Und dann weiß jeder, was ihr getan habt - Roman

Und dann weiß jeder, was ihr getan habt - Roman

von: Christian Linker

dtv, 2019

ISBN: 9783423435390

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 898 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Und dann weiß jeder, was ihr getan habt - Roman



Muriel


Was heute Abend geschehen soll, wird Precious nicht wieder lebendig machen.

Aber mich vielleicht.

Zumindest wirst du dich nach diesem Abend an mich erinnern. Beziehungsweise an Precious. Denn darauf kommt es mir an. Das Schicksal von Abertausenden liegt im Dunkel; in der ewigen Nacht am Grunde der See, wo die zerfressenen Reste ihrer Leichen zergehen. Niemand will dafür verantwortlich sein. Aber Precious starb auf dem falschen Meer. Und der, der an ihrem Tod schuld ist, trägt einen Namen.

Am Ende dieses Abends wird mich niemand mehr für verrückt halten.

Das dekadente Heimkino im Souterrain unseres Hauses ist ideal. Fensterlos und praktisch schalldicht. Damit du mich gleich am Anfang richtig verstehst – ich weiß schon selbst, dass meine Idee skrupellos ist. Vielleicht sogar grausam. Aber notwendig. Schon immer hatten die Menschen das Bedürfnis, dann und wann jemanden öffentlich abzuschlachten. Die Römer veranstalteten Gladiatorenspiele und Kreuzigungen, im Mittelalter verbrannte man Ketzer auf dem Scheiterhaufen und flocht Verräter aufs Rad. Heute haben wir Internet. Und ich werde es benutzen.

 

An der Stirnseite des Raumes glänzt die leicht konische Leinwand von hundertachtzig mal hundertzwei Zentimetern, seitlich davon ragen schlanke High-End-Alu-Boxensäulen empor; ein Dreihundert-Millimeter-Subwoofer komplettiert das ultimative Surround-Sound-Erlebnis. Es sieht aus wie der Altar eines Science-Fiction-Tempels. Eines Tempels ohne Götter. Der eigentliche Gott krallt sich unter die Zimmerdecke: ein High-End-Beamer, der von dort oben extrem tiefenscharfe Bilder herabschleudert. In einem auf komplizierte Weise errechneten Abstand zu diesem Altar stehen zwei schwere weiße Ledersessel und dazwischen ein Glastisch. Hier werden Filme zum Ereignis. Was nur leider kaum geschieht, denn ich selbst sitze nie hier unten, das ist mir zu affig. Und mein Vater ist ja selten zu Hause. Ich hab nie verstanden, wozu er diesen Raum für zigtausend Euro ausgestattet hat oder die übrigen Räume oder warum er uns überhaupt dieses riesenhafte leere Albtraumhaus kaufen musste. Vielleicht ist der einzige Grund der, dass er es sich eben leisten kann. Auch heute Abend werden wir hier keinen Film anschauen, sondern einen produzieren. Der Altar hat es verdient, dass auf ihm einmal ein würdiges Opfer dargebracht wird.

Ich schiebe also die beiden Sessel und den Tisch genau vor die Leinwand und drehe sie um, bis sie auf den Glastisch blicken. Den wiederum stelle ich zur Seite und baue an seiner Stelle das Stativ mit der Kamera auf. Im Geräteschuppen (das ist der Raum hinter der Tür an der linken Seite, gleich gegenüber der gut sortierten Hausbar) finde ich außerdem zwei starke Lampen, Baustrahler vermutlich. Aufbauen, anschließen – und das Kino erstrahlt in perfektem Studiolicht. Zufrieden nehme ich testweise in einem der Sessel Platz, schaue in die Kamera und sage mit sehr ernstem Gesicht: »Guten Abend, meine Damen und Herren. Ich heiße Constantin Rüdenscheid und bekenne mich schuldig am Tod von Precious Mamza. Von Precious, die aus Nigeria geflohen war. Durch meine unstillbare Gier und mein eitles Machtstreben habe ich sie …« – ich muss schlucken – »in den Selbstmord getrieben.« Ich räuspere mich. »Mit meinem Geld habe ich mir ihren geschundenen Körper gekauft. Als Letzter in einer langen Reihe skrupelloser Männer habe ich sie zum Objekt gemacht, ihren Leib benutzt und weggeworfen. Nachdem sie ihre Familie verloren hat und dem Terror in ihrer Heimat entkommen war, nachdem sie alle Grenzen überwunden hat und hier bei uns hätte in Sicherheit leben können, habe ich den übrig gebliebenen Rest ihrer Seele zerstört, nur um mich am Gefühl von Besitztum zu berauschen, an der Geilheit des Beherrschens.«

Ein Kloß wächst mir im Hals. Wenn ich an Precious denke, sehe ich ihren alten Parka mit der Fellkapuze in der schwachen Brandung dümpeln, vom Salzwasser getränkt. Das Bild steht mir so scharf vor Augen wie an jenem eisklaren Herbstmorgen am Ostseestrand vor über einem halben Jahr; so scharf, als würde es vom Beamer über mir ausgeworfen. Ich sehe den aufgeweichten Zettel, den ich in der Jackentasche fand, darauf kaum noch lesbar die vier Worte in Precious’ klarer, kräftiger Handschrift: The rest is silence. Ich würge den Kloß hinunter und springe auf. Stelle mich hinter die Kamera und erwidere kühl: »Schau, jetzt ist es raus. War doch gar nicht so schwer, Constantin. Fühlst du dich nicht erleichtert?« Ich lächle dem leeren Sessel gönnerhaft zu und frage: »Möchtest du unseren Zuschauern da draußen noch irgendetwas sagen? Zum Beispiel … sie um Erbarmen bitten? Willst du um die Gnade betteln, die du selbst deinem Opfer vorenthalten hast?«

Er schweigt. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich ihn wirklich bis zu diesem Punkt kriegen würde: dass er es zugibt. Vor uns und aller Welt. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann mir sein Gesicht überhaupt nicht mit schuldbewusstem Ausdruck vorstellen. Reumütig. Zerknirscht. Bußfertig. Was für wundervolle altertümliche Worte! Keines davon passt zu ihm. Ich stelle ihn mir vor und sehe ihn da lässig im Sessel mehr abhängen als sitzen, wie er mit seinem selbstgefälligen Grinsen sagt: »Hältst du mich wirklich für so blöd, Muriel? Denkst du, ich schnalle nicht, was du hier abziehst? Denkst du, ich hab nicht die ganze Zeit schon gecheckt, dass diese Kamera nicht nur aufzeichnet, sondern gleichzeitig alles live ins Internet streamt?«

Ja, ich gebe zu, ich halte ihn tatsächlich für so blöd. Zumindest glaube ich, dass er vor lauter Gehabe und Gepose nicht darauf achten wird, ob die Kamera gerade läuft oder nicht. Sich nicht fragt, warum da ein Kabel angeschlossen ist und wohin es führt. Er nicht. Aber Specki-Lenny vielleicht. Der interessiert sich jedenfalls für Technik. Und die rote Özge ist ohnehin stets kritisch. Selbst unsere heilige Jungfrau Daria könnte im wahrsten Sinne des Wortes über so ein Kabel stolpern. Die vier denken schließlich, sie kämen zu mir, um hier ein paar Takes für unseren Abifilm aufzuzeichnen. Sie haben keine Ahnung, dass sie stattdessen im Film ihres Lebens mitspielen werden, ohne Schnitt und Outtakes, live und unzensiert. Und deshalb wird es nicht diese Kamera sein, die Constantins Geständnis übertragen soll, sondern eine zweite.

Die müsste ebenfalls irgendwo im Geräteschuppen sein. Das ist natürlich eine irreführende Bezeichnung für diesen Raum, dessen akkurat beschriftete Metallregale von jedem Ding der Welt, in das man Kabel stecken kann, mindestens ein Exemplar bergen. Außer einen elektrischen Stuhl vielleicht. Wobei – ich hab noch nicht alles durchgeschaut, es ist einfach viel zu viel Zeug. Mein Alter bekäme einen Herzinfarkt, wenn er wüsste, dass ich weiß, wo der Schlüssel ist. Und dass ich mir mit seinem Zeug ab und zu etwas Zeit vertreibe. Wobei es doch letztlich egal ist, ob er nun deswegen zusammenbricht oder infolge seines halsbrecherischen Berufs. (Korrekterweise sollte ich hinzufügen, dass sein Beruf aber meistens nicht seinen Hals bricht, sondern die Hälse der Leute, die auf der vorletzten Seite seiner PowerPoint-Präsentationen regelmäßig aus der Firma fliegen. So hat er mir das jedenfalls mal erklärt. Dass nämlich die meisten Chefs viel zu feige sind, Menschen rauszuwerfen. Sie rufen dann meinen Vater und der schreibt ein paar Zahlen auf bunte Präsentationsfolien und dann sehen es alle ein. Ob man mit so was reich werden kann? Na – guck dich mal hier um.)

Jedenfalls wird er erst morgen Abend zurückkommen und dann die Tür zum Geräteschuppen wie gewohnt verschlossen vorfinden. Ihm fiele ohnehin im kühnsten Traum nicht ein, dass mich sein Spielzeug reizen könnte. Er hält mich nämlich nicht nur für gestört (was ich ja ohne Frage bin), sondern auch für restlos unbegabt, was Technik und – ach was, überhaupt alles Praktische betrifft. Ah, da ist eine winzige WiFi-Kamera mit noch winzigerem Mikro. In einer Kiste mit der Aufschrift Überwachungstechnik. Sie ist klein und rund und sieht ganz unschuldig aus. Mit einem Klebepad dürfte sie sich auf der Beamerlinse befestigen und hinterher leicht wieder entfernen lassen. Also hole ich Klebepads aus einem Küchenschrank und aus dem Garten (dort gibt es tatsächlich einen Geräteschuppen, zu dem die Bezeichnung ganz unironisch passen würde; doch wir nennen ihn lieber Chalet) eine große Leiter, die ich ins Haus und hinab ins Souterrain bugsiere. Ich steige die Sprossen hinauf. Meine Knie zittern plötzlich, und das liegt nicht an der Höhe. Meine Fingerspitzen sind eiskalt und fast ein wenig taub, während ich das Klebepad auf die Linse setze, die Rückseite der Minikamera dagegendrücke und sie einschalte. Keine Ahnung, wie lange der Akku hält, aber wenn ich sie nicht jetzt schon einschalte, habe ich später vermutlich keine Chance mehr dazu, es in Anwesenheit meiner vier Gäste unauffällig zu tun. Eine halbe Stunde bleibt mir, bis sie kommen. Ich steige von der Leiter hinab, atme durch und versuche, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. Plötzlich kann ich diese kleine Kuhle über dem Brustbein spüren. Etwas schnürt mir die Kehle zu und mein Puls hämmert dagegen. Ja, natürlich habe ich Angst vor meinem eigenen Plan. Und du fragst, warum ich den Raum jetzt auf den letzten Drücker präpariere und nicht alles schon längst von langer Hand vorbereitet habe? Vielleicht verstehst du, dass ich ahnte, ich könnte Skrupel bekommen. Deshalb setze ich mich unter Druck. Druck ist gut. Keine Zeit für Reflexion oder Zweifel. Wann immer ich anfange...

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