
Short
von: Holly Goldberg Sloan
Carl Hanser Verlag München, 2018
ISBN: 9783446261174
Sprache: Deutsch
256 Seiten, Download: 1725 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Eins
Ich schaue ziemlich oft nach oben.
Meine Eltern sind nicht klein. Meine Mum ist sogar eher groß. Aber Grandma Däumling (ja, wir nennen sie wirklich so) ist winzig. Ich bin nicht besonders gut in Bio, aber manchmal überspringen die Gene eine oder zwei Generationen und bringen die ganze Sache ziemlich durcheinander. Vielleicht, damit man eine bessere Beziehung zur älteren Generation aufbauen kann.
Eines Abends, ich war in der dritten Klasse, merkte ich, dass ich Halsschmerzen bekam. Ich ging runter, um nach einem Halsbonbon zu fragen, oder wenigstens ein Glas warmes Salzwasser zum Gurgeln zu bekommen. Wenn vom Nachtisch ein Erdnussbutter-Cookie übrig war, würde der vielleicht auch helfen. Meine Eltern saßen noch im Wohnzimmer, und ich hörte, wie mein Vater gerade sagte: »Gott sei Dank ist Julia ein Mädchen. Stell dir vor, sie wäre ein Junge und derart zu kurz geraten!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Sie redeten über mich.
Ich war sicher, Mum würde jetzt sagen: »Also hör mal, Glen, so kurz geraten ist sie nun auch wieder nicht!« Aber das tat sie nicht. Sie sagte: »Ja, oder? Meine Mutter ist schuld. Däumling hat ihr das angetan.« Und dann lachten sie beide.
Man hatte mir etwas angetan.
Wie ein Verbrechen.
Jemand war schuldig.
Ich weiß, dass sie mich total lieb haben, aber ich bin zu kurz geraten und sie nicht. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, dass meine Körpergröße ein Problem für sie war. Ihre Worte lagen wie Blei auf meinen Schultern, dabei hatte ich nicht mal einen Bademantel an. Es war ein Gefühl wie Sand in nassen Schuhen oder so ein Wuschelknoten im Haar, der sich nicht rauskämmen lässt, weil Kaugummi drin klebt. Außerdem war ihre Bemerkung teilweise sexistisch, und das ist auch nicht okay.
Ich bin wieder nach oben in mein Zimmer gegangen und hab nicht mehr nach einer Lutschtablette gefragt. Ich schlüpfte unter die Bettdecke zu meinem Hund Ramon. Er schlief mit dem Kopf auf meinem Kissen. Als wir ihn bekommen haben, durfte er noch nicht aufs Bett. Aber bei Hunden gelten Regeln nicht so wie bei Menschen. Ich flüsterte Ramon ins Ohr: »Ich werde das Wort ›kurz‹ nie wieder in den Mund nehmen.«
Ich ahnte nicht, wie schwer das werden würde.
Tatsache ist: In der Schule bin ich auf Gruppenbildern immer in der ersten Reihe. Keiner aus der Klasse – auch meine besten Freundinnen nicht – wählt mich in seine Mannschaft, wenn wir Basketball spielen. Ich kann gut passen, bin aber zu leicht zu blocken.
Bei Familienausflügen sitze ich in der dritten Reihe, auf dem Platz ganz hinten. Ich kann mich leichter zwischen die Koffer quetschen, und außerdem macht es mir nichts aus, gegen die Fahrtrichtung zu sitzen.
Ich brauche einen Tritt, um an die Wassergläser in der Küche zu kommen, und ich bin noch nicht zu groß, um durch die Hundeklappe ins Haus zu kriechen, wenn wir uns zufällig ausgesperrt haben. Und das passiert öfter, als man denkt.
Grandma Däumling nennt mich den Familienterrier. Sie behauptet, Terrier sind vielleicht klein, aber zäh. Ich bin mir nicht sicher, ob das jetzt gut oder schlecht ist. Ich kannte nämlich nur einen einzigen Terrier wirklich, Riptide hieß er, und der war bissig.
Bis vor sieben Wochen hatten wir Ramon.
Der war kein Terrier.
Er war schwarz-weiß gepunktet und nicht reinrassig. Eine »Promenadenmischung«. Das Wort mag ich aber nicht. Es hat einen negativen Beigeschmack, das heißt, man kann sich etwas Schlechtes dabei denken. Manche Leute hielten ihn für eine Pitbullmischung, weil er einen ähnlichen Körperbau und einen großen Kopf hatte. Ich mag ihn aber nicht so einordnen.
Er stammte aus dem Tierheim, und wir hatten ihn an einem Parkplatz übernommen, neben einem Wochenmarkt, wo das Tierheim regelmäßig einen Stand hat. Er war der absolut beste Hund auf der ganzen Welt. Wir hatten ihn über fünf Jahre, und dann, vor anderthalb Monaten, ist er auf Papas Sessel rauf (ich weiß gar nicht, wieso der Sessel so heißt, auf den setzen wir uns nämlich alle, sogar der Hund, wenn es keiner sieht). Jedenfalls war Ramon auf dem Sessel, also auf dem einzigen Platz, auf dem er nicht sitzen sollte.
Das Sofa ist okay, weil da eine Decke drauf liegt, und die kann man waschen. Papas Sessel aber ist ein Ledersessel.
Ich kam also rein und sagte: »Ramon, runter da!«
Er verstand viele Wörter, z. B. »Leckerli!« und »Sitz!« und »Lauf!« und »Eichhörnchen!« und »Platz!«, aber an dem Tag reagierte er, als hätte er noch nie irgendeinen Laut gehört. Er schaute ganz starr geradeaus, und dann knickte irgendwie sein ganzer Körper ein. So als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen.
Hinterher haben wir erfahren, dass er herzkrank war. Was auf dem Sessel passierte, war die Folge davon.
An dem Abend ist Ramon gestorben, beim Tierarzt, eingewickelt in meine grüne Lieblingsdecke.
Wie alt er war, wissen wir nicht, weil wir ihn ja adoptiert hatten. Wir wissen bloß, dass wir ihn mit jeder Faser unseres Herzens liebten.
Ich warte immer noch darauf, dass er gleich um die Ecke kommt. Ich gehe ins Wohnzimmer und denke, da sitzt er jetzt auf dem Sofa. Oder in der Küche, wo er am liebsten auf dem blauen Teppich direkt vor dem Kühlschrank lag. Er wusste genau, wo er im Weg war. Na ja, in Wahrheit hatte er einfach nur ein Gespür für die besten Plätze.
Grandma liebt Nachrufe, also im Grunde Nachrichten über Tote. Wenn sie bei uns zu Besuch ist, liest sie mir welche vor. Ich wünschte, es gäbe so was auch für Haustiere. Dann könnte man so interessante Sachen lesen wie:
HIESIGE KATZE BEI AUTOUNFALL UMS LEBEN GEKOMMEN
oder:
SIE WAR DIE SCHÖNSTE HÜNDIN IHRER ZEIT
oder vielleicht:
HAMSTER WAR VORREITER EINER NEUEN BEWEGUNGSTHEORIE
vielleicht sogar:
BEKANNTER GOLDFISCHCHEF STIRBT UNTER MYSTERIÖSEN UMSTÄNDEN
Diese Überschrift hat mir Grandma mal vorgelesen, als ich noch jünger war, und ich habe sie nie mehr vergessen. Nur ging es nicht um einen Goldfisch, sondern um einen Militärchef in Südamerika. An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Historische Fakten sind nicht meine Stärke.
Von einer Sache bin ich inzwischen überzeugt: Das Leben ist einfach ein großer und langer Kampf um Beifall.
Selbst wenn die Leute sterben, hoffen sie, dass jemand ihre Verdienste auflistet.
Auch Haustiere brauchen Lob. Okay, Katzen vielleicht nicht. Aber unser Hund war überglücklich, wenn ich sagte: »Gut gemacht, Ramon!«
Sein Nachruf hätte gelautet:
BESTER HUND DER WELT HINTERLÄSST GEBROCHENE HERZEN UND EIN LEERES HAUS
Seit dem Abend seines Herzinfarkts im Ledersessel versuche ich über den Verlust von Ramon hinwegzukommen. Meine Eltern sagen: Die Zeit heilt alle Wunden. Doch das stimmt einfach nicht, weil es alle möglichen Sachen gibt, die die Zeit nicht heilt. Wenn man sich zum Beispiel das Rückgrat bricht, kann die Zeit das nicht heilen. Dann kann man nie wieder gehen.
Deswegen glaube ich, mit dem Spruch meinen sie, dass eines Tages der Schmerz nicht mehr so schmerzt.
Vielleicht sollte man sagen: Die Zeit schafft es irgendwie, dass die Wunden weniger wehtun.
Das wäre genauer.
Mein Schuljahr ist vor zehn Tagen zu Ende gegangen. Ich weiß nicht, warum das Schuljahr und das normale Jahr nicht am gleichen Tag enden und beginnen. Es kommt mir irgendwie völlig falsch vor, dass das neue Jahr am ersten Januar beginnt. Wenn ich bestimmen könnte – was noch nie passiert ist –, dann würde ich Neujahr auf den 15.Juni legen und zum Feiern allen Kindern zwei Monate schulfrei geben.
Jetzt, wo das Schuljahr vorbei ist, schaffe ich es hoffentlich, meinen Schmerz über Ramons Tod loszuwerden, weil mich das sonst vielleicht in meiner Entwicklung hemmt.
Aber ich werde Ramon nicht vergessen.
Niemals.
Ich hab um sein Halsband gebeten, und irgendwie hatte ich den Eindruck, meine Eltern waren nicht sonderlich glücklich, als ich es um meine Nachttischlampe legte. Wenn man genau hinschaut, entdeckt man noch Haare auf der Innenseite. Es riecht auch nach ihm.
Es ist kein toller Geruch, aber es ist seiner, und das ist das Wichtigste. Das Metallschildchen mit seinem Namen habe ich am Fußende meines Bettes angebracht, sodass ich jeden Morgen beim Aufwachen RAMON vor mir sehen kann. Mir ist es wichtig, dass ich den Tag damit beginne, an ihn zu denken.
Ehrlich gesagt glaube ich, dass er jeden Tag damit begann, an seinen Futternapf zu denken. Er hat wahnsinnig gern gefressen.
Ich war diejenige, die ihn gefüttert hat.
Ich behaupte nicht, dass er mich deswegen am liebsten hatte. Aber wahrscheinlich war das mit ein Grund dafür.
Außer dem Halsband habe ich auch noch eine geschnitzte Holzfigur, die mein Onkel Jake für mich gemacht hat. Sie sieht genauso aus wie Ramon.
Onkel Jake war früher ein ganz normaler Versicherungsvertreter in Arizona, wo er mit Tante Megan lebt. Eines Tages hatten sie einen Verkehrsunfall. Onkel Jake wurde am Rücken verletzt und musste lange liegen. Tante Megan hatte Angst, er würde im Bett verrückt werden, weil er so ein unruhiger Typ ist. Deswegen kaufte sie ihm in einem Bastelladen ein Set für Holzschnitzarbeiten.
Das erste Stück, das er geschnitzt hat, hieß »Der alte Seebär«. In seinem Schnitzkasten lag schon ein handtellergroßer Holzblock in der...