Machtnix oder Der Lauf, den die Welt nahm

Machtnix oder Der Lauf, den die Welt nahm

von: Barbara Frischmuth

Residenz Verlag, 2018

ISBN: 9783701745807

Sprache: Deutsch

220 Seiten, Download: 258 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Machtnix oder Der Lauf, den die Welt nahm



WIE AUS MACHT NIX MACHTNIX WURDE UND SIE DER ZWEIFALTIGEN KRÖTE BEGEGNETE


Der Krieg war zu Kräften gekommen und mischte sich andauernd ein. Er kam überall hin und konnte jede beliebige Gestalt annehmen. Das Mädchen hatte er aus seinem Haus vertrieben, aus seiner Stadt und aus seinem Land. Er stank Tag und Nacht durch die Gegend. Gerade hatte er wieder einen großen Haufen hingesetzt, und als das Mädchen näher kam, waren es lauter tote Frösche.

»Sei kein Frosch«, rief der Bursche, dem das Mädchen schon im Lager begegnet war, »sonst muss ich dich auch aufspießen!«

Das Mädchen schob die Unterlippe vor. »Macht nix!« Der Krieg zerplatzte beinah vor Wut, und der Bursche näherte sich mit seinem hölzernen Spieß. Damit schlug er dem Mädchen auf die Knie.

Da kam zufällig die zweifaltige Kröte angewatschelt und blies sich auf, dass ihre Giftdrüsen sich nur so beulten.

»Das ist ja gar kein Frosch!« Der Bursche erschrak und rannte mit seinem Spieß davon.

Da schaute die zweifaltige Kröte dem Mädchen unter den Rock und machte »Hm!« Dann schaute sie dem Mädchen ins Gesicht und fragte: »Woher kommst du?«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Wer sind deine Eltern?«

Das Mädchen antwortete wieder nicht.

»Und wie heißt du?«

Das Mädchen antwortete noch immer nicht. »Entschuldige, ich konnte ja nicht wissen, dass es so schlimm ist.«

»Macht nix!«, sagte das Mädchen.

Dieser Satz war ein Zauberspruch. Er machte unverwundbar und stammte aus dem Lager, wie der Bursche, der die Frösche aufgespießt hatte.

»Irgendwie muss ich dich ja nennen.« Die zweifaltige Kröte blinzelte. »Die Menschen werden einander von Tag zu Tag ähnlicher, und ich möchte dich nicht verwechseln.«

»Macht nix!«, wiederholte das Mädchen.

»Also gut, das hätten wir.« Die zweifaltige Kröte sah aus, als denke sie nach. »Ich will sehen, was sich mit diesem Namen anfangen lässt. Macht Macht mächtig oder macht Macht ohnmächtig? Wer weiß, was so ein Nix, ein Nixchen alles fertigbringt?!«

Die zweifaltige Kröte schaute Machtnix an, und Machtnix schaute die zweifaltige Kröte an, in deren Augen Goldstaub schwamm.

Außer dem, was es auf dem Leibe trug, war dem Mädchen nichts geblieben als eine Tube Klebstoff, die es aus dem Büro des Lagerleiters mitgenommen hatte.

»Ich will mich nicht erinnern«, sagte Machtnix in der Sprache, die ihr gerade einfiel. In ihrem Kopf waren keine Eltern, kein Haus und kein Name mehr.

»Eine ehrliche Antwort«, gab die Kröte zu, »und nun zu mir …«

»Herrlein oder Fräulein?«

Machtnix bohrte mit ihrem Turnschuh ein Loch in den Weg, den sie gekommen war.

Die zweifaltige Kröte hob den Kopf. »In meinem Alter nimmt man es nicht mehr so genau. Einmal so und einmal so. Einerseits bin ich Dem Krottok, der Schöpfer …«

»Der Schöpfer?«

»Ich war an der Schöpfung der Welt beteiligt, wenn du verstehst, was ich meine.« Die Kröte lächelte selbstgefällig.

Machtnix überlegte. »Bist du sicher, dass es nicht wegen deinem Maul ist? Es schaut einem Schöpfer ziemlich ähnlich.«

Die Kröte überging Machtnix’ kränkenden Vergleich. »Und andererseits bin ich Bufo-ma-bufo, die Mutter aller Kröten. Aus meinen Laichschnüren sind nämlich alle anderen Lebewesen entstanden.«

»Aus deinen was?« Machtnix riss die Augen auf.

»Aus meinen ureigenen Laichschnüren, glaub es oder glaub es nicht!«

Machtnix schaute verdattert.

»Sehr gebildet scheinst du nicht zu sein. Aber wenn du ein wenig Geduld hast, zeige ich dir schon noch, wo das mit den Laichschnüren hinführt.«

Sie befanden sich an der Grenze und überlegten, wie sie am besten hinüberkämen. Der Krieg hatte alles zur Grenze gemacht, die Berge, die Wälder, die Flüsse, die Seen, und wenn es ihm gerade einfiel, konnte auch ein Feld die Grenze sein oder ein Dorf, ja sogar die Straße. Sie versuchten also, die Grenze hinter sich zu lassen, indem sie sich nicht um sie kümmerten. Sie hatten Glück. Auch die Grenze kümmerte sich nicht um sie. So gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her und ließen die Sonne auf sich herunterscheinen.

»Gehörst du zu einem Volk?«, fragte die zweifaltige Kröte.

»Volk? Was soll das denn schon wieder sein?«

»Volk«, erwiderte die Kröte, »das sind die, die einem wie mir volken, wenn du verstehst, was ich meine. Darum sind sie mein Volk.«

Machtnix überlegte. »Ich dachte, es heißt folgen.«

Die Kröte schloss vor Genugtuung die Augen. »Womit bewiesen ist, dass du zu einem anderen Folg gehörst.«

Plötzlich setzte sich Machtnix.

»Hungrig?« Die zweifaltige Kröte schnappte sich einen Käfer vom nächsten Blatt und schluckte ihn ohne viel Federlesens.

Machtnix nickte, und da kein Butterbrot des Weges kam, holte sie die kleine Tube hervor, strich sich ein wenig von dem Klebstoff auf den Handrücken und schnüffelte daran.

»Was ist das für eine Unart?«, fragte die Kröte, während sie nach dem nächsten Gabelbissen Ausschau hielt.

Machtnix zuckte mit den Achseln und verdrehte die Augen.

»Wenn du hungrig bist, dann iss!«, sagte die Kröte im Befehlston. »Man ist, weil man isst.«

Machtnix starrte alles mögliche an, aber es wurde nichts Essbares daraus.

»Das kommt davon, weil ihr Menschen mit dem Kochen angefangen habt, glaub es oder glaub es nicht.« Die zweifaltige Kröte wischte sich ein Käferbein vom Saum ihres breiten Maules. »Und was ist dabei herausgekommen? Schmutzige Teller und sonst nichts.« Sie setzte sich in Bewegung. »Ich kenne da einen Baum, der dir vielleicht helfen kann.«

Als sie an dem Haufen toter Frösche vorbeikamen, blieb die Kröte stehen und schimpfte: »Diese Verschwendung!« Sie hob den Blick suchend zum Himmel auf. »Wann immer einer dieser klappernden Aasgeier vonnöten wäre, lässt sich kein Schwanz blicken. So ist das. Wir brauchen uns wirklich nichts einzubilden auf diese Welt.«

Sie gingen weiter, und als sie eine Weile gegangen waren, stellte sich ihnen ein Zaun in den Weg, ohne viel gegen sie auszurichten. Machtnix betrachtete den Zaun aufmerksam – es handelte sich um einen Bretterzaun –, dann kletterte sie über die Balken, während die Kröte bequem unten durch ging. Eigentlich zäunte der Zaun gar nichts ein, oder er lief um ein so großes Stück Land, dass man ihn nur auf dieser Seite sehen konnte.

Sie wandelten über eine Wiese, auf der das Schaumkraut wie ein Spitzentaschentuch lag. Büsche und Sträucher hatten ihre Blätter entfaltet und setzten gerade grüne, noch sehr harte Beeren an, an denen Vögel vergebens die Schnäbel wetzten, während die Wegwarten an den Wegrändern freundlich dazu nickten. Grenze hin, Grenze her, die Kröte hatte ohnehin etwas gegen öffentliche Verkehrswege, vor allem gegen Asphaltstraßen. Manch eine ihrer Art hatte für den geraden Weg als Schatten ihrer selbst gebüßt. Also nahmen sie lieber alle möglichen Windungen und Wandungen in Kauf und gingen querfeldein, wo auch die Grenze nicht mehr den richtigen Biss hatte.

Plötzlich hielt die zweifaltige Kröte inne und deutete mit dem Kopf nach vorn. »Siehst du diesen Graben?« Machtnix sah diesen Graben, aber es schien ihr nichts Besonderes an ihm zu sein, führten doch Treppen hinunter und auf der anderen Seite, wenn auch um ein Stück verschoben, wieder hinauf.

»Die Sache ist nämlich die, dass sich durch diesen Graben eine Schlange schlängelt. Und Schlangen lieben Kröten von alters her.« Die Kröte lachte so unbefangen, wie es nur gehen mochte. »Sie haben sie zum Picknicken gern, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Verstehe.« Machtnix machte sich noch immer nicht die Mühe, ich zu sagen.

»Bei dir ist es etwas anderes. Dich beißt sie, aber nur, wenn du auf sie trittst.«

Die zweifaltige Kröte umklammerte Machtnix’ Beine. »Nimm mich hoch!« Wahrscheinlich konnte sie die Schlange schon riechen. »Du musst die Krot ja nicht schlucken! Es genügt, wenn du sie an die Brust nimmst!« Sie verkutzte sich beinah an...

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