Bruder und Schwester Lenobel - Roman

Bruder und Schwester Lenobel - Roman

von: Michael Köhlmeier

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446261303

Sprache: Deutsch

544 Seiten, Download: 1696 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Bruder und Schwester Lenobel - Roman



 

 

1

 

Im Mai noch schrieb Hanna an ihre Schwägerin eine Mail. Ungefähr so: Komm, dein Bruder wird verrückt! Zwei Tage später landete Jetti in Wien Schwechat. Inzwischen schien alles schlimmer. Robert war verschwunden. Gegen Jettis Rat gab Hanna eine Vermisstenanzeige auf. Um Druck zu machen, log sie: Seit einer Woche abgängig, Dr. Robert Lenobel, 55. Dass der Vermisste von Beruf Psychiater und Psychoanalytiker war, ließ den Beamten die Dringlichkeit einsehen.

 

Zu Hause bei ihrer Schwägerin in der Garnisongasse im 9. Wiener Gemeindebezirk, während sie ihre Kleider aus dem Koffer nahm und an den Fensterrahmen hängte, fragte Jetti: »Warum bin ausgerechnet ich hier, Hanna? Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen … wenn Robert nicht bereits abgehauen wäre?«

»Nicht bereits abgeHAUEN?«, wiederholte Hanna, die auf der Schwelle stand, die Arme verschränkt, und ihr zusah, und rief das letzte halbe Wort in das Zimmer hinein wie von der Bühne herunter. »Du tust so, als hätte er das von Anfang an vorgehabt. Das ist aber nicht wahr, Jetti!« Hoch, eckig, empörte Augen, scharfkantiges, porzellanhelles Gesicht, bereit zu streiten.

»Ich verstehe nicht«, sagte Jetti. »Von welchem Anfang an?«

Und Hanna dagegen: »Sag du mir von welchem AnFANG an, Jetti! Ich weiß nichts von einem Anfang … nicht in diesem Zusammenhang jedenfalls.«

»Ist ja gut«, sagte Jetti; dachte, sie hat doch von einem Anfang gesprochen, nicht ich; streckte aber die Hand nach ihrer Schwägerin aus. Wenn Hanna verzweifelt war oder unglücklich, das hatte sie nicht vergessen, oder zornig oder aus irgendeinem Grund giftig gelaunt, betrieb sie Wortklauberei, als wüchse das Gift wie Unkraut zwischen Subjekt und Prädikat, Konjunktion und Adverb, und man müsste es nur herauszupfen, und Verzweiflung, Unglück, Zorn und Laune lösten sich auf. Das hatte Hanna von ihrem Mann. Robert meinte, wenn er die Wörter haut, haut er die Welt. Nach dieser Pfeife konnte Jetti aber nicht tanzen, selbst wenn sie es um des Friedens willen gewollt hätte; über Worte musste sie nachdenken, länger als andere, zu lang auf jeden Fall, um sich auf Schlagfertigkeiten einzulassen. »Ist gut, Hanna«, versuchte sie zu besänftigen. »Aber sag mir doch, warum hast du mich gerufen? Was kann ich tun? Was hätte ich tun können?«

»Ihn daran hindern«, schluchzte Hanna.

»Ich bin seine Schwester, du seine Frau«, sagte Jetti. Ein Ton geriet ihr, der nun doch streitsüchtig klang, obwohl sie das Gegenteil fühlte – das Gegenteil von streitsüchtig war doch die Bereitschaft zu schlichten, und nur das wollte sie; deswegen war sie gekommen. Sie war darauf gefasst gewesen, einen Streit zwischen Bruder und Schwägerin schlichten zu sollen – diesmal einen, so interpretierte sie die Mail, der, wer weiß, so tief wurzelte, dass die Eheleute sich nicht mehr an die Ursachen der Ursachen erinnerten und jemanden brauchten, der sie hinunterführte – oder so ähnlich, wie sich Robert ausdrücken würde, wenn die Seelen anderer Menschen zur Disposition stünden und nicht seine eigene und die seiner Frau …

»Was, Hanna, kann ich, was du nicht kannst?« Die Frage war sachlich gemeint, pragmatisch.

»Ach, Jetti, hör auf!«, wurde sie angefahren.

Da zog Jetti ihre Hand zurück.

 

 

2


 

Dabei hätte sie es wenigstens ahnen müssen … Hannas erste Worte, als Jetti durch die automatische Schiebetür in die Ankunftshalle getreten war – die beiden hatten einander seit fünf Jahren nicht gesehen: »Man weiß nicht, warst du schöner gewesen mit zwanzig oder mit dreißig oder mit vierzig, oder bist du jetzt mit fast fünfzig am schönsten?« Dann hatte sie Jetti den Koffer aus der Hand genommen und war losmarschiert, einen Meter voran, bohrte den Blick in den genoppten Kunststoff, mit dem der Weg zur Tiefgarage ausgelegt war. Und damit auch ja kein Zweifel aufkomme, dass es sich nicht um ein Kompliment handelte, hängte sie an: »Wenn du mich fragst, am schönsten warst du mit dreißig. Da hätte dich einer erschießen sollen. Oder heiraten.« – Jetti hätte wissen müssen, dass jede Schuld, die sich ihr Bruder nach Meinung seiner Frau auflud, dass jeder Schmerz, den er seiner Frau zufügte, mindestens zu gleichen Teilen ihr, der Schwester, angekreidet würde; Hanna hatte für diese Quelle allen Übels sogar ein Wort erfunden: Lenobeltum.

Was den Schmerz betraf, besser: seine Darbietung, fand Jetti, Hanna übertreibe mächtig, und ungeschickt obendrein. Das beruhigte sie ein wenig; obwohl sie nicht erkennen konnte, worin genau diese Übertreibung bestand – ob sich Hanna sozusagen »ehrlich« hineinsteigerte oder ob sie ihre Sorge willentlich und berechnend aufbauschte, um sich zu rechtfertigen, wofür auch immer, oder ob sie – und das hielt sie für wahrscheinlich – sich selbst feiern wollte, als eine Art Witwe. Sie waren vom Flughafen direkt zur Polizei gefahren. Im Auto sprachen sie wenig miteinander. Den Beamten gegenüber gab sich Hanna hysterisch. Sie gab sich so, sie war es nicht. Ihre Stimme hüpfte ins Falsett, aber die Augen, eine kleine Spanne über dem Mund, der auch in seinen Pausen offen stand, blickten unbeteiligt, als warteten sie gelangweilt auf das Ende dieses Spiels. Auch einer der Beamten, dies meinte Jetti beobachtet zu haben, hatte ihr nicht geglaubt. Wieder im Auto war Hanna sogar ein bisschen fröhlich gewesen. Erleichtert fröhlich. Vielleicht hatte ja sie, Jetti, übertrieben, als sie ohne weitere Fragen stante pede ein sehr teures One-Way-Ticket gekauft hatte. Vielleicht hatte sich ja inzwischen alles aufgeklärt, und Hanna war es einfach peinlich, und sie wusste nicht, wie sie ihr beibringen sollte, dass sie wegen nichts und wieder nichts von Irland hergeflogen war. Aber warum hätte sie dann zur Polizei gehen sollen? Oder Hanna und Robert hatten sich abgesprochen; dass sie beide nicht wussten, wie sie aus der Verlegenheit herauskommen sollten; und wollten sich das Geld für den teuren Flug sparen, denn wenn Jetti tatsächlich wegen nichts und wieder nichts angetanzt wäre, würde es der Anstand gebieten, dass sie wenigstens die Spesen übernehmen … – So zu denken wäre allerdings paranoid; dann schon lieber als naives Schaf dastehen.

Als sie die Wohnung betreten hatten, war alle fröhliche Erleichterung auch schon dahin. Gleich begann Hanna auf- und abzustaksen wie ein eingesperrter Storch. Dann schien sie sich zu besinnen, stand starr, noch ein Fuß vor dem anderen, über der Nasenwurzel eine tiefe Falte, ließ sich von Jetti bestaunen, warf ihr einen vorwurfsvoll grimmigen Blick zu und wechselte in diese arrogant-vulgäre kreuzbeinige Art, wie es Models tun. In dem Blick aus Eis und Hochmut war alles und nichts zu finden, und Jetti konnte sich wieder keinen Begriff von der Frau ihres Bruders machen, betrachtete ihre spitzen Schultern, die sich zu den Ohren hin etwas hoben.

»Was sollen wir unternehmen, was meinst du?«, fragte sie, fasste ihre Schwägerin am Arm und schob sie in die Küche. Sie wollte nicht im Flur stehen, als wäre sie ein unerwünschter Besuch, und sich eine billig einstudierte Szene anschauen. »Trinken wir einen Tee, Hanna, und gehen alles der Reihe nach durch, Schritt für Schritt. Vielleicht setzen wir eine Liste auf, was meinst du?«

Aber Hanna zog in der Küche weiter ihre Achterschleifen, warf immer wieder die Arme von sich und stieß verzweifelte Laute aus, und nun war Jetti sich doch nicht mehr sicher, dass sie bloß spielte; könnte sein, dass bei Hanna sogar die tiefste Sorge gespielt aussieht. Was war die tiefste Sorge? Sie sagte: Dass ihr Bruder sich jemals etwas antue, wüsste sie auszuschließen – als wäre dies Punkt eins auf der Liste. Ihre Stimme aber hatte sich am Satzende wie von selbst zu einem Fragezeichen gebogen, denn in Wahrheit wusste sie nichts mehr auszuschließen, seit Beginn des Gedankens jedenfalls nicht mehr. Dass Zynismus einen Menschen tatsächlich gegen Suizid immunisiere, wie ein Freund ihr irgendwann vorgeschlagen hatte zu glauben, glaubte sie nicht und hatte es nie geglaubt.

Wie ihr denn um Himmels willen so etwas einfalle, stellte Hanna sie prompt zur Rede. »Für einen SelbstMORD ist Robert nicht der Typ, so etwas kommt für ihn nicht in Frage!« Als beschriebe sie eine Sportart. »Aggressive, paranoide Charaktere wie dein Bruder rechnen diese Art zu enden ausschließlich den anderen zu.«

»Wie soll ich das verstehen, Hanna?«

»So. Genau so.«

»So siehst du Robert?«

»So sieht er sich selbst. Ich habe ihn lediglich zitiert.«

Da dachte Jetti zum ersten Mal an ihren Bruder, als wäre er nicht eine Fortsetzung von ihr – oder sie von ihm. Und das machte ihr Angst.

Hanna setzte sich ihrer Schwägerin gegenüber an den Küchentisch und fixierte sie, und als gäbe es für Jetti endgültig etwas zu begreifen, sagte sie: »Ich mache mir um Roberts körperliches Wohl keine Sorgen, schon gar nicht um sein seelisches – um sein geistiges jedoch schon!«

»Liegt das Problem darin«, forschte Jetti weiter, und noch während sie sprach, wusste sie, dass sie wieder etwas Falsches wieder mit einer falschen Betonung sagte, konnte den Satz aber nicht mehr bremsen, »dass du befürchtest, er will dich verlassen?«, und presste die Lippen aufeinander, bevor herauskam: wegen einer anderen. Mittlerweile meinte sie, sich ihren Bruder als einen Menschen denken zu müssen, über den...

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