Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist

Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist

von: Ned Beauman

Contemporanul, 2018

ISBN: 9783455004175

Sprache: Deutsch

480 Seiten, Download: 1018 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist



Man hat mir eine Assistentin geschickt.

Ich bin heute Morgen reingekommen, und da war sie. Als hätte jemand das Bild einer Assistentin in meinem Kopf in Fleisch und Blut verwandelt: zwanzig Jahre alt und von so zartschmelzender Jugend unter ihrem prüden Gingham-Kleid, dass es fast wehtut, sie anzusehen, wie ein Barren direkt aus dem Schmelzofen, aber auch ernsthaft, tüchtig und aufrichtig froh über den Job. Ihr Name ist Frieda, und sie wohnt mit ihren Eltern und ihren zwei kleinen Brüdern nicht weit von meiner Wohnung in Springfield. Ich fragte sie, wer ihr die Sicherheitsfreigabe für die Arbeit in der Lagerhalle erteilt habe, und sie antwortete, es sei ein Mann namens Mr. McKellar gewesen. Also hat sich Winch entgegen all seinen Beteuerungen, er sei machtlos, doch für mich eingesetzt. Natürlich verdoppelt meine neue Assistentin die Chancen, dass ich finde, wonach ich in »all den Beweisstücken für meinen Fall« suche – als hätte man zwei Lotterielose gekauft statt einem. Sollte es nur fünf Jahre dauern, den Sieg gegen das Lagerhaus zu erringen, statt zehn, wird mich meine Leber trotzdem lange vor dem Ziel umbringen: Es ist nicht nur das Trinken, dazu kommt noch meine Organschädigung, als ich ’57 wegen einer Bauchhöhlenpunktion fast verblutet wäre. Die Hilfe des Mädchens wird so zwecklos sein wie alles andere in meinem Leben.

Trotzdem ist es schön, sie um mich zu haben. Erst als ich mir vorzustellen versuchte, wie das Beweislager auf sie wirken muss, kam ich auf die Idee, eine Kaffeemaschine und ein Radio zu besorgen. Den Vormittag habe ich damit verbracht, ihr beizubringen, wie ein Schneidetisch funktioniert. Nach der Mittagspause, als sie ihr Schinkensandwich verzehrt hatte, bemerkte ich, dass sie ihren rechten Daumen mit einer klaren Flüssigkeit aus einem Fläschchen bestrich, aber es roch nicht nach Nagellack. Als ich nachfragte, errötete sie und gestand mir, dass sie es nie geschafft habe, sich das Daumenlutschen abzugewöhnen, und sich den Daumen deshalb zweimal am Tag mit Bitterapfelessig einstreiche. Nur leider funktioniere es nicht mehr so gut, weil sie den Geschmack langsam möge. Mein Gott, wie süß dieses Mädchen ist. Allein dieselbe Luft zu atmen wie Frieda, beschert mir womöglich ein paar weitere Monate, wie sich auch König David verjüngte, indem er das Bett mit der Jungfrau Abishag teilte; aber ich beschloss schon bald, dass sie nicht allzu lange bei mir bleiben sollte, selbst wenn sie es wollte. Ich kann nicht Tag für Tag hier sitzen und zusehen, wie das Licht immer weiter aus ihren Augen schwindet. Das wird der Job ihres Mannes werden.

Sie hat noch nicht gefragt, warum von einem meiner Ohren etwa ein Drittel fehlt, aber sie hat erwähnt, dass ich »manchmal irgendwie britisch klinge«. Ich erklärte ihr, dass ich in einer kleinen Kolonie des British Empire in die Welt gesetzt worden sei: durch meine verstorbene Mutter. Und selbst nach einem Jahrzehnt amerikanischer Schulen wurde ich ihre Stimme nie ganz los. Später bei meiner Arbeit im Amt für Strategische Dienste erwies sich mein Fast-Akzent als Vorteil, denn ich fügte mich wunderbar zu den Aristokraten aus dem Nordosten, die allesamt sprachen wie Douglas Fairbanks jr. Das erwähnte ich mal meiner Mutter gegenüber, und sie schrieb es sich stolz auf die Fahne, als hätte sie schon damals im Sinn gehabt, mich für den Eintritt in eine Organisation vorzubereiten, die es noch gar nicht gab. Und ich konnte nicht widersprechen, denn sie hatte mich minutiös genau kalibriert. Meine Mutter ist am Berkeley Square aufgewachsen, wie in dem Lied, und sprach genauso, wie diese ganzen Wichtigtuer am liebsten sprechen wollen. Ein alter Mann aus der Nachbarschaft hat mir mal gesagt, dass es ihm mehr Freude bereite, ihr beim Feilschen über den Preis von Pastrami zuzuhören, als es jede Musik vermöge.

Meine Mutter wurde in ein reiches Elternhaus geboren, aber als sie nach New York kam, war nichts mehr von dem Vermögen übrig. 1912 hatte ihr Vater ein gewaltiges Kurzzeitdarlehen auf sein Anwesen aufgenommen, um sich einen Anteil an einem britisch-amerikanischen Konsortium zu kaufen, das den historischen Zusammenschluss der Atlantik-Schifffahrtslinien anstrebte. Das hätte ihn zu einem der reichsten Männer Londons machen sollen, aber einer seiner amerikanischen Partner betrog ihn unter Mitwissen eines bestechlichen Richters. Anstatt sich auf die Anwälte zu verlassen, überquerte mein Großvater selbst den Atlantik, um sich seine Investition zurückzuholen – wenn nötig, mit Gewalt. Aber bevor er seinen ehemaligen Partner aufspüren konnte, erkrankte er an Tuberkulose. Meine Mutter folgte ihm nach New York, um ihn bis zu seinem Tod zu pflegen. Und danach war das Haus am Berkeley Square perdu, und die einzige Hinterlassenschaft waren Schulden. Aber mittlerweile hatte sich meine Mutter in einen Eislaufbahnbetreiber verliebt und kehrte nie wieder nach Hause zurück.

Frieda präsentierte ich eine Zwei-Satz-Version von dieser Geschichte. Aber daraufhin fragte sie nach genaueren Einzelheiten. Ich schätze, es ist romantisch. Nur eins gefällt mir an Friedas Anwesenheit nicht: Ich werde niemals wieder in einer Position sein, um mich bei Winch McKellar für den Gefallen erkenntlich zu erweisen. McKellar war es, der mich überhaupt zum Amt für Strategische Dienste geholt hat. Ich habe ihn in den Dreißigern kennengelernt, als ich noch beim Mirror war und er das Geld seines Vaters verschleuderte, indem er in Varietétheater investierte und dabei ganz automatisch zu einem dieser Typen wurde, die aus überhaupt keinem Grund in der Stadt allgegenwärtig sind. Wir hassten einander.

Aber im Frühjahr 1943 war ich wieder in New York auf Urlaub von der 2. Photo-Tech-Staffel. Gegen vier Uhr früh an einem Montagmorgen warf mich das Mädchen, mit dem ich den Großteil des Wochenendes verbracht hatte, aus ihrer Suite im Waldorf-Astoria, und mir fiel nur ein einziger Ort ein, an dem ich in diesem Teil der Stadt noch was zu trinken kriegen würde. Als ich in die 49. Straße einbog, sah ich, dass dort bereits jemand vor dem Eingang zum Hauptquartier der alten Bering Strait Railroad Association of North America stand. Aus seinen hängenden Schultern las ich dieselbe Enttäuschung heraus, die mich einen Augenblick später überfiel, als mir klar wurde, dass wir auf eine Parfümerie blickten.

»Wann hat der Laden hier zugemacht?«, fragte ich.

»Da ist man mal eine Weile aus New York weg …«

»Und dann passiert so was. Genau.«

»War es wegen diesem armen Schwein, das im Wasserbecken gestorben ist?«

»Machst du Witze? Das war 1938. Da hatte der Laden seine besten Zeiten noch vor sich.«

»Das war vor fünf Jahren? Der Killer-Oktopus? Himmelherrgott, dahin will ich wieder zurück.« Schließlich drehte er sich mir zu, und seine Augen hinter den Brillengläsern wurden größer. »Zonulet?«

Ich kicherte. »McKellar!« Wir umarmten uns, und von diesem Augenblick an war alle frühere Feindseligkeit kaum mehr als ein scheußliches Gerücht, das ein anderer in die Welt gesetzt hatte. Ich hatte immer noch meine zerknautschte Lieutenant-Uniform an, aber McKellar trug Zivilkleidung. »Bist du auch in der Army?«, fragte ich.

»Klar.«

»Wo?«

»Da, wo du auch sein solltest. Wo kriegen wir jetzt einen Drink her? Ich laufe nicht den ganzen Weg bis zum Broadway.«

»Ich komme gerade vom Waldorf.«

»Ist die Bar da noch offen?«, fragte McKellar. Sein Kiefer ist so breit, dass man damit Flaschen öffnen könnte.

»Nein, deswegen bin ich ja da weg. Aber irgendwo da drin gibt es was zu trinken.«

»So viel ist schon mal sicher.«

Unterwegs sahen wir einen Fischlaster, der um die Ecke zum Hintereingang des Hotels einbog, und wir folgten ihm und schlichen uns über die Laderampe ins Innere – gut, vielleicht nicht gerade die würdevollste Anwendung der Kampfausbildung, die wir beide absolviert hatten. Kurz darauf öffneten wir eine gestohlene Flasche Sherry im Schirmzimmer des Waldorfs. »Das könnte eine ziemlich romantische Eskapade sein, wenn du eine Frau wärst«, bemerkte McKellar. Das Zimmer wurde gerade renoviert im Stil der neuesten Mode unter verlobten Paaren, die unter Tandemschirmen spazieren gingen – einer der Gründe, weshalb ich gar nicht so böse war, wieder in den Krieg zurückzukehren.

»Lass mich raten«, sagte ich, »du bist bei den Ganz Geheimen?« Ein Spitzname für die Strategischen Dienste.

»Die Ganz Geschickten. Stimmt. Und ich glaube, du bist genau der Typ, den ich hier treffen musste.« Er warf einen Blick auf die Makrele in seiner Hand. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass ich die mitgenommen habe.« Er legte sie weg. Dann goss er etwas Sherry über seinen Zeigefinger und betupfte damit meine Stirn.

»Was zur Hölle tust du da?«

»Ich salbe dich. Priesterweihe. Jetzt kann ich dir das Geheimzeug erzählen, und solltest du je ein Wort davon verraten, wird dich die Statue von General Benjamin Rush auf der E-Street mit einem Blitz niederstrecken.«

»Ist das das offizielle Verfahren?«

»Ja, laut Kriegsdienstvorschrift Meine Dicke Hose. Hör mal, nächsten Monat holen wir uns Sizilien.« Auf der Insel gebe es verstreute Partisanen, Radikale, Überläufer und alliierte Eindringlinge, erklärte McKellar, aber nichts, was einem verlässlichen örtlichen Hilfsnetz für die Operation Husky gleichkomme. Das Amt für Strategische Dienste hoffte, für General Patton eine Möglichkeit zu finden, alle verschiedenen Gruppen nach der Landung zusammenzuführen. Und dazu brauchten sie die Mafia. »Wir arbeiten seit ’41 mit den jüngeren...

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