Nebel

Nebel

von: Mario Schlembach

Otto Müller Verlag, 2018

ISBN: 9783701362578

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 612 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Nebel



Sollte ich wieder zum Heurigen? Vielleicht ist sie ja da?

Ich bin gesättigt und müde vom Leichenschmaus und setze mich in den Garten, um die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Es war nett, unaufgeregt und fast fröhlich heute. Fühle mich wohl unter den Leuten, wie schon lange nicht mehr. Nicht eine Sekunde der Drang, mich zurückzuziehen. Selbst die lange Erinnerung, dieses Graben in meiner Vergangenheit, ist angenehm gewesen.

Um mich zu beschäftigen und noch etwas zu bewegen, mache ich dort weiter, wo ich am Vormittag aufgehört habe. Ich schleife die restlichen Stühle ab und säubere anschließend das Haus, soweit es mir möglich ist. Vater hat seine Renovierungsarbeit im alten Schlafzimmer seiner Eltern begonnen. Er hat einen neuen Holzboden verlegt. Die Wände sind neu verspachtelt und ausgeweißt. In der Mitte des Raumes steht die Pritsche, auf der ihn der Bestatter gefunden hat.

Ich habe das Zimmer bisher gemieden.

Nach einigen Stunden lasse ich mich ins Bett fallen, doch der Schlaf will nicht kommen. Ich döse vor mich hin und sehe das unscharfe Gesicht der jungen Frau. Ihre Züge versuche ich bis auf das kleinste Detail in Erinnerung zu rufen, aber ein Schleier überzieht sie.

Kleinigkeiten irgendwo: Da ein Muttermal an ihrem Hals, dort ein Grübchen und ihre strahlenden Augen, aber nichts macht das Gesicht zu ihrem Gesicht. Egal, wie sehr ich mich anstrenge, es ist nur ihre Silhouette, die ich in mir wachrufen kann. Selbst ihre Stimme klingt nicht mehr in meinem Ohr, obwohl ich sie erst vor wenigen Stunden gehört habe.

Ist es nicht die Stimme, an die man sich stets erinnert?

Mit jedem Glockenschlag in der Ferne warte ich ein bisschen länger auf sie. Ihre Arbeit beim Heurigen sollte schon lange vorbei sein und sie könnte jeden Moment kommen. Sie hat es nicht gesagt, mir keine Hoffnungen gemacht, trotzdem erwarte ich sie aufgeregt. Ich sehne mich nach ihrer Wärme und ihrem Duft, der mir noch als Einziges geblieben ist, aber langsam wieder den Raum verlässt.

Nein, heute bleibt sie fern.

Vormittag.

Schlafe tief und fest und werde erst durch ein Klopfen wach. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, wo ich bin und was gerade passiert.

Der Sohn des Bestatters steht vor der Tür und wartet. Ich ziehe mich an und rase die Stiegen hinunter. Der junge Mann, den ich zum ersten Mal bei unserem gemeinsamen Essen gesehen habe, grüßt mich und wir steigen in den Leichenwagen. Er teilt mir mit, in welche Pathologie wir fahren, dass wir danach einige Beurkundungen zu erledigen hätten und anschließend als Sargträger bei einer Beerdigung eingeteilt sind.

Ich rede nicht viel und höre mir seine Geschichte an. Er ist Mitte zwanzig, also nur einige Jahre jünger als ich und wurde, wie seine Geschwister, in der Bestattung groß, die er eines Tages in fünfter Generation übernehmen wird. In seinen Gesten lese ich eine ungespielte Abgeklärtheit. Die Rituale des Todes sind ihm zum Alltag geworden und scheinen ihn nicht zu berühren. Sein Blick und seine Worte sind fröhlich und voller Leichtigkeit. Er erledigt seine Aufgaben pflichtbewusst und geht dann seinen musikalischen Leidenschaften nach.

Von Anfang an haben wir mit gleichen Augen auf das Leben geblickt. Was unterscheidet uns?

Nach etwa einer dreiviertel Stunde Fahrzeit erreichen wir das Krankenhaus: Einzelne Gebäude, die miteinander verbunden sind, und Schilder, die erst nach längerem Studium Sinn ergeben. Der Jungbestatter fährt zwei Mal im Kreis, bis wir endlich die Pathologie erreichen. Vor der Einfahrt parkt er den Wagen, und als wir zur Tür gehen, öffnet sich langsam das große Garagentor daneben. Ein Mann in Weiß, Schnurrbart, kurzes, schwarzgefärbtes Haar, mit unzähligen Unterarmtätowierungen, begrüßt uns. Der Sohn des Bestatters macht sich vorstellig. Er spricht in einem naiven, freundlichen Ton und gibt dem Prosekturgehilfen einen Zettel in die Hand. Er dreht sich um und blickt auf die neun Kühlzellen vor ihm, die im Schachbrettmuster angeordnet sind. In der mittleren Etage öffnet er ein Fenster und zieht eine Leiche heraus. Er schlägt das Tuch auf die Seite und sagt mit einem Lachen:

„Sind wir da richtig?“

In seinem Ton liegt eine gewisse Überheblichkeit, die mit einem Hauch von Ironie überzogen ist. Der Jungbestatter kennt ausschließlich den Namen des Verstorbenen. Er hat kein Foto dabei und in seinen Notizen steht weiters nur das Krankenhaus sowie Zeitpunkt des Todes. Sie einigen sich, dass es schon der Richtige sein wird.

Wir gehen zurück zum Auto und holen den leeren Sarg aus dem Kofferraum, den die Witwe am Vortag ausgesucht hat, und legen darüber das Totengewand. Während die Leiche vom Prosekturgehilfen und einem weiteren Mitarbeiter angezogen wird, muss der Sohn des Bestatters zur Kassa, um die Rechnung zu bezahlen. Ich begleite ihn.

Mit dem Lift fahren wir von der Pathologie ins Erdgeschoss hoch. Links und rechts am Gang wartende Menschen in grünen und blauen Kitteln, mit oder ohne Mundschutz; andere in Alltagskleidung und ihre Gesichter über Zeitschriften gebeugt. Ein jeder Stuhl ist besetzt. Nach und nach ziehen Betten und Gehhilfen mit Kranken vorbei. Überall der Geruch von Desinfektion und eine seltsame Wärme, die mir den Magen verdreht. Der Jungbestatter tritt zum Kassafenster, hinter dem eine junge Dame sitzt, die kaugummikauend das Geld entgegennimmt und ihm eine Bestätigung aushändigt.

Es gibt keine Komplikationen.

Wir haben noch Zeit und gehen in die Kantine. Ich sitze dem Sohn des Bestatters gegenüber und trinke einen Kaffee, der nach Asche schmeckt. Er erzählt mir etwas, aber seine Worte dringen nicht bis zu mir durch. Geräusche um mich, die in eine Monotonie von Tönen zersplittern und die ich wie durch einen dumpfen Filter höre: Die mahlende Kaffeemaschine. Huster der Kranken aus den Gängen. Namen, die durch den Lautsprecher kratzen. Lichter im Intervallwalzer. Eine quietschende Tür öffnet sich, die andere schließt sich. Neben mir schlägt jemand eine Gratiszeitung auf, deren Titelblatt das Foto von einem Flugzeugabsturz zeigt und darüber eine Todeszahl in großen Lettern steht, die über hundert zählt. Nach jedem Satz befeuchtet der Jungbestatter seine spröden Lippen mit der Zunge. Jede Bewegung, jedes Geräusch, alles – was ich wahrnehme – scheint isoliert und doch unmerklich miteinander verbunden.

Zurück zur Pathologie. Im Lift ein Mann im Rollstuhl, der gerne nach oben möchte, aber mit uns hinunterfahren muss. Aus dem Augenwinkel, als wir wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückkommen, sehe ich, wie gerade an einer Leiche gearbeitet wird: Die aufgeschlagene weiße Haut. Das erstarrte Blut in diesem seltsamen Rot. Gedärme. Innereien in allen Farben. Lange habe ich mich diesem Blick verweigert. Habe wirkliche Angst davor gehabt, was er in mir auslösen könnte, aber, wie bei allem anderen, siegt die Gewohnheit über die Macht der Bilder.

Unser Toter liegt in seinen Kleidern in der Truhe. Der Sohn des Bestatters inspiziert den Leichnam mit einem flüchtigen Blick und drückt dem Prosekturgehilfen ein Trinkgeld in die Hand. Er bedankt sich nicht und gibt mit seinen Gesten zu erkennen, dass er sich mehr erwartet hätte.

Gemeinsam schließen wir den Deckel des Sarges und heben ihn in den Kofferraum. Bevor wir zurück aufs Land fahren können, müssen noch die Beamtenwege erledigt werden, die uns bei größtem Verkehr quer durch die Stadt führen.

Im dritten Stock des Amtshauses befindet sich die Abteilung für Sterbeurkunden. Niemand sonst ist hier. Eine Sekretärin tritt nach kurzer Zeit an ihr Pult und nimmt unser Anliegen entgegen. Sie schreibt sich die Daten auf, die sie braucht, und sagt lachend:

„Ein Kollege wird sich sofort darum kümmern.“

Die junge Dame bringt unsere Papiere in den Parteienraum, wo gerade Frühstückspause gehalten wird, und gibt uns einen Zettel, mit dem wir an der Kassa im Erdgeschoss zahlen können. Wir laufen hinunter und sind nach kurzer Zeit wieder zurück. Es sind noch keine zehn Minuten vergangen, seit wir das Gebäude betreten haben. Wir dürften kein Problem haben, unsere Beerdigung pünktlich zu erreichen. Die Sekretärin bittet uns, kurz Platz zu nehmen.

Eine Stunde später bekommen wir das Dokument ausgefertigt. Als wir zum Auto zurückkommen, liegt ein Strafzettel zwischen Scheibenwischer und Fenster eingeklemmt. Nach zwei weiteren Amtshäusern verlassen wir erst nach Mittag die Stadt. Die Zeit wird knapp. Stau auf der Autobahn. Wir nehmen eine Umfahrung. Während der Fahrt telefoniert der Jungbestatter mit einem Freund.

„Ich weiß nicht, wann es bei mir heute geht, da ist schon wieder eine Leiche gestorben.“

Rasend zieht die Landschaft an mir vorbei.

Fünf Minuten vor der Trauerfeier kommen wir am Friedhof an. Eine junge Frau, kein...

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