicht erzählt. Das war unwichtig. Der Junge verliebte sich in sie und wollte sie zu einem Ausflug zum »Domizil« seines Vaters mitnehmen. »Domizil« ist unter den Söhnen der hohen Tiere ein gängiger Ausdruck für ein Grundstück in den Außenbezirken von Damaskus, ein Geschenk an jeden ranghöheren Offizier, damit er dort mit seiner Familie seine Freizeit und seine Ferien verbringen kann. Das Mädchen lehnte das Angebot ab, denn es war mit Lailas Bruder zusammen. Eines Morgens wurde Lailas Bruder auf offener Straße entführt. Eine ganze Woche lang war er spurlos verschwunden. Als er in seine Wohnung in Masaken Barzeh zurückkehrte, war er nur noch ein leerer Körper. »Tagelang haben sie ihn mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehängt, so lange, bis er das letzte Körnchen Verstand verloren hat.« Ich kann mich noch gut an diesen Satz erinnern. Laila hatte mir die Geschichte bei einem meiner Besuche erzählt, als außer ihr und mir niemand mehr in der Praxis war. Sie sagte, er sei ohne Verstand zurückgekommen. Seit jenem Tag saß ihr Bruder hinter verschlossener Tür in seinem Zimmer am geöffneten Fenster, das auf die sehr belebte Hauptstraße von Masaken Barzeh hinausging, und rief den Leuten zu: »Habt ihr den Präsidenten gesehen? Wenn ihr ihn zufällig seht, dann holt ihn her. Sagt ihm, dass ich mein Zimmer nicht verlasse, bis er mich persönlich besuchen kommt!« Niemand scherte sich um seine Worte. Ein Verrückter, der den Verstand verloren hatte. Die Beschimpfungen und Beleidigungen, die ihn trafen, wenn er aus dem Fenster urinierte und dabei auf einen Passanten zielte, kümmerten ihn nicht.

Laila verbrachte ihre Zeit in dieser kleinen Praxis, unter Menschen, die ihrem Bruder auf die eine oder andere Weise ähnelten. Ihre Geschichten waren nicht weniger bizarr als seine. Sie lernte, vereinbarte Termine, trank Unmengen Nescafé mit Milch, qualmte wie ein Schlot und kehrte dann in ihre Wohnung zurück, um sich um ihre Mutter zu kümmern – diese weiche Masse im Bett –, ihre einzige Schwester, die geschieden war, sowie deren Tochter und ihren Bruder, der in seinem Zimmer und in seinem Wahn gefangen war. Wenn ich Laila ansah, fiel mir immer diese süße Niedlichkeit auf, die trotz allem ganz unbewusst aus ihren Augen quoll. Wie schwer muss es für einen einzelnen Menschen sein, gleichzeitig die Rolle von Mutter, Vater, Arzt und Ehemann einzunehmen und dabei immer einen neutralen Gesichtsausdruck zu bewahren und nur wie man selbst auszusehen. Angesichts der schwierigen Aufgaben, die ein Mensch zu bewältigen hat, muss sich seine Miene doch unweigerlich verändern. Er wird mal mürrisch, mal selbstsicher wirken. Für einen winzigen Moment wird sein Blick hart, dann wiederum werden seine Augen von Zärtlichkeit umspielt sein.

Während ich dort saß und meinen Blick über die Wartenden schweifen ließ, trat ein etwa dreißigjähriger Mann ein. Er war groß und breitschultrig, hatte dichtes tiefschwarzes Haar, und seine Gesichtszüge waren von einer Klarheit, dass sie wie gemalt oder gemeißelt wirkten. Seine Brust war nach vorn gewölbt, und ich beneidete ihn dafür, so viel Luft in sich aufnehmen zu können. Dieses bestimmte Glücksgefühl darüber hatte ich bei jenem ersten flüchtigen Treffen nicht verspürt, sondern erst Monate später, nachdem wir uns kennengelernt hatten. Ich, die ich immer Angst habe zu ersticken und bei der Vorstellung in Panik gerate, dass mir die Luft ausgehen, dass ich nicht genügend Luft abbekommen und ersticken würde, ich beobachtete, wie Nassim tief einatmete, um seine Lungen zu füllen. Denn sie waren größer als die von uns normalen Menschen, Menschen mit einem flachen Brustkorb oder im besten Fall mit einem Brustkorb, der nicht über den Bauch hinausragt. Mir waren seine straffen, harten Muskeln aufgefallen, die sich rund hervorwölbten und erkennen ließen, dass ihr Besitzer in jeden einzelnen von ihnen ganz vernarrt war. Er arbeitete schwer daran, jeden einzelnen Muskel unabhängig von den anderen zu kräftigen. Es war zwar Winter, und die dicke Kleidung verbarg diese Details, aber irgendwann schob er seine Ärmel zurück, und ich konnte seine Handgelenke sehen. Ich bin verrückt nach dieser Region zwischen Hand und Ellbogen, diesem Stück Körper, das sich über eine kurze Distanz erstreckt und mich in einen anderen Himmel trägt, wo es nicht an Weite mangelt und es immer genügend Luft zum Atmen gibt. Und ich bin verliebt in Knochen. Ich liebe die Vorsprünge des Körpers. Körper, deren Knochen unter weichem Fleisch verborgen sind, überzeugen mich nicht. Ich suche nach jenen Vorsprüngen an Händen, Gelenken, an der Kehle und zwischen Hals und Brust. Das Schlüsselbein. Wie kann ein so wuchtiges Wort wie »Schlüsselbein« eine so offene und warme Körperregion bezeichnen?!

Nachdem er sich gesetzt, seine Ärmel hochgeschoben und ich die vorstehenden Knochen an den Handgelenken unter seiner dünnen Haut gesehen hatte, die von dichtem schwarzem Haar bedeckt war, wanderte mein Blick zu seinen Füßen. Die Jeans war ein Stück hochgerutscht, weil er ein Bein über das andere geschlagen hatte. Zwischen seinem Sportschuh und der Unterkante der Jeans sprang dieser Knochen hervor. Ich kenne keinen vernünftigen Grund für meine Leidenschaft für Knochen, und ich habe Kamil nie gesagt, dass ich Knochen über alles liebe.

Nassim hatte sich mit all seinen Knochen auf den mit billigem braunem Leder überzogenen Metallstuhl gesetzt. Ich sah ihn an. Er nahm keine Notiz von mir. Im Grunde nahm er von überhaupt niemandem Notiz. Er zündete sich sogar eine Zigarette an und aschte auf den Boden. Ich schaute zu Laila hinüber, die verdutzt dreinblickte. »Vor Ihnen auf dem Tisch steht ein Aschenbecher«, sagte sie in ruhigem Ton zu ihm. Mit diesem Satz schien sie Nassim aus einer langen Geistesabwesenheit zu holen, die so tief war wie das Meer, vor dem er sich so fürchtet. Er sperrte die Augen weit auf, entschuldigte sich aber nicht, sondern sah nur nach links, wo der Tisch mit dem angestoßenen Aschenbecher stand. Er aschte hinein und scherte sich nicht um die Asche, die er vorher auf den Boden hatte fallen lassen. Er beugte sich nicht hinunter, um sie vom Boden aufzuwischen. Als säße er in einem Park oder auf der Straße und ein Windstoß übernähme das früher oder später. Als wäre Laila gar nicht da. Nassim dachte überhaupt nicht daran, dass Laila sich gleich bücken würde, um die Asche vom Boden aufzusammeln. Ich war vor ihm an der Reihe. Während ich mit Kamil sprach, hatte ich das Gefühl, Nassim lausche heimlich meinem Leben, das sich auf die kleinen Karten ergoss, die vor Kamil auf dem Schreibtisch lagen und auf denen er geheimnisvolle Symbole notierte. Ich war an jenem Tag ganz von Trauer erfüllt und hatte mir vorgenommen, ihm von einem merkwürdigen Traum zu erzählen, den ich in der vergangenen Nacht gehabt hatte. Doch dann änderte ich meine Meinung. Lag es an jenem wunderlichen Mann mit den vorstehenden Knochen, der dort hinter der dünnen Holztür saß? Ich erzählte Kamil also nicht, dass ich im Traum auf dem Dach eines alten niedrigen Hauses in Damaskus gesessen hatte. Es war Vollmond, ich saß am Rand des Daches, und es war mir egal, ob ich hinunterfallen könnte. Ich betrachtete den Mond, glücklich darüber, dass er rund war, und wunderte mich gleichzeitig über mich selbst, weil ich ihn normalerweise rund nicht mag. Ich mag keine vollkommenen, runden, gefüllten, fertigen Sachen. Ich mag die Dinge unvollständig. Gerade die...

Kategorien

Service

Info/Kontakt