Die Spiegelreisende 1 - Die Verlobten des Winters - Eine unvergessliche Heldin und eine atemberaubende Fantasy-Welt | SPIEGEL-Bestseller

Die Spiegelreisende 1 - Die Verlobten des Winters - Eine unvergessliche Heldin und eine atemberaubende Fantasy-Welt | SPIEGEL-Bestseller

von: Christelle Dabos

Insel Verlag, 2019

ISBN: 9783458766001

Sprache: Deutsch

535 Seiten, Download: 2856 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Spiegelreisende 1 - Die Verlobten des Winters - Eine unvergessliche Heldin und eine atemberaubende Fantasy-Welt | SPIEGEL-Bestseller



Der Archivar


Es heißt oft, alte Behausungen hätten eine Seele. Auf der Arche Anima, wo Dinge ein Eigenleben führen, neigen die alten Häuser vor allem dazu, furchtbar schrullig zu werden.

Das Gebäude des Familienarchivs, zum Beispiel, war stets übler Laune. Immerzu ächzte es, knarzte, tropfte und schnaubte, um seine Unzufriedenheit kundzutun. Es konnte die Zugluft nicht ausstehen, die im Sommer die Türen knallen ließ, und den Regen, der im Herbst die Dachrinne verstopfte. Es hasste die Feuchtigkeit, die ihm während des Winters in die Mauern kroch, ebenso sehr wie das Unkraut, das jedes Frühjahr wieder in seinem Hof zu sprießen begann.

Mehr als alles andere aber verabscheute das Gebäude Besucher, die sich nicht an die Öffnungszeiten hielten.

Sicherlich war das der Grund, warum es an diesem Septembermorgen noch mehr ächzte und knarzte, tropfte und schnaubte als sonst. Es spürte, dass jemand kam, obwohl es noch viel zu früh dafür war. Obendrein stand dieser Gast nicht mal draußen vor der Tür, wie es sich gehörte. Nein, er verschaffte sich Zutritt wie ein Dieb, direkt durch die Garderobe.

Dort wuchs plötzlich eine Nase mitten aus einem Spiegelschrank.

Sie schob sich weiter vor, und bald folgten ihr eine Brille, eine geschwungene Augenbraue, Stirn, Mund, Kinn, Wangen, Augen, Haare, ein Hals und Ohren. Bis zu den Schultern aus dem Spiegel ragend, blickte der Eindringling erst nach rechts, dann nach links. Nun tauchte etwas weiter unten ein Knie auf, und schließlich stieg die ganze Gestalt aus dem Glas hervor wie aus einer Badewanne. Einmal herausgeschlüpft, sah man von ihr nichts weiter als einen abgetragenen Mantel, eine Brille und einen langen, dreifarbigen Schal.

Unter all diesen Schichten verborgen befand sich Ophelia.

Um sie herum protestierte nun die gesamte Garderobe, empört über den Störenfried, der die Archivordnung derart missachtete. Die Schränke quietschten in den Angeln und stampften mit den Füßen, während die Kleiderbügel laut klappernd aneinanderstießen, als würde ein Poltergeist zwischen ihnen sein Unwesen treiben.

Dieser Wutausbruch beeindruckte Ophelia nicht im Geringsten. Sie war die Launen des alten Gemäuers gewohnt.

»Schsch«, flüsterte sie. »Ganz ruhig.«

Sofort hörten die Möbel auf zu rumoren, und die Kleiderbügel verstummten. Das Archivgebäude hatte sie erkannt.

Durch eine Tür mit der Aufschrift ACHTUNG, GEKÜHLTE RÄUME, NUR MIT MANTEL BETRETEN verließ Ophelia die Garderobe und ging, die Hände in den Taschen, ihren Schal im Schlepptau, an einer endlosen Reihe beschrifteter Aktenschränke entlang: »Geburtenregister«, »Sterberegister«, »Register der Genehmigungen von Verwandtenheirat« und so weiter. Leise öffnete sie die Tür zum Lesesaal, der still und verlassen dalag. Morgenlicht sickerte schräg durch die geschlossenen Fensterläden und ließ im Halbdunkel eine Reihe von Schreibpulten erkennen. Der Gesang einer Amsel im Hof lieferte die passende Untermalung. Im Archiv war es so kalt, dass man Lust bekam, alle Fenster aufzureißen, um die warme Luft von draußen hereinzulassen.

Ophelia blieb eine Weile reglos auf der Schwelle stehen und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen übers Parkett wanderten, während allmählich der Tag anbrach. Sie atmete tief den Geruch der alten Möbel und des kalten Papiers ein.

Diesen Geruch, der ihre Kindheit begleitet hatte und von dem sie sich bald würde verabschieden müssen.

Langsam ging sie zur Wohnung des Archivars, dessen privater Bereich durch einen einfachen Vorhang vom Lesesaal abgeteilt war. Trotz der frühen Stunde erfüllte ihn bereits ein intensiver Kaffeeduft. Ophelia hustete in ihren Schal, um sich anzukündigen, doch eine Opernarie übertönte sie. In dem einzigen Raum, der zugleich als Küche, Wohn-, Schlaf- und Lesezimmer diente, musste sie nicht lange nach dem Archivar suchen.

Eine Zeitung vor der Nase, saß der alte Mann mit dem struppigen weißen Haar auf dem Bett. Er trug Handschuhe, ein zerknittertes Hemd unter seiner Jacke und hatte sich ein Vergrößerungsglas unter die Braue geklemmt, das sein Auge riesenhaft verzerrte.

Ophelia hustete noch einmal, doch es half nichts. Völlig in seine Lektüre vertieft, begleitete er die Arie aus dem Grammofon mit ziemlich schiefem Gebrumm. Ganz zu schweigen vom Gluckern des Kaffeekochers, dem Bullern des Ofens und sämtlichen anderen Geräuschen, die das Gebäude so von sich gab.

Mit allen Sinnen nahm Ophelia die besondere Atmosphäre des Raumes in sich auf: die falschen Töne des Alten, das Rascheln der behutsam umgeblätterten Seiten, das durch die Vorhänge gefilterte Licht des heraufziehenden Morgens, den Kaffeeduft und, darunter versteckt, den Naphthalin-Geruch einer Gasflamme. In einer Ecke stand ein Damebrett, dessen Steine sich ganz von selbst bewegten, als würden zwei unsichtbare Spieler gegeneinander antreten. Ophelia hätte am liebsten gar nicht an alldem gerührt und stillschweigend kehrtgemacht, aus Angst, das vertraute Bild zu zerstören.

Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als den Zauber zu brechen. Sie trat ans Bett und tippte dem Archivar auf die Schulter.

»Grundgütiger!«, rief der alte Herr zu Tode erschrocken aus. »Könntest du nicht eine kleine Vorwarnung geben, ehe du einfach so hereinplatzt?«

»Das habe ich versucht«, entschuldigte sich Ophelia.

Sie hob das Vergrößerungsglas auf, das auf den Teppich gerollt war, und reichte es ihm. Dann zog sie den Mantel aus, der sie vom Kopf bis zu den Füßen umhüllte, wickelte ihren endlos langen Schal ab und legte alles über eine Stuhllehne. Zum Vorschein kam ein zierliches Persönchen mit dicken, lose zusammengebundenen Locken, einer rechteckigen Brille und einem Kleid, das besser zu einer älteren Dame gepasst hätte.

»Bist wohl wieder über die Garderobe hereingeschlüpft?«, grummelte der Archivar, während er seine Lupe mit dem Ärmel blank rieb. »Diese Marotte, zu den unmöglichsten Zeiten durch Spiegel zu gehen! Du weißt genau, dass meine alte Bruchbude Überraschungsbesuche nicht ausstehen kann. Früher oder später wirst du einen Balken auf den Kopf bekommen, aber du willst ja partout nicht hören.«

Seine polternde Stimme ließ einen prachtvollen Schnurrbart erzittern, dessen Enden bis zu den Ohren reichten. Mühsam erhob er sich vom Bett und griff nach der Kaffeekanne. Dabei murmelte er in einem antiquierten Dialekt vor sich hin, den außer ihm niemand auf Anima mehr sprach. Durch seine Arbeit im Archiv lebte der alte Mann ganz und gar in der Vergangenheit. Selbst die Zeitung, die er gerade durchgeblättert hatte, war aus dem letzten Jahrhundert.

»Einen Napf Kaffee, Mädelchen?«

Der Archivar war kein besonders umgänglicher Mann, doch jedes Mal, wenn er Ophelia ansah, begannen seine goldbraunen Augen zu sprühen wie Apfelwein. Für diese Großnichte hatte er schon immer eine spezielle Vorliebe gehabt, sicher weil sie ihm von allen aus der Familie am ähnlichsten war: ebenso aus der Zeit gefallen, ebenso ungesellig und zurückhaltend.

Ophelia nickte nur. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie brachte keinen Ton heraus.

Der Großonkel schenkte zwei große, dampfende Tassen voll.

»Gestern Abend hatte ich deine Mutter am Apparat«, nuschelte er in seinen Bart. »Sie war so aufgeregt, dass ich nicht mal die Hälfte von ihrem Geschnatter verstanden habe. Nun ja, das Wichtigste hab ich wohl begriffen: Wie's scheint, kommst du endlich unter die Haube.«

Als Ophelia wieder nur stumm nickte, runzelte ihr Großonkel die buschigen Brauen.

»Nun mach nicht so ein Gesicht, Kind. Deine Mutter hat einen tüchtigen jungen Mann für dich gefunden, dagegen ist nichts einzuwenden.«

Er reichte ihr die Tasse und ließ sich so schwer wieder aufs Bett sinken, dass alle Federn quietschten.

»Komm, setz dich zu mir. Wir...

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