All die Nacht über uns - Roman

All die Nacht über uns - Roman

von: Gerhard Jäger

Picus, 2018

ISBN: 9783711753731

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 724 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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All die Nacht über uns - Roman



ZWANZIG UHR


Ein Brüllen reißt durch die Nacht. Es kommt von der linken Seite, nicht weit weg vom Turm. Der Soldat hebt kurz den Kopf, bleibt aber ruhig und entspannt auf der kleinen Bank sitzen. Nur zu gut kennt er dieses Brüllen. Aber nicht alle kennen es, nicht alle wissen, was dahintersteckt. Ein Grinsen zeichnet sich ab auf seinem Gesicht, denn letzte Woche, als er die Nacht mit einem jungen Präsenzdiener aus der Hauptstadt hier verbringen musste, war das alles anders gewesen. Schon auf dem Weg hierher, über die Wiese, über die die Dämmerung sich langsam gelegt hatte, war ihm der Bursche mit seinen Sprüchen auf die Nerven gegangen. Auch die Tatsache, dass er das Gewehr nicht über die Schulter gehängt hatte, sondern wie bei einem Einsatz in beiden Händen hielt, schussbereit, befremdete ihn. »Die neuen Befehle«, grinste der Bursche, so als ob er seine Gedanken gehört hätte, »echt was los hier beim Heer.«

Der Soldat gab keine Antwort, ging weiter über das dunkle Feld auf den Turm zu, an dessen Fuß schon die beiden Kollegen warteten, die tagsüber Dienst gehabt hatten. Es gab die üblichen dünnen Scherze, »drei haben wir erwischt, wir haben sie gleich eingegraben dort drüben«, dann verschwanden sie über das Feld, hin zu dem Weg, wo der Pritschenwagen wartete und sie und die anderen zurückbrachte.

Der junge Bursche war schon hinaufgeklettert auf den Turm, und als der Soldat ihm folgte und ebenfalls oben auf die Plattform trat, sah er ihn mit dem Feldstecher die Gegend absuchen. Er fühlte sich seltsam abgestoßen von diesem Jungen und seinem Gehabe, das mehr an einen Abenteuerurlaub erinnerte als an den Ernst ihrer Aufgabe. So setzte er sich auf die Bank und war froh, dass sein Begleiter sich wenigstens an die Dienstvorschrift hielt und schweigend das tat, was man wohl von ihm verlangte: Er behielt die Gegend im Auge, schwenkte mit dem Feldstecher von der einen Seite auf die andere, suchte den Zaun ab, das Feld, die Dunkelheit, suchte irgendetwas, was nicht hierhergehörte, was nicht hier sein durfte, auf das er sein Gewehr richten könnte, richten müsste.

Der Soldat saß schweigend hinter ihm auf der Bank und beschloss, das Beste daraus zu machen. Wenn schon der andere alles im Aug hatte, konnte er sich seinen Gedanken hingeben. Und da war einiges, was ihn beschäftigte. Er war am Wochenende zu Hause gewesen, zu Hause bei seinen Eltern, die nicht weit von der Grenze entfernt in einem kleinen Dorf wohnen, zusammen mit der Großmutter, der Mutter seines Vaters. Zu Hause, das war ein Haus mit einem Garten und einem kleinen Swimmingpool, den er zusammen mit seinem Vater vor etwa zehn Jahren gebaut hat, leider, aber daran will er jetzt nicht denken.

Er hatte das Wochenende dienstfrei gehabt, war in seiner kleinen Wohnung unter dem Dach gewesen, in der leeren Wohnung, die einmal so vertraut gewesen war und jetzt nur noch Kälte ausstrahlte und er hatte sich, wieder einmal wie so oft, vorgenommen, endlich auszuziehen, endlich eine eigene Wohnung zu suchen, endlich neu anzufangen. Er hatte einmal darüber mit seiner Mutter gesprochen, und obwohl sie laut protestiert und den Kopf geschüttelt hatte, glaubt er, dass letztlich alle froh wären, wenn er gehen würde, seine Mutter, sein Vater, seine Großmutter. Schließlich sehen sie alle, wenn sie ihm ins Gesicht sehen, immer die gleichen Bilder, immer die gleichen Schrecken, die sie nicht schlafen lassen und wenn, dann folgen ihnen diese Bilder in den Schlaf und werfen sich als Träume über sie. Es gibt einen Punkt, so denkt er sich, an dem es gar keine andere Möglichkeit gibt, als die Menschen zu verlassen, mit denen man eine gemeinsame Geschichte hat, weil diese gemeinsame Geschichte zu einem Albtraum geworden ist und nur zurückgelassen werden kann, wenn man auch die Menschen, die etwas damit zu tun haben, zurücklässt, ihre Blicke, ihre fragenden, suchenden Blicke, die sein Gesicht abtasten bei jeder Begegnung, auf der Suche nach einem Lächeln in seinen Zügen, auf der Suche nach einer Leichtigkeit in seinen Bewegungen, auf der Suche nach einem Zeichen, dass alles wieder gut ist, dass es ihm wieder gut geht, auf der Suche nach Erlösung.

So hatte er dieses Wochenende verbracht, wie unzählige andere zuvor, ohne recht zu wissen, was er tun könnte, tun sollte, war viele Stunden in der kleinen Wohnung unter dem Dach gewesen, manche Stunden im Freien, unterwegs auf den kleinen Feldwegen, die hier überall das Land durchschnitten, Schritt für Schritt für Schritt. Das Gehen, das ziellose Gehen, war seit vielen Jahren zu einer Art Lebensinhalt für ihn geworden, weil es leichter auszuhalten ist, in Bewegung zu sein, als ruhig irgendwo zu sitzen. Nur vor dem Fernseher, da kann er abschalten, das geht, das lenkt genügend ab, um den Stillstand des eigenen Körpers auszuhalten. So sitzt er an den Abenden meistens vor dem Fernseher, manchmal alleine in der kleinen, leeren Wohnung unter dem Dach, manchmal im ersten Stock im Wohnzimmer seiner Eltern, manchmal mit dem Vater, der die meiste Zeit seines Lebens vor dem Fernseher verbringt, manchmal alleine.

An diesem Samstagabend waren seine Eltern weggegangen, er war alleine mit der Großmutter, die stumm auf ihrem Polstersessel saß und so wie er auf den Fernseher starrte. Und dann kamen diese Bilder, ohne Vorwarnung, denn das blaue Wasser am Strand einer Insel, Palmen und beschwingte Musik, braun gebrannte Körper, die sich im Rhythmus wiegten und für eine Süßigkeit Werbung machten – all das konnte nicht als Vorwarnung für das dienen, was kam: die weit aufgerissenen dunklen Augen eines kleinen Jungen, der einen Daumen in seinem Mund hatte, während die Tränen über sein Gesicht liefen, so wie die Bilder über den Bildschirm, die Bilder aus diesem Lager: Menschen, bis zu den Knöcheln im Dreck zwischen Zelten, Menschen mit gesenkten Köpfen, Menschen mit leeren Augen, Menschen, die zu Schatten geworden waren und nur müde in die Kameras blickten. Er hielt den Atem an, so verstörte ihn das, was da auf ihn eindrang. Plötzlich andere Bilder: schreiende Menschen, Dutzende, Hunderte, eine Ansammlung von verzerrten Grimassen, die Hände zum Himmel erhoben, zu Fäusten geballt. Davor in einer Linie Soldaten mit Gewehren, und dann passierte das, was seitdem in allen Medien ist, in aller Munde, dann krachten die Schüsse. Bewegung entstand in der schreienden Masse, Chaos, Panik, Flucht. Irgendwo lagen Körper, irgendwo schrien Menschen, dann drängten sich andere Gesichter ins Bild, ernste Gesichter, ernste Männer mit sauberen Händen, dunklen Anzügen und ordentlich gebundenen Krawatten, mit angemessenen Worten und Gesten, mit Worten wie »Tragödie«, »eskaliert«, aber auch »Grenzen schützen«, »letztes Mittel«, »notwendig«, und mitten in all dieser grauenhaften Symphonie, die aus dem Fernseher auf ihn eindrang, sprang plötzlich die Großmutter aus ihrem Polstersessel auf in einer schnellen Bewegung, die er ihr niemals zugetraut hätte. Sie drehte sich um, weg vom Fernseher, und für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke. Ihr Gesicht in diesem Augenblick hat sich in sein Inneres eingebrannt, das hat er mitgenommen in den Tagen danach, in den Nächten danach, auch als er mit diesem Burschen letzte Woche auf den Turm gehen musste, um die ganze lange Nacht Wache zu halten, auch da war dieses Gesicht seiner Großmutter in seinem Inneren dabei: ihre aufgerissenen Augen, ihre zusammengepressten Lippen, Tränen auf den Wangen. Sie ging an ihm vorbei, den Blick zu Boden gesenkt, vorbei in diesem Wohnzimmer in diesem Haus in diesem kleinen Dorf, das nicht weit von der Grenze entfernt ist und in dem sein Vater vor Wochen schon die Schlösser ausgetauscht hatte.

Die Tür fiel zu, er war alleine im Wohnzimmer und sah, dass der Fernseher schon wieder eine andere Welt anzubieten hatte, einen Hund, braun, groß, mit seidig glänzendem Fell, der in Zeitlupe über einen Bach sprang und mitten in der Luft stehen blieb, während eine Schrift nach oben lief, zusammen mit einer Schachtel Hundefutter, und von rechts oben rot glitzernde Sterne über den Bildschirm rieselten.

Der Soldat sprang auf, nahm die Fernbedienung und schaltete ab. Die plötzliche Ruhe erschreckte ihn. Er ging ein paar Schritte zum Fenster, schaute hinaus in die hereinbrechende Dunkelheit und fühlte sich unangenehm an seinen Vater erinnert, der seit Wochen, Monaten, jeden Abend aus den Fenstern schaute, die Gegend beobachtete, den Garten im Auge behielt. Diese Gedanken ärgerten ihn und er verließ fluchtartig das Wohnzimmer, stieg mit hastigen Schritten hinauf in die kleine Wohnung, in die leere Wohnung unter dem Dach, das Gesicht seiner Großmutter in Gedanken mit nach oben nehmend, dieses Gesicht, das jetzt wieder in all seinem Entsetzen in seinem Inneren vor ihm stand, wie ein seltsamer Lampion, so vertraut, so fremd. Und in diesem Moment riss dieses Brüllen durch seine Gedanken und holte ihn auf den nächtlichen Turm zurück, auf dem sein junger Begleiter zusammenzuckte, sich instinktiv hinter die Brüstung duckte, den Feldstecher ablegte, das Gewehr packte, anlegte und in die Dunkelheit hinauszielte. »Was ist das?«, flüsterte er und wieder ein Brüllen und noch eines von der anderen Seite. Der Präsenzdiener wirbelte herum, richtete...

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