Nicht Wolf nicht Hund - Auf vergessenen Pfaden mit einem alten Indianer

Nicht Wolf nicht Hund - Auf vergessenen Pfaden mit einem alten Indianer

von: Kent Nerburn

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406724992

Sprache: Deutsch

349 Seiten, Download: 2747 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Nicht Wolf nicht Hund - Auf vergessenen Pfaden mit einem alten Indianer



EINFÜHRUNG


«Lasst uns zusammen überlegen,
was für eine Welt wir unseren Kindern hinterlassen wollen.»

Sitting Bull

Der Grundstein für dieses Buch wurde während eines Motorradtrips gelegt, mehrere Jahre, bevor ich überhaupt die Idee dazu hatte.

Ich fuhr auf einem einsamen Highway über die Hochplateaus des nördlichen Montana. Die Augustsonne brannte unerträglich heiß vom Himmel, und vor mir erstreckte sich die schier endlose Hügellandschaft. Von einer Anhöhe aus erspähte ich in der Ferne einen Verschlag mit drei Bretterwänden und Flachdach. Im ersten Moment hielt ich den Schuppen für den verlassenen Obststand eines Farmers oder vielleicht eine Krippe mit lebensgroßen Figuren, die von religiösen Fundamentalisten aufgestellt worden war. Doch als ich näher kam, erkannte ich, dass es sich tatsächlich um einen Schutzraum für eine historische Sehenswürdigkeit handelte.

Ich hielt an und marschierte über den schwelenden Asphalt zu dem Verschlag, in dem sich, wie ich nun sah, ein großer, von einem Zaun umgebener Felsbrocken befand. Eine Informationstafel erklärte, dass ich vor einem Büffelfelsen stand, wie ihn die Lakota als heilig verehren.

Der Verfasser des Texts hatte sich alle Mühe gegeben, der Tradition der Lakota den gebührenden Respekt zu erweisen. Wenn man genau hinsehe, war auf der Tafel zu lesen, könne man ohne große Mühe erkennen, wie der namenlose Künstler dem Fels einst Form und Gestalt abzutrotzen versucht hätte.

Ich wandte mich dem Felsen zu. Auch wenn ich ihn wegen des Zauns nicht aus nächster Nähe inspizieren konnte, sah ich die Spuren, die das Werkzeug des Steinmetzen hinterlassen hatte. Der Felsen sah tatsächlich aus wie ein Büffel. Es lag auf der Hand, warum die Lakota diesen Felsen verehrten und mit spiritueller Bedeutung aufgeladen hatten.

Zu einem früheren Zeitpunkt meines Lebens hätte ich diese Informationen abgespeichert und wäre meines Wegs gezogen, zufrieden, etwas Interessantes entdeckt und ein wenig mehr über indianische Kultur erfahren zu haben.

Doch inzwischen war ich ein anderer Mensch. Ich hatte mit Indianern gelebt und gearbeitet, mit ihnen gegessen, über ihre Kinder gesprochen, in eisigen Schulsporthallen mit ihnen Basketball gespielt, ihre Toten mit ihnen beerdigt. Ich hatte an ihrem Leben teilgenommen, wusste, wie sie lieben, streiten, hadern, sich gegenseitig Respekt bezeugen.

Weshalb ich in diesem stickigen Kabuff am Straßenrand noch etwas anderes sah. Ich sah ein Stück Natur, einen großen, stummen Felsen, eingepfercht wie ein Tier in einem unwürdigen Stall. Ich sah den lebendigen Glauben eines Volkes, herabgewürdigt zu einer Kuriosität am Straßenrand, an der sich eine wohlmeinende Öffentlichkeit ergötzen durfte. Kurz, ich sah mich einer der schmerzlichsten Metaphern für das Leid der amerikanischen Ureinwohner gegenüber, wie sie mir in diesem Leben wohl nicht noch einmal begegnen wird: dem Geist eines Landes, dem Geist eines Volkes, reduziert auf einen wohlfeilen Info-Text und hinter einen Zaun gesperrt.

Und ich war ganz offensichtlich nicht der Einzige, der in dieser Bretterbude am Highway mehr als eine kleine Geschichtsstunde gesehen hatte. Wohl kaum jemandem wäre es weiter aufgefallen, aber oben auf dem Fels – eine schlichte Geste wie die eines Katholiken, der vor dem Abendmahl auf die Knie geht – hatte ein anderer Besucher ein paar zerbrochene Zigaretten als Opfergabe deponiert und damit jenem Tier seine Reverenz erwiesen, das für die Lakota das Universum in all seiner Mannigfaltigkeit verkörpert. Darüber hinaus hatte er Wakan Tanka gehuldigt, dem Schöpfer, dessen Unveränderlichkeit und ewige Beständigkeit dem Glauben der Lakota nach jeden einzelnen Stein beseelt.

Für jenen anonymen Besucher war der Fels kein Artefakt, nicht einmal ein Symbol gewesen. Sondern eine lebendige, spirituelle Präsenz. Und keine Straßenbehörde, kein Kulturverein, kein noch so engagierter Anthropologe und keine noch so wortreiche Texttafel hätte dem Fels mehr Achtung erweisen können als der Tabak, den der Unbekannte hinterlassen hatte.

In jenem Moment, als ich dort auf dem verlassenen Highway in der sengenden Sonne stand, tat ich einen stillen, feierlichen Schwur. Ich würde ein für alle Mal damit aufhören, meine indianischen Brüder und Schwestern als Rollenmodelle anzusehen. Ich betrachtete es als meine Pflicht, eine Brücke zwischen zwei Welten zu bauen – der Welt, in die ich hineingeboren worden war, und der Welt eines Volkes, das ich kennen und lieben gelernt hatte.

Nicht Wolf nicht Hund ist mein Versuch, diese Pflicht zu erfüllen.

Mir ist durchaus klar, dass manche indianische Leser auf meinen Entschluss eher skeptisch reagieren werden – wohl wissend, wie viele Schriftsteller ihr Volk falsch verstanden, falsch dargestellt und skrupellos ausgebeutet haben.

Denjenigen, die so denken, kann ich nur sagen: Man messe mich an meinen Worten.

Ich bin weder ein weißer Ausbeuter, der sich indianischer Themen bedient, weil sie sich so großer Beliebtheit erfreuen, noch ein blauäugiger Möchtegern, der wundersamerweise eine Cherokee in seinem Stammbaum entdeckt hat. Ich bin nichts weiter als ein ganz normaler Mensch, der das Glück hat, den einen oder anderen Indianer zu seinen Freunden zählen zu dürfen, und dem eine Geschichte auf den Nägeln brennt – eine Geschichte, die wir aus unserem nationalen Bewusstsein getilgt haben, weil wir den Gedanken an all das Blut auf unserem Erdboden nicht ertragen können, eine umso wichtigere Geschichte, als sie uns eine neue Perspektive auf das Leben in und mit der Natur eröffnet.

Es war alles andere als einfach, diese Geschichte zu Papier zu bringen, und meinen nicht-indianischen Lesern möchte ich nicht verschweigen, dass ich gegen einige Regeln verstoßen musste, um sie so zu erzählen, wie sie erzählt werden wollte. Hätte ich eine fiktive Erzählung geschrieben, hätte dies dem Leser erlaubt, die Geschichte als Konstrukt zu begreifen und die Lehren der Indianer als Erfindungen abzutun. Hätte ich das Ganze als journalistischen Text, als Reportage angelegt, hätte die Story ihre emotionale und spirituelle Kraft verloren. Und egal wie edel meine Motive auch gewesen wären: In beiden Fällen hätte ich der indianischen Wirklichkeit meine Perspektive aufgezwungen, sie unweigerlich verzerrt und mich des «intellektuellen Kolonialismus» schuldig gemacht, wie es ein indianischer Freund von mir einmal ausgedrückt hat.

Aus diesem Grund beschloss ich, dem Rat eines Ältesten zu folgen, der zu so etwas wie meinem Mentor geworden war, während ich versucht hatte, den indianischen Kindern im Red-Lake-Reservat im Norden Minnesotas die Stammeslegenden näherzubringen. «Konzentriere dich auf die Story», hatte er gesagt. «Es sind die Geschichten, die das Herz berühren.»

Daran habe ich mich gehalten, aufgeschrieben, was ich selbst erlebt habe, meine Beobachtungsgabe ebenso eingesetzt wie die literarischen Mittel, die mir zur Verfügung standen. Indem ich die Geschichte aus meiner Perspektive erzähle, biete ich eine Identifikationsmöglichkeit, nehme ich Sie mit in die Welt der amerikanischen Ureinwohner und überlasse Sie dann jenen Menschen, deren Stimmen darauf warten, gehört zu werden.

Und so bitte ich Sie, meine verehrten Leser, dieses Buch unvoreingenommen und vorurteilslos zur Hand zu nehmen. Der Erdboden, auf dem Sie sich bewegen, seien es Großstadtstraßen, Schotterwege oder Pfade in der Natur, war einst das Land der Indianer. Und unter Ihren Füßen hallt ihr Echo wider, das man deutlich hören kann, wenn man in sich geht und seinem Herzen lauscht. In all den Mythen und falschen Vorstellungen, mit denen wir aufgewachsen sind, ist dieses Echo hingegen nicht zu finden: Der besoffene Indianer, die blutrünstige Rothaut, der edle Wilde oder die weise Erdmutter sind allesamt Produkte unserer historischen Fantasie. Wir tun den Indianern wahrlich keinen Gefallen, wenn wir sie in derartige Schubladen stecken.

Die echten Indianer lachen, weinen, machen Fehler, ehren ihren Schöpfer, werden auch mal sauer, gehen einkaufen, ziehen Kinder groß, haben dieselben Träume wie wir. Und in den echten Indianern, nicht in ihren Klischees, klingen die wahren Stimmen unseres Landes wider – eins mit der Natur wie der Büffelfelsen und durchdrungen von einer tiefen Spiritualität, die sich denen offenbart, welche Augen haben zu sehen.

Folgen Sie mir also in eine Welt, die nur wenige Nicht-Indianer je betreten haben. Begleiten Sie mich und die Menschen, die Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen werden. Sie werden etwas lernen, so wie ich etwas gelernt habe, und daraus eine...

Kategorien

Service

Info/Kontakt