Hier ist es schön - Roman

Hier ist es schön - Roman

von: Annika Scheffel

Suhrkamp, 2018

ISBN: 9783518757154

Sprache: Deutsch

389 Seiten, Download: 3118 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hier ist es schön - Roman



Die Briefe I


Du,

du hast früher immer wieder nach der Sache mit deinem Daumen gefragt, wir haben dir Antworten gegeben, angepasst an dein jeweiliges Alter. Jetzt fragst du nicht mehr, und ich will dir noch sagen: Keine unserer Antworten entsprach der Wahrheit. Der fehlende halbe Daumen ist kein Zeichen dafür, dass du eine märchenhafte Prinzessin, Irma, oder die Reinkarnation eines berühmten Wissenschaftlers aus dem 18. Jahrhundert, jemand Außer- bis Überirdisches bist. Er bedeutet nicht, dass es sich bei dir um eine Besonderheit handelt. Der Finger ist nur eine Genmutation. Oder, was heißt »nur«? Nichts weiter. Er ist ein Teil von dir, etwas, was dich immer fasziniert und manchmal, glaube ich, geärgert hat. Wir haben dir die Zukunft im Superlativ erzählt, so viele Größenwahnsinnigkeiten. Alle Eltern machen das, denke ich. Aber vielleicht waren wir damit etwas schlimmer als die anderen. Das täte mir leid, das würde manches erklären. Weißt du, dass wir ständig nach unserer Schuld suchen? Du nennst keine Gründe außer dem Abenteuer. Wir sind deine Eltern, wir brauchen mehr als das. Irma, lass es uns auf den Finger schieben, auf die Hälfte, die fehlt. Auf einen Teil von dir, den es nicht gibt. Also: Ein nicht vorhandener halber Daumen ist schuld daran, dass du in die Unendlichkeit verschwinden willst. So was kann vorkommen, haben die Ärzte nach deiner Geburt gesagt. So ist das eben.

Papa

*

Kindchen,

ganz hinreißend sahst Du aus in dem Film, den sie über Eure Ankunft gezeigt haben! Das Blau stand Dir gut, aber so sieht Dein Haar noch viel schöner aus, und geflochten haben sie es Dir, und das Kleid war so hübsch, ich habe Dich noch nie im Kleid gesehen, Irma, oder irre ich mich? Du sahst aus wie aus einer anderen Zeit, einer, die es nur in Märchen und Sagen gibt. Es stand Dir wirklich gut. Und überhaupt sahst Du aus, als würdest Du genau da hingehören, wo Du jetzt bist, wo immer das ist. Die anderen gefielen mir auch, aber nicht ganz so wie Du, mein Irmchen. Höchstwahrscheinlich bin ich da parteiisch. Du hast das sehr gut gemacht, diesen ersten Auftritt, dabei warst Du sicherlich sehr aufgeregt. Du weißt ja wahrscheinlich, wie viele Menschen Euch zusehen. Lass mich nur eine Sache sagen: Du könntest ein bisschen mehr lächeln! Sieh Dir Viola an, die macht das gut, wenn auch ein wenig zu ausdauernd. So viel wie Viola musst Du nicht grinsen, bewahre, Du hast ja auch noch anderes zu tun. Aber ich weiß doch, wie schön Du lächeln kannst, und ich weiß auch, dass Du in den letzten Jahren nicht besonders viel Lust gehabt hast, zu strahlen. Tu es jetzt, Irma! Sei freundlich, sei nett, sei höflich und vor allem: lächle, strahle! Das heißt, wenn Du wirklich mitwillst, wenn Du überhaupt ausgewählt werden möchtest. Sonst nicht, sonst lass es und komm zurück zu Deinen Eltern, die sich schrecklich grämen, obwohl sie sich doch für Dich freuen sollten: Du weißt, was Du willst! Ich mische mich nicht ein, das ist nicht meine Aufgabe. Ich gebe Dir nur ein paar altersweise Tipps, so wie ich das auch täte, wenn Du zum Beispiel überlegen würdest, hier unten ein Haus zu bauen. Was man da alles beachten muss, da könnte ich auch die ein oder andere Sache zu sagen. Jetzt aber kein Haus, jetzt der Himmel und weiter. Zeig Dich von Deiner besten Seite, mein Herz,

Deine Oma

PS: Dieses Jahr sind die Äpfel exzellent. Ich schicke Dir einen mit, teil ihn Dir mit diesem Jungen, den sie Sam genannt haben. Glaub mir, der kann einen Apfel vertragen! Während Du eine grimmige Prinzessin warst, sah er aus wie ein verschrecktes Kind. Er spielt gar nicht, das hat mir gefallen, aber wenn er weiter so großäugig aus der Wäsche guckt, dann kommt er nicht weit. Gib ihm also was ab!

*

Hallo Irma,

nur eine Frage, du hast bestimmt viel zu tun: Kann man dein Kleid irgendwo bestellen? Ich meine das Kleid, das du bei deinem allerersten Auftritt in der Arena anhattest. Das grüne! Mir fällt kein Ort ein und kein Anlass, zu dem ich es tragen könnte, aber ich würde es einfach in meiner langweiligen Stadt an einem ganz normalen Tag anziehen. So gut gefällt es mir, und so mutig machst du mich!

Danke!

Ein sehr großer Fan

*

Irma,

du hast sie echt nicht mehr alle! Und ich bin feige bis zum Mond oder deinem beschissenen neuen Planeten. Ich habe dir nie gesagt, dass ich glaube, dass das ein verdammter Fehler ist. Völliger Wahnsinn. Komm gefälligst zurück! Mehr Erde, mehr Leben, mehr alles als hier gibt es nirgendwo. Hier sind deine Leute, hier bin ich. Übrigens: Dieses Foto von uns, an deiner Pinnwand, das habe ich damals mitgenommen. Du hast das ewig gesucht, oder? Es steckt in meinem Portemonnaie — du hättest es Milliarden Mal entdecken können, hast du aber nicht. Das liegt daran, dass du nie richtig hinsiehst, du Brillenschlange. Ich bin fies, aber du auch. Ich sag's jetzt: Ich liebe dich! Echt, seit Ewigkeiten schon. Hast du auch nicht gemerkt. Blindschleiche. Das klingt so besch ‌… in diesem ohnehin extrem pathetischen Brief, Briefe an sich sind pathetisch, völlig urzeitlich. Aber anders, behaupten sie, kann man dich nicht erreichen. So ein Quatsch, man könnte, wenn sie wollten. Ich meine, sieh dir die Arena an. Wer so ein Riesending hinstellen kann, der kann auch anderes. Kommunikation möglich machen, zum Beispiel. Aber sie wollen gar nicht, die wollen nicht, dass wir dich erreichen. Die denken, du gehörst ihnen. Lass dir das nicht gefallen, Irma! Noch mal: ICH LIEBE DICH. Verdammt noch mal, was immer das heißt, es fühlt sich so an, und glaub mir oder nicht: Ich bin selbst erschrocken. Solche Worte von mir an dich und noch dazu in einem Brief. So weit ist es mit mir und der Welt gekommen. Aber trotzdem: Das ist kein Grund. Das ist ganz bestimmt kein Grund, hier alles aufzugeben. Lass die Kometen kommen, die Sonne verglühen, die Menschheit völlig den Verstand verlieren und die scheiß Flüsse aufwärts fließen, hier ist es schön. Hier war es schön mit dir und ohne dich eher nicht so. Tritt die beknackten Masken in den Arsch und renn, so schnell du kannst. Sie werden dich natürlich nicht so einfach gehen lassen, aber du bist schnell, du kannst das schaffen. Komm zurück. Nicht nur meinetwegen oder für irgendwen sonst. Sondern einfach, weil alles andere völlig beknackt wäre. Hier fliegt keiner in Richtung Sterne, hier wird gefälligst die Suppe ausgelöffelt, und glaub mir: So schlecht schmeckt sie gar nicht. (Nur ein ganz kleines bisschen nach mehligen Kartoffeln und gelblichen Erbsen, Millionen und Milliarden und Billionen und Billiarden Stunden und wenige Minuten länger zerkocht.) Ein paar Wochen kann ich noch warten, dann suche ich mir eine Frau fürs Leben aus den Heerscharen der Interessierten. Ich meine, ich bin fast siebzehn, und die Zeit rennt.

Ich glaube, das war alles, was ich schreiben wollte. Das wars.

Tom

PS: Doch nicht: Streberin! Das haben bisher nur die anderen gesagt, hinter deinem Rücken oder dir direkt ins Gesicht. Ich nie. Aber sie haben recht. Du musst immer die Beste sein, nicht nur in Mathe, in allem, weltweit. Dir reicht es nie. Irma, du bist die schlimmste Streberin, die mir je begegnet ist.

*

Hey Irma,

ich wollte nur sagen, ich guck das nicht mehr. Das geht gar nicht. Komm nach Hause, oder du hörst nie wieder von mir! So was macht man mit besten Freunden nicht. Sind wir doch, beste Freunde, oder? Meinerseits jedenfalls nicht mehr, wenn du da bleibst. Hör auf, so egoistisch zu sein. Heldentum jenseits der Erde ist scheiße und was für Feiglinge. Ihr verglüht doch nur, es wird sauweh tun, und ich seh da nicht zu, auch wenn die Shows wirklich gut gemacht sind. Aber ich habe mal recherchiert, wer das eigentlich ist, der diesen ganzen Wahnsinn veranstaltet. Ich will dich beunruhigen, und zwar so, dass du zurückkommst: Es sind Laien. Absolute Dilettanten in wissenschaftlicher Hinsicht. Eine Filmproduzentin, ein steinalter Bauunternehmer (er hatte vor...

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