Benzin - Roman

Benzin - Roman

von: Gunther Geltinger

Suhrkamp, 2019

ISBN: 9783518761151

Sprache: Deutsch

378 Seiten, Download: 2543 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Benzin - Roman



Alarm


Sie fahren abwechselnd. Vinz am Tag, Alexander nachts. Die Dunkelheit kommt früh in diesem Land, im November gegen sieben und von einer Minute auf die andere. Vinz ist nachtblind, die Straße vor seinen Augen wie ausgelöscht. Die Hochebene, die an die Straße stößt. Das Land, das bis zum Anbruch der Dämmerung aus einer schnurgeraden Straße bestand, die diese Hochebene durchschnitt, mit einer Bergkette an ihrem Rand, die weder ferner rückte noch näher kam und seinen Blick entlang einer scheinbaren Grenze führte wie eine Fata Morgana mit ihrem trügerischen Versprechen auf Ankunft, bis die Sonne verschwand und die Horizontlinie sich auflöste. Der dunstige Zackenriss fiel in sich zusammen, Schatten fluteten die Ebene und ließen ihre Farben noch einmal aufleuchten, die Braun- und Gelbtöne des Buschvelds mit dem unwirklichen, fast wahnhaften Grün einzelner Plantagen, bevor alles erlosch. Achtung, sagte Alexander, die Sandverwehung auf der Straße bemerkte Vinz zu spät, halb im Dunkeln wirkte das langgestreckte, vom Wind gerippte Gebilde wie ein verendetes Tier. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Alexander auf dem Beifahrersitz nach vorn kippte, den rechten Fuß abspreizte und auf das imaginäre Bremspedal trat. Vinz warf ihm einen Blick zu und zischte. Dann ließ er den Wagen über das Hindernis rumpeln, den Kadaver aus roter Erde, sein Protest. Er hatte an Manuel gedacht, und er wusste, dass Alexander ihn durchschaute.

Am Straßenrand schwand Meter für Meter das Land. Weideflächen ohne Vieh, herdenartig nur die buckligen Sträucher, die enger aneinanderrückten, je dunkler es wurde. Seine Augen schrappten darüber hinweg, suchten Halt an der Silhouette einer Schirmakazie, unter der sich die Nacht schon ballte, sprangen dann weiter zum Umriss eines vereinzelten Baobab-Baums, der als düsterer Koloss in der Landschaft stand, der gedrungene Stamm mit den fingerförmigen Ästen wie von einem in die Einsamkeit verbannten Riesen, der die Hände in den Himmel reckt. Schön hier, sagte Alexander. Vinz schaltete das Fernlicht an, das die Straße noch mehr verkürzte. Reflexartig zuckte sein Fuß vom Gaspedal weg, doch er widerstand dem Impuls und stemmte sich gegen das Lenkrad und das Gefühl, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Er heftete den Blick an letzte Konturen, suchte Dornstrauch, Akazienbaum und Baobab nach Anhaltspunkten ab, die ihm etwas über Alexander und ihn sagen könnten, über den Grund, warum sie hier waren in diesem Land, bis er abrupt abbremste, auf das steinige Bankett lenkte und anhielt, damit Alexander übernahm.

Sie und der Wagen. Ein weißer Toyota Corolla von Avis, das kleinste und sparsamste Modell. 90 PS, Vorderradantrieb, Verbrauch 7,3 Liter, schon bei der Übernahme hatte Vinz Bedenken, ob es das richtige Auto sei. In einem Land, in dem nur die wichtigsten Straßen instand gehalten werden, haben sie vielleicht am falschen Ende gespart. Immer sind sie auf ihren Reisen abseits der im Straßenatlas rot verzeichneten Autobahnen gefahren, haben die gelben oder farblosen Nebenstraßen bevorzugt, die sich Gebirge hinaufwinden, Pässe satteln und auf Hochplateaus Schleifen und Kehren bilden, bis ihr Verlauf in eine gestrichelte Linie übergeht und plötzlich endet, wie von Kinderhand gezogen, auf einer naiven Zeichnung, die noch nicht weiß, was sie werden soll. Rot verbindet die Städte und Metropolen, wer rote Straßen fährt, hat wenig Zeit und keinen Blick fürs Detail. Sie haben in Ausdauer investiert, nicht in Schnelligkeit. Rot nur im Ausnahmefall, auf dem Rückweg zum Flughafen oder wenn es große Distanzen zu überwinden gilt. Ihre Straße soll sich den Bedingungen der Landschaft anpassen, sie nicht durchbrechen. Ein grüner Begleitstrich kennzeichnet eine besonders reizvolle Strecke. Sie fahren auf Gelbgrün auf den Abgrund zu, der sich am Ende des Scheinwerferkegels vor ihnen auftut. Immer wieder kontrolliert Vinz die Tachonadel. Alexander bremst, schaltet, lenkt um. Der Asphalt ist von Schlaglöchern zerklüftet, die Karosserie knarrt. Ein Viertürer, ihr Exoskelett. Das, was nach außen zusammenhält, wenn im Innern das Rückgrat gebrochen ist. Ein Panzer, weiß metallic, der die Weichteile schützt, das Unbehagen abschirmt, das ihnen geblieben ist von den einstigen großen Gefühlen, die Vinz noch immer nicht scheut Liebe zu nennen, wenn er auch nicht weiß, ob Liebe jenseits des Wortes überhaupt groß sein kann und nicht nur aus einem Übermaß an im Lauf der Jahre an einander erkannten und erduldeten Unzulänglichkeiten erwächst, die im Versuch, für seine Schwächen gegenseitig einzustehen, zur Lebensuntüchtigkeit führen, so dass es ab einem gewissen Punkt keinen anderen Weg mehr gibt als den gemeinsamen, eine durchbrochene Linie, die grün markiert ist, in der Farbe der Hoffnung.

Vielleicht wäre ein grüner Wagen das bessere Omen gewesen. Wir fahren ein weißes Auto, hatte Vinz plötzlich festgestellt, nachdem sie das Flughafengelände hinter sich gelassen und den Autobahnring erreicht hatten, der sie auf ihre Route bringen sollte. Sein Lachen klang gezwungen. In einem Land wie diesem war das weiße Auto vielleicht schon ihr erster Fehler. Sie hatten es nicht ausgesucht, es war ihnen zugeteilt worden, und auf der Straße war jedes dritte Auto weiß. Die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren, das Außenthermometer zeigte 31 Grad, Tendenz laut Wetter-App steigend. Ein schwarzes Auto war hier schlichtweg unpraktisch und die Farbethik, bei der sich Vinz ertappt hatte, ohnehin fragwürdig. Im Wagen fühlte er sich leidlich getarnt.

Auf dem Sitz ist er nur eine Handbreit von Alexander entfernt. Ihm nah wie seit Monaten nicht mehr. Manchmal spürt Vinz ihn; mehr Ahnung, fast Androhung einer Berührung, wenn Alexander herunterschaltet und ihn dabei streift. Vinz schließt die Beine, Alexanders Hand rutscht vom Schaltknüppel, hängt eine Weile abwartend zwischen ihnen, dann fasst sie wieder das Steuer. In der Ablage liegt das Smartphone. Vinz tastet alle fünf Minuten danach, die in dieser Dunkelheit, auf einer Straße, die jeden Moment abbrechen könnte, länger dauern als irgendwo sonst auf der Welt. Er muss sich beherrschen, es nicht fortwährend in der Hand zu halten, schützend wie ein hilfloses Lebewesen. Als Kind hatte er so der Mutter das Amseljunge gebracht, das im Garten aus dem Nest gefallen war. Es war nackt und hässlich, mit großen, von einem milchigen Schleier getrübten Augen und einem kurzen, sperrenden Schnabel. Drinnen sah er den Schlund, die hüpfende Gurgel, Todesangst. Klägliche Laute drangen heraus. Er ekelte sich vor der Berührung, dachte, der winzige Leib sei kalt und glitschig, doch das Junge war trocken und warm, vielleicht weder kalt noch warm, er erinnert sich nicht. Die Augen waren ihm unheimlich. Noch blind, hatten sie nichts von der Welt gesehen und würden sich nicht mehr öffnen. Das Amselkind war im Finstern geboren, starb im Finstern, war an den Flügelspitzen und unterhalb der Kehle schon schwarz gefiedert, dünner Flaum, irgendwie räudig, es sah erbärmlich aus. Er barg das zitternde Tier in der Handhöhle. Die Mutter seufzte und zeigte ihm den Platz im Garten, wo er es hinlegen sollte, damit die Amsel ihr Junges sehen und hören konnte. Er rupfte Gras aus, kehrte mit der Hand etwas Laub zusammen und legte es zwischen die Wurzeln des Kirschbaums. Die Amsel saß in der Krone und schlug. Er versteckte sich hinter den Johannisbeeren, von wo aus er den Platz gut im Blick hatte. Nichts geschah. Die Amselmutter kam nicht herunter, das Junge stieß rhythmisch das schrillende Schnabelloch in die Luft. In der kauernden Haltung schlief sein Fuß ein. Er wartete noch fünf Minuten, dann verlor er die Lust an der Rettung des kleinen Lebens. Er pellte sich aus dem Strauch und ging ins Haus. Die Amsel schlug weiter Alarm, den ganzen Nachmittag hörte er sie draußen im Garten, ihr Wehklagen um das tote Kind.

Jetzt will er seine Hand zu Alexander befehlen. Das Knie unterm Saum seiner Shorts umschließen, die Finger zur Faust ballen in Alexanders Schoß. Alexander würde die Beine schließen, in der Zange seiner Schenkel Vinz an sein Geschlecht pressen, bremsen und beschleunigen nur mit der Kraft der Waden, kilometerweit durch die Nacht mit der ausdauernden Hartnäckigkeit von zwei Jahrzehnten, die er, Vinz, nun schon in Alexander gefangen ist, wie eingewachsen in seiner Mitte, sein Zweimeterleib die Verlängerung von Vinz' zu kurz geratenem Leben, wie sie früher auf ihren ersten Reisen gefahren sind, bis Alexander auf einen Parkplatz lenkte, die Beine...

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