Narzissmus und Konformität - Selbstliebe als Illusion und Befreiung

Narzissmus und Konformität - Selbstliebe als Illusion und Befreiung

von: Richard Schuberth

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2018

ISBN: 9783957576613

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 454 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Narzissmus und Konformität - Selbstliebe als Illusion und Befreiung



I.Von Kindern, Katzen und Frauen, die uns zu wenig lieben


Wieder einmal geht ein Gespenst um. Spätestens seit Jean Twenges Bestseller The Narcissism Epidemic (2009) wurde die feuilletonlesende Welt hellhörig, seit Donald J. Trumps Triumph ist auch die restliche per Ferndiagnosen am laufenden Band von einer Gefahr unterrichtet, die mitten unter uns weilt: der Narzisst. Die Ausbildung zum Vampirjäger ist langwierig und kompliziert, die Lizenz zum Narzisstenjäger hingegen kann bereits durch Anlernen der wissenschaftlichen Erkennungsmerkmale des malignen Egomanen im Schnellkurs erworben werden.

Der Narzissmus ist in aller Munde, vor allem als Markierung machtverwöhnter Eliten, soziopathischer Massenmörder und liebloser Lebensabschnittspartner. Narzissmus ist mithilfe medialer Volksaufklärung im Alltagsbewusstsein angekommen.

Donald J. Trump, bevorzugtes Pin-up zu Artikeln über die Narzissmusgefahr, verkörpert die guten alten Werte des amerikanischen Grenzers. Er hat die frontier, die Demarkationslinie zum Reich des Unfassbaren weit hinausgeschoben. Und die Mächtigen dieser Welt sind ihm zu Dank verpflichtet. Trump hat die Entdemokratisierung dermaßen forciert, dass sich im Vergleich zu ihm die Autokraten Europas als Bewahrer der res publica brüsten können, er treibt seine Lächerlichkeit derart auf die Spitze, dass die restlichen Polit-Clowns sich für Garanten staatsmännischer Seriosität halten dürfen, und mit seinem plakativen Narzissmus beschenkte er all die anderen Ärmelschonernarzissten in Konzern- und Staatschefsesseln mit der Chance, sich als psychische Norm zu ihm in Kontrast zu setzen.

Nach diesen Zeilen könnte man den Eindruck gewinnen, ihr Autor nehme das Phänomen Narzissmus nicht recht ernst. Doch je ernster man übersteigerte Selbstbezogenheit nimmt, umso kritischer wird man auch die Diskurse darüber ins Visier nehmen müssen. Man erfährt über den Narzissmus mehr, wenn man ihn gegen den Strich bürstet. Dieser ist gleich vielen psychischen Störungen kein klar identifizierbares Faktum wie ein Schlüsselbeinbruch oder eine Nagelpilzinfektion etwa, sondern eine Konfliktzone oft gegensätzlicher Interpretationen, wechselnder Gewichtungen und ideologischer Projektionen. Auch er blieb von der naiven Hybris nicht verschont, die seelischen Vorgänge nach naturwissenschaftlichem Vorbild in geschlossene Entitäten zu isolieren und so zu tun, als könnte man ihre Struktur wie die von organischen Kohlenstoffverbindungen festlegen. Er nimmt sich wie eine bewegliche und variable Schnittmenge altbekannter Eigenschaften wie Hochmut, Eitelkeit, Gefallsucht, Egoismus, Empathielosigkeit aus, die sich ihrerseits nie klar voneinander abgrenzen lassen. Doch werde ich mich hüten, eine Definition dieses Zusammenhangs zu suchen, in welchem gerade seine Grau- und Bruchzonen verräterische Einblicke gewähren. Es soll also nicht der Narzissmus als Kategorie infrage gestellt werden, sondern narzisstische Prägungen, Energien und Motive auch dort aufgestöbert, wo man sie nicht vermuten würde, zumal oft, wo am lautesten Narzissmus geschrien wird, viel gesellschaftlich akzeptierter und geförderter Narzissmus am Werk ist.

Doch was kann der Begriff, was seine bewährten Vorgänger Eitelkeit, Selbstsucht oder Egozentrik nicht können? Bezeichnet er nun eine pathogene Persönlichkeitsstörung oder die Kollektivdisposition einer verdinglichten Gesellschaft? Ist er Maske vor der Labilität oder doch Ausdruck eines authentischen Überwertigkeitsgefühls? Die Sucht nach sozialer Bestätigung oder – im Gegenteil – völlige Selbstgenügsamkeit? Ist er Produkt der allgemeinen Psychologisierung oder brauchbares Werkzeug der Gesellschaftskritik? Sozialpsychologisches Attest einer vereinzelten Konkurrenzgesellschaft oder gar Kampfbegriff eines neuen Puritanismus?

Der Narzissmus hat mich immer vor Rätsel gestellt. Das größte war wohl die Frage, ob der idealtypische Narzisst sich nun durch die Sucht nach Anerkennung oder durch seine Unabhängigkeit davon charakterisiere. Eine befriedigende Antwort darauf lässt sich in der Fachliteratur kaum finden. Ausgefuchste Dialektiker unter den Psychoexperten würden wohl argumentieren, dass die beiden Dispositionen in keinem Widerspruch zueinander stünden, sondern einander auf heimlichen Wegen bedingten.3 Denn die überhebliche Selbstgenügsamkeit des Narzissten sei nur ein Schutzfilter, um jenes Feedback abzublocken, das nicht mit dem idealen Selbstbild kompatibel ist, daneben suche er jedoch fieberhaft nach Gratifikation. Er braucht die Likes, aber nicht die Liker. Er ist süchtig nach positiver Bestätigung, um die imaginäre Position zu halten, von der er weiterhin auf seine Bestätiger herabschauen kann. Der richtige Narzisst ist selten der Dandy, der seinem Spiegelbild Küsschen zuwirft, da er zu solch augenzwinkernder Selbstobjektivierung kaum fähig ist. Narzissten, so bekunden die meisten einschlägigen Bestimmungsbücher, können charmant, betörend und manipulativ sein, doch selten besitzen sie Humor.

Ausgangshypothese bleibt, dass Narzissmus als Charakterstörung das genaue Gegenteil von ausgeprägter Eigenliebe ist, denn – wie Richard Sennett weiß, schafft die Versenkung ins Selbst »keine Gratifikation, sie fügt dem Selbst Schmerz zu. Die Auslöschung der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen bedeutet, dass dem Selbst nie etwas Neues, ›Anderes‹ begegnen kann. Dieses wird verschlungen und so lange umgeformt, bis sich das Selbst darin wiedererkennt – damit aber wird das oder der Andere bedeutungslos.«4

Es kommt zum scheinbaren Paradox einer ichbezogenen Entindividualisierung. Je mehr ein solcher Innenbezug zur allgemeinen gesellschaftlichen Norm wird, desto narzisstischer erscheinen Reste nichtnarzisstischer, erfahrungsfreudiger und spontaner Individualität; solcher, die über ihr Ich die Welt erfahren will und nicht über die Welt sich zu erfahren glaubt. Die Verweigerung der kollektiven Nabelschau stößt dann auf als eitler Eigensinn.

Im Jahr 2002 haben die kanadischen Psychologen Delroy L. Paulhus und Kevin M. Williams einen Zusammenhang bestimmter Persönlichkeitsmerkmale postuliert, den sie die Dunkle Triade nannten. Diese sei ein Dreischritt aus Psychopathie, Narzissmus und Machiavellismus. Insbesondere in der Personalpsychologie und in der Psychologie des Managements hat sich das Konzept als nützlich erwiesen. Weniger stört hier der Begriff des Machiavellismus als Paulhus’ und Williams’ Überzeugung, bei dieser Dunklen Triade handle es sich um eine soziale Fehlanpassung. Im Gegenteil ist sie sowohl für das gängige Wirtschaftssystem als auch die populistischen Bewegungen, die von dessen Verwüstungen auf den Plan gerufen wurden, hochfunktional.

Ich würde eine ganz andere Dunkle Triade des Narzissmus postulieren: Sie bestünde aus Psychologisierung, Moralisierung und Personalisierung. Allen drei Modi ist die kognitive Verzerrung gemeinsam, Gesellschaft nur durch den Filter des eigenen Ichs und seiner Interessen wahrnehmen zu können. Diese narzisstischen Grundpotenzen machen den individuellen Schuldanteil von jeglicher Entpolitisierung aus, von Entsolidarisierung, Opportunismus, Mitläufertum, Regression, Pop- und Führerkult, Projektion auf Sündenböcke sowie unzähliger weiterer Missstände.

Der Narzissmus ist die vorherrschende Persönlichkeitsform im Neoliberalismus. Mit der Pathologisierung von Einzelfällen jedoch versucht der Eisberg seine sichtbare Spitze abzusägen. Der psychologisierende Fokus des Alltagsbewusstseins, aber auch manche Fachdiskurse identifizieren das Charakterbild als pathologische Eigenschaft von Einzelmenschen. Und lösen den Narzissten aus dem Netz seiner sozialen Bindungen und gesellschaftlichen Verstricktheit.

Die durch Narzissten Gekränkten erleben selbst narzisstische Kränkungen, die Abspaltung eigener narzisstischer Persönlichkeitsanteile und ihre Projektion auf geächtete Einzelne verspricht Teilhabe an einer gesunden Norm sowie moralische Überlegenheit. Ich nenne diese Reziprozität zwischen Opfer und Täter das narzisstische Arrangement. Der Narzissmus erscheint somit nicht als essenzialisierbarer klinischer Charaktertyp, sondern als flexibles Modulsystem, an dem die gesamte Gesellschaft pathisch teilhat.

Der Narzisst ist immer der Andere. Hierin schreiben auch die Psychodiskurse durch ihr Othering die alte bürgerlich-puritanische Ächtung von Egoismus, Spiel und Hedonismus fort.

Der zweite Teil des Essays wird dementsprechend dem Thema »Narzissmus als neue protestantische Ethik« (Richard Sennett) nachspüren und über einen kleinen historischen Exkurs bei der Geschichte der bürgerlichen Selbstversagung und ihrer biomachttechnischen Ideologien in der unmittelbaren Gegenwart landen, bei den sozialen Medien und auch einer neuen Moralisierung von Gesellschaftskritik, in der der Narzissmus zum idealen Vehikel für die Psychologisierung des Kapitalismus und ein bigottes Rechtschaffenheitspathos avanciert. Bereits bei Christopher Lasch konnte man Ende...

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