Der Feind in deiner Nähe

Der Feind in deiner Nähe

von: Nicci French

C. Bertelsmann, 2019

ISBN: 9783641246037

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 3059 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Feind in deiner Nähe



27


Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Haut hatte einen hellen Grauton, der rund um ihre geschwollenen Lippen in Blau überging. Sie war dünner, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte, ihr Körper schien sich unter der weißen Bettdecke kaum abzuzeichnen. Ich starrte sie an, bis meine Augen brannten, und bemerkte dabei Dinge, die mir vorher nie aufgefallen waren: die gespaltenen Spitzen ihrer Haare, der feine Flaum über ihrer Oberlippe, das kleine Muttermal knapp unterhalb ihres linken Ohrs, die Abschürfungen, die sich in parallelen Linien an den zarten Innenseiten ihrer Arme entlangzogen. Sie sah aus wie ein Wachsmodell, das dem Original zwar auf unheimliche Weise ähnelte, dem aber die Seele fehlte. Ich hatte Holly in all den Jahren, die ich sie nun schon kannte, noch nie schlafen oder sich einfach ausruhen sehen. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich wie eine im Wind flackernde Flamme, und wenn sie sprach, gestikulierte sie theatralisch mit den Händen, warf ungeduldig das Haar zurück, beugte sich vor, lehnte sich wieder zurück, schlug nervös mit einem Bleistift gegen den Tisch, biss auf der Spitze ihres Daumens herum. Ständig sprang sie auf, tigerte im Raum auf und ab oder wechselte auf irgendeine andere Weise die Position, als könnte sie einfach keinen Ort finden, an dem sie sich wohl fühlte.

Jetzt aber lag sie ganz friedlich da. Völlig still und ohne jemandem Probleme zu machen: Charlie nicht, mir nicht und auch nicht den Krankenschwestern im Empfangsbereich, von denen mich eine zu diesem Bett geführt und leise die Vorhänge zugezogen hatte, damit ich ungestört war. Hinter den Vorhängen lauerten all die Gerüche und Geräusche einer Krankenhausstation, aber hier neben ihrem Bett herrschte Ruhe. Ich war direkt aus dem Büro hergefahren, gleich nachdem der Anruf kam, und hatte alles in dem Chaos zurückgelassen, das Holly während der letzten Wochen angerichtet hatte. Mit vereinten Kräften hatten wir versucht, einen Teil ihrer Aktionen wieder rückgängig zu machen. Manchmal bereitete es uns sogar Schwierigkeiten nachzuvollziehen, was sie im Einzelnen getan hatte, ganz zu schweigen davon, warum. Aber kaum hatten wir einen verärgerten Kunden besänftigt, war eine Sendung irrsinnig teurer Seidenstrümpfe aus Italien eingetroffen, und am nächsten Tag wurden zehn neue Bürostühle geliefert, die Rückenschmerzen vorbeugen sollten und dementsprechend teuer waren. Ich ging sämtliche Ausgaben der letzten Zeit durch und beglich die meisten der noch offenen Rechnungen. Ich führte ein nicht ganz einfaches Gespräch mit dem Leiter unserer Bank, und dann musste ich mich auch noch um den Architekten kümmern, der eines Morgens mit seinen zwei Assistentinnen auftauchte und uns hübsche Pläne vorlegte, wie wir unseren Arbeitsraum umgestalten könnten, indem wir Glasbalken einziehen und einen Schacht in das Stockwerk über uns durchbrechen ließen. Anscheinend hatte Holly behauptet, dass die Firma, die dort ihre Büros hatte, damit einverstanden sei.

Ich begriff nicht, wie sie die Zeit gefunden hatte, während ihrer ohnehin schon ausgefüllten Arbeitstage ein solches Chaos anzurichten. Und nun lag sie so still vor mir. Ich beugte mich über sie und nahm ihre Hand, die blau geädert und kalt auf der Bettdecke lag. Wenn sie jetzt sterben, aus diesem todesähnlichen Schlaf hinübergleiten würde, dann würde mit ihr auch das Chaos sterben. All die Rastlosigkeit, die Wut und Qual, die sinnlose Erschöpfung, in die sie sich selbst und andere manövrierte, würde verschwinden. In meinem Hinterkopf spukte ein Gedanke herum, und ich zwang mich, ihn genau zu betrachten. Ein Teil von mir wollte, dass sie starb. Dass sie dem Ganzen ein Ende setzte und uns endlich in Ruhe ließ. Das musste Holly auch gedacht haben, als sie diese ganzen Pillen in sich hineinstopfte: dass wir uns alle ihren Tod wünschten und erleichtert sein würden.

Ich strich mit dem Daumen über die hervorstehenden blauen Adern an ihrem Handrücken. Sie roch nach Desinfektionsmittel und Erbrochenem. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und ihre Zunge sah ganz weiß aus. Sie schlug die Augen auf. Ihr Blick wirkte völlig leer. Einen Moment später machte sie die Augen wieder zu. Als Holly damals mit ihren verrückten Stiefeln ins Büro gestürmt kam, wusste ich sofort, dass ich ihre Freundin sein wollte. Sie hatte eine so faszinierende Art, und wenn ich etwas sagte, hörte sie mir derart aufmerksam zu, dass es mir fast schon unangenehm war. Ihre Freundin zu werden war ein bisschen so, als ob man mit einem Mann eine Affäre begann. Sie machte mir spontan Geschenke, rief mich mitten in der Nacht an, um mir zu erzählen, was ihr gerade eingefallen war, oder wurde von einer Sekunde auf die andere wütend, weil ich irgendetwas gesagt oder nicht gesagt hatte. Als wir einmal in Südfrankreich zusammen an einem Tisch saßen, Meeresfrüchte aßen, Wein tranken und aufs Meer hinaussahen, das in der Abendsonne wunderbar glitzerte, sagte sie, dass sie mich liebe. Ich weiß noch, dass ich rot wurde, beschwipst etwas stammelte und mich auf eine absurde Weise englisch fühlte, aber das störte sie nicht. Sie legte nur kichernd ihre Hand auf meine und erklärte, ich müsse nichts sagen, sie wisse schon, dass auch ich sie liebe und wir immer Freundinnen bleiben würden. Sie war das personifizierte Abenteuer.

»Meg.«

»Holly? Ich bin hier.«

»Ich muss kotzen.«

Ich riss die Vorhänge auf und rief nach einer Krankenschwester. Anschließend sah ich hilflos zu, wie Holly sich über eine Plastikschüssel beugte, sich mehrmals übergab und dann stöhnend nach Luft rang. Die Krankenschwester schien das ziemlich kalt zu lassen. Als Holly sich auf ihr Kissen zurücksinken ließ, wischte sie ihr mit einem Papiertuch über die Stirn und verschwand mit der Schüssel.

»Fast wäre ich im Gefängnis gelandet«, sagte Holly leise.

»Unsinn«, antwortete ich. »Das ist doch heute kein Verbrechen mehr.«

»Was?«

»Du weißt schon, wenn man versucht …«, ich wollte es nicht aussprechen, »… sich umzubringen.«

Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. Es klang fast wie ein Stöhnen. Ich musste mich nahe zu ihr hinunterbeugen, um sie verstehen zu können. Sie hatte Probleme, genügend Luft zu bekommen. »Hast du es schon gehört? Ich habe schon wieder etwas Schlimmes angestellt, nämlich diese schreckliche Skulptur durchs Fenster auf die Straße hinuntergestoßen. Sie hätte beinahe einen alten Mann erschlagen. Er hat die 999 angerufen.« Einen Moment kam es mir so vor, als würden ihre müden Augen amüsiert aufblitzen. »Ich bringe ihn fast um, und zum Dank rettet er mir das Leben.«

Sie schloss die Augen. Ich blieb schweigend neben ihr sitzen, drückte lediglich ihre Hand.

»Dann ist Charlie gekommen«, fuhr Holly nach einer Weile im Flüsterton fort. »Der arme Charlie. Wahrscheinlich findet er, dass es mir recht geschieht.«

Ich versuchte, ihre Worte ins Scherzhafte zu ziehen. »Es geschieht dir ja auch wirklich recht. Du hast schließlich etwas total Dummes getan.«

Aber Holly sagte, immer noch mit geschlossenen Augen: »Es tut mir Leid, Meg. Es tut mir alles so Leid.«

»Du brauchst dich nicht zu …«

»Doch. Es tut mir Leid, so Leid. Ich habe alles kaputtgemacht. Einfach alles. Ich verdiene es nicht, noch am Leben zu sein. Mir ist schon wieder so schlecht.«

»Soll ich noch mal die Krankenschwester rufen?«

»Es ist doch gar nichts mehr übrig, was noch herauskommen könnte. Bis auf meine Innereien. Was für ein Schlamassel.«

»Charlie ist unten, ein bisschen frische Luft schnappen. Soll ich ihn holen?«

»Nein. Lass mich nicht allein. Lass mich bitte nicht allein.« Unter ihren Wimpern quollen Tränen hervor.

Schweigend betrachtete ich ihr aufgedunsenes Gesicht, ihre Hände, die zitternd auf der Decke lagen. Ich schluckte, und als ich dann wieder den säuerlichen, kranken Geruch einatmete, sehnte ich mich danach, draußen in der kalten, sauberen Winterluft zu sein. »Ich liebe dich«, sagte ich schließlich in etwas barschem Ton.

»Ich hab versucht, dich anzurufen.«

»Was?«

»Als ich im Sterben lag. Ich hab versucht, dich anzurufen.«

Ein Schauder lief wie eine kalte Welle der Erkenntnis durch meinen Körper. Nun würde ich niemals frei von ihr sein. »Du hast versucht, mich anzurufen?«

Sie lächelte müde. Jedes Wort schien sie anzustrengen. »Die Leitung war tot. Du weißt ja, ich und Technik, die alte Geschichte. Ich hab dir einen Abschiedsbrief geschrieben. Das darfst du aber nicht Charlie sagen. Eigentlich hätte ich ihm einen schreiben sollen. Ich möchte ihm nicht unnötig wehtun.« »Was stand in dem Brief?«

»Nicht viel. Hauptsächlich, dass es mir Leid tut. Die Polizei hat ihn nicht gefunden, und Charlie auch nicht. Vielleicht habe ich ja nur geträumt, dass ich ihn geschrieben habe. Ich hatte so eine Art Wachtraum, als ich im Sterben lag. Ich wusste, dass du dich schuldig fühlen würdest, aber es war nicht deine Schuld. Ich verstehe das mit dir und Charlie.«

»Bitte? Das mit mir und Charlie?«

»Mmm.«

»Mein Gott, Holly. Heißt das, du hast wirklich geglaubt, dass wir … dass ich dazu fähig wäre …« Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen nahm ich ihre kalte Hand zwischen meine und rubbelte sie warm.

»Es war meine Schuld«, sagte sie müde. »Ich habe alles zerstört.«

Ich grinste sie an. In dem Moment hatte ich sie unglaublich gern. »Weißt du was? In einer Minute muss ich gehen. Weil nämlich draußen jemand auf mich wartet. Er hat mich hergefahren. Sein Name ist Todd, erinnerst du dich an ihn? Ich habe es dir nicht...

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