Asymmetrie - Roman

Asymmetrie - Roman

von: Lisa Halliday

Carl Hanser Verlag München, 2018

ISBN: 9783446261273

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 1597 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Asymmetrie - Roman



 

 

Alice wurde es langsam leid, so allein herumzusitzen und nichts zu tun zu haben: Immer mal wieder warf sie einen Blick in das Buch auf ihrem Schoß, doch es waren fast nur lange Absätze und keinerlei Anführungszeichen darin, und was lässt sich schon mit einem Buch anfangen, dachte Alice, in dem es keine Anführungszeichen gibt?

Daher überlegte sie gerade (so gut es eben ging, denn es war nicht ihre Stärke, Dinge zu Ende zu bringen), ob sie wohl eines Tages selbst ein Buch schreiben sollte, als sich plötzlich ein Mann mit zinngrauen Locken und einem Eishörnchen von Mister Softee drüben an der Ecke neben sie setzte.

»Was lesen Sie da?«

Alice zeigte es ihm.

»Ist das das mit den Wassermelonen?«

Wassermelonen waren zwar noch nicht vorgekommen, aber Alice nickte trotzdem.

»Was lesen Sie sonst noch?«

»Ach, meist alte Sachen.«

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander; der Mann aß sein Eis, und Alice tat, als wäre sie in ihr Buch vertieft. Eine Joggerin drehte sich im Vorbeilaufen nach ihnen um, dann noch eine. Alice wusste, wer er war – sie hatte es von dem Moment an gewusst, als er sich zu ihr gesetzt hatte und ihre Wangen wassermelonenrot geworden waren –, aber vor Erstaunen konnte sie nur wie ein fleißiger Gartenzwerg in das undurchdringliche Buch starren, das offen in ihrem Schoß lag. Es hätte genauso gut aus Beton sein können.

»Also gut«, sagte der Mann und stand auf. »Wie heißen Sie?«

»Alice.«

»Die gern alte Sachen liest. Bis bald mal.«

 

Am Sonntag darauf saß sie an derselben Stelle und versuchte, ein anderes Buch zu lesen, diesmal über einen zornigen Vulkan und einen von Blähungen geplagten König.

»Sie«, sagte er.

»Alice.«

»Alice. Wozu lesen Sie das? Ich dachte, Sie wollen Schriftstellerin werden?«

»Wer hat das gesagt?«

»Sie, oder etwa nicht?«

Mit leicht zitternder Hand brach er ein Stück von seiner Schokolade ab und gab es ihr.

»Danke«, sagte Alice.

»Vofür denn.«

Alice biss von der Schokolade ab und sah ihn fragend an.

»Kennen Sie nicht diesen Witz? Fliegt ein Mann nach Honolulu und fragt seinen Sitznachbarn: ›Verzeihung, wie spricht man das aus, Hawaii oder Havaii?‹ ›Havaii‹, sagt der andere. ›Danke‹, sagt der Mann. Darauf der andere, ›Vofür denn.‹«

Noch immer kauend, lachte Alice. »Ist das ein jüdischer Witz?«

Der Schriftsteller schlug die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. »Was glauben Sie?«

 

Am dritten Sonntag kaufte er bei Mister Softee zwei Hörnchen und bot ihr eins davon an. Alice nahm es, genau wie zuvor die Schokolade, denn es begann schon zu tropfen, und mehrfache Pulitzer-Preisträger hatten ohnehin Besseres zu tun, als Leute zu vergiften.

Sie aßen ihr Eis und beobachteten zwei Tauben, die nach einem Strohhalm pickten. Alice, deren blaue Sandalen farblich genau zu dem Zickzackmuster auf ihrem Kleid passten, streckte träge einen Fuß in der Sonne aus.

»Also gut, Miss Alice. Sind Sie dabei?«

Sie sah ihn an.

Er sah sie an.

Alice lachte.

»Sind Sie dabei?«, fragte er noch einmal.

Wieder zu ihrem Hörnchen gewandt, sagte sie: »Na ja, was spricht schon dagegen?«

Der Schriftsteller stand auf, warf seine Serviette weg und kam wieder zu ihr. »Oh, eine Menge.«

Alice blinzelte zu ihm hinauf und lächelte.

»Wie alt sind Sie?«

»Fünfundzwanzig.«

»Freund?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Job?«

»Ich bin Lektoratsassistentin. Bei Gryphon.«

Die Hände in den Taschen, hob er leicht das Kinn. Offenbar fand er, das passte.

»Gut. Sollen wir nächsten Samstag zusammen spazieren gehen?«

Alice nickte.

»Um vier Uhr hier?«

Sie nickte noch einmal.

»Am besten notiere ich mir Ihre Nummer. Falls irgendetwas dazwischenkommt.«

Während ein weiterer Jogger langsamer lief, um ihn anzusehen, schrieb Alice ihre Nummer auf das Lesezeichen, das dem Buch beigelegen hatte.

»Jetzt wissen Sie nicht mehr, an welcher Stelle Sie waren«, sagte der Schriftsteller.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Alice.

 

Am Samstag regnete es. Alice saß gerade auf ihrem Schachbrett-Badezimmerboden und versuchte, den kaputten Toilettensitz wieder festzuschrauben, als ihr Handy klingelte: UNBEKANNTER TEILNEHMER.

»Hallo, Alice? Hier ist Mister Softee. Wo sind Sie?«

»Zu Hause.«

»Das heißt?«

»Fünfundachtzigste, Kreuzung Broadway.«

»Ah, direkt um die Ecke. Wir könnten uns ein Dosentelefon bauen.«

Alice stellte sich eine Schnur über der Amsterdam Avenue vor, die leicht durchhing wie ein Riesenspringseil und vibrierte, wenn sie miteinander sprachen.

»Gut, Miss Alice. Was sollen wir machen? Möchten Sie hierher kommen, und wir unterhalten uns ein wenig? Oder sollen wir ein andermal zusammen spazieren gehen?«

»Ich komme.«

»Sie kommen. Sehr gut. Halb fünf?«

Alice schrieb die Adresse auf einen Werbebrief. Dann legte sie sich die Hand über den Mund und wartete.

»Das heißt, lieber um fünf. Um fünf Uhr hier bei mir?«

 

Der Regen strömte über die Gehwege und durchnässte ihre Schuhe. Die Taxis auf der Amsterdam, von deren Reifen das Wasser hochspritzte, fuhren offenbar viel schneller als an trockenen Tagen. Der Türsteher verfiel in eine Art Kreuzigungshaltung, um sie durchzulassen, und Alice trat zielstrebig ein: mit langen Schritten, aus runden Wangen prustend und den Schirm ausschüttelnd. Der Aufzug war von oben bis unten mit poliertem Messing verkleidet. Entweder waren die Etagen sehr hoch oder der Aufzug sehr langsam, denn Alice hatte viel Zeit, ihren unendlich vielen Spiegelkabinettgesichtern stirnrunzelnd skeptische Blicke zuzuwerfen und sich mehr als nur ein wenig zu sorgen, was wohl als Nächstes passieren würde.

Die Aufzugtüren öffneten sich, und sie kam in einen Flur mit sechs weiteren grauen Türen. Sie wollte gerade an die erste anklopfen, als sich gegenüber dem Aufzug eine andere Tür einen Spalt breit öffnete und eine Hand herausgestreckt wurde, die ein Glas hielt.

Alice nahm es. Darin war Wasser.

Die Tür schloss sich wieder.

Alice trank einen Schluck.

Als die Tür sich das nächste Mal öffnete, flog sie weit auf, scheinbar ganz von allein. Alice zögerte, dann ging sie mit ihrem Wasser durch einen kurzen Flur in einen hellen weißen Raum, in dem unter anderem ein Zeichentisch und ein ungewöhnlich breites Bett standen.

»Zeigen Sie mir Ihre Handtasche«, hörte sie ihn hinter sich sagen.

Sie zeigte sie ihm.

»Und jetzt bitte öffnen. Aus Sicherheitsgründen.«

Alice stellte ihre Handtasche auf das Glastischchen zwischen ihnen und öffnete die Schnalle. Sie nahm ihr Portemonnaie heraus: ein abgewetztes Herrenmodell aus braunem Leder. Ein Rubbellos, das einen Dollar gekostet und genauso viel eingebracht hatte. Ein Lippenpflegestift. Ein Kamm. Ein Schlüsselbund. Eine Haarspange. Ein Druckbleistift. Etwas Kleingeld und schließlich drei Tampons, die wie Gewehrpatronen in ihrer Hand lagen. Fusseln. Sand.

»Kein Handy?«

»Das habe ich zu Hause gelassen.«

Er nahm das Portemonnaie und fuhr mit dem Finger über eine lose Naht. »Das ist eine Schande, Alice.«

»Ich weiß.«

Er öffnete das Portemonnaie und nahm ihre Bankkarte, ihre Kreditkarte, ihren Führerschein, eine abgelaufene Dunkin’-Donuts-Geschenkkarte, ihren Studentenausweis und dreiundzwanzig Dollar in Scheinen heraus. Dann hielt er eine der Karten hoch und sagte: »Mary-Alice.« Alice zog die Nase kraus.

»Mary gefällt Ihnen nicht.«

»Ihnen

Einige Augenblicke sah er abwechselnd sie und die Karte an, als versuchte er sich zu entscheiden, welche Version ihm besser gefiel. Dann nickte er, klopfte die Karten auf dem Tisch zu einem sauberen Stapel zusammen, wickelte ein Gummiband aus seinem Schreibtisch darum und ließ sie wieder in ihre Handtasche fallen. Das Portemonnaie warf er in hohem Bogen in einen Drahtpapierkorb, den ein weißer Kegel entsorgter Schreibmaschinenseiten kränzte. Der Anblick schien ihn für einen Moment zu ärgern.

»Also, Mary-Alice …« Er setzte sich und bedeutete ihr, dasselbe zu tun. Sein Lesesessel war mit schwarzem Leder bezogen und lag tief wie ein Porsche-Sitz. »Was kann ich sonst noch für Sie tun?«

Alice sah sich um. Auf dem Zeichentisch erwartete ein neues Manuskript seine Aufmerksamkeit. Dahinter führten zwei gläserne Schiebetüren auf einen kleinen Balkon, der durch den darüber vor Regen geschützt wurde. Das große Bett hinter ihr war so sorgfältig gemacht, dass es abweisend wirkte.

»Möchten Sie nach draußen gehen?«

»Okay.«

»Keiner lässt den anderen fallen. Abgemacht?«

Alice, die immer noch anderthalb Meter von ihm entfernt saß, streckte lächelnd eine Hand aus. Der Schriftsteller sah sie an und senkte dann eine ganze Weile zweifelnd den Blick darauf, als stünde auf ihrer Handfläche das Für und Wider jedes einzelnen Mals, als er jemandem die Hand geschüttelt hatte.

»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er schließlich. »Komm her.«

 

Seine Haut war faltig und kühl.

Er hatte weiche Lippen – doch dahinter kamen seine Zähne.

Im Vorzimmer zu ihrem Büro im Verlag hingen nicht weniger als drei gerahmte National-Book-Award-Urkunden mit seinem Namen.

Beim zweiten Mal verstrichen auf ihr Klopfen hin mehrere Sekunden ohne Antwort.

»Ich bin’s«, sagte Alice zur Tür.

Sie öffnete sich einen Spalt breit, und heraus kam eine Hand mit einer Schachtel.

Alice nahm...

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