Die Nachtflüsterer - Das Erwachen

Die Nachtflüsterer - Das Erwachen

von: Ali Sparkes

Carl Hanser Verlag München, 2019

ISBN: 9783446263246

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 3780 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Nachtflüsterer - Das Erwachen



2


Am vierten Morgen schleuderte Matts Vater ihn gegen die Wand und verlangte ein paar Antworten.

»Was geht hier vor? Hat dir jemand geholfen? Läuft da irgendwas hinter meinem Rücken? Du willst dir wohl Ärger einhandeln?«

Matt versuchte, ihn von sich wegzudrücken, doch sein Vater war groß und schwer und kräftig gebaut wie eine Bulldogge — mit seinen Hängebacken, den dicken Lidern und seinen glänzenden braunen Knopfaugen sah er auch so aus.

»Das hab ich dir doch gesagt!«, schrie Matt im Versuch, seinen Vater zu übertönen. »Ich bin früh aufgestanden! Das ist alles. Ich habe schon drei Autos fertig. Bist du gar nicht zufrieden damit?«

»Aber warum? Warum bist du früh aufgestanden?« Sein Vater schüttelte ihn, abgestandener Whisky-Atem wehte Matt ins Gesicht. »Was hast du vor?«

Plötzlich spürte Matt die Müdigkeit wie eine Welle über sich hereinbrechen, wie einen Sog, der ihn nach unten zog, ihn ertränkte. »Ich weiß nicht, warum«, murmelte er und sackte unter den Händen seines Vaters zusammen. »Ich wache einfach auf und kann dann nicht mehr einschlafen.«

Sein Gesichtsausdruck dazu musste glaubhaft gewirkt haben, denn jetzt wurde er losgelassen und rutschte langsam an der Betonwand hinunter. Sein Dad überquerte den Hof, stieg über die Rinnsale, in denen die Reste des Seifenwassers zum Gully hinunterliefen, und inspizierte den Honda, den Golf und den Ford. Die drei Autos waren gestern von einer Mietwagen-Firma vorbeigebracht worden und sollten am Vormittag wieder abgeholt werden. Normalerweise wäre Matt um 6 Uhr aufgestanden und hätte noch vor dem Frühstück zumindest eines der Fahrzeuge gewaschen und gewachst, den Innenraum gereinigt.

Heute hatte er, als sein Vater gegen 6:30 Uhr hinunterkam, um nach ihm zu sehen, bereits alle drei Autos geschafft — von innen und von außen. Da er seit 3 Uhr in der Früh an den Wagen gearbeitet hatte, war das kein Problem für ihn gewesen. Ein Auto pro Stunde bedeutete, dass er das Ganze ziemlich gemächlich hatte angehen können. Fast schon lässig.

Sein Vater lief um die Autos herum, kontrollierte, ob noch Staub auf den Armaturenbrettern lag, knuffte in die Sitze, um zu prüfen, ob sie zu feucht gereinigt worden waren, und strich auf der Suche nach Dreckspritzern mit einem Finger über die Radkappen. Keine Dreckspritzer. Nirgends. Matt wusste, wie man einen Wagen reinigte. Er tat es, seit er zehn Jahre alt war.

»Gut gemacht«, sagte sein Dad schließlich.

Matt riskierte ein Schulterzucken. »Hab halt ein gutes Vorbild.«

Sein Dad schlenderte wieder zu ihm hinüber, legte ihm seine kräftige Hand auf die Schulter und sah ihm forschend in die Augen. »Weshalb schläfst du denn nicht?«, fragte er. »Du brauchst deinen Schlaf. Sonst leidet deine Arbeit darunter.«

Jetzt sprach er von Matts schulischen Leistungen. Es war nur eine kleine Bemerkung gewesen, aber es bedeutete ihm viel, dass sich sein Vater manchmal — nur manchmal — daran erinnerte, dass er noch zur Schule ging. Dass sich seine Welt nicht ausschließlich um Schwämme, Scheibenschrubber und Lackpolituren drehte.

»Weiß ich nicht«, erwiderte er. »Irgendwas weckt mich immer wieder auf. In den letzten drei Nächten, gegen halb zwei. Heute Nacht dachte ich dann, ich könnte genauso gut aufstehen und schon mal was wegarbeiten, damit ich heute Abend vielleicht besser penne.«

Er erzählte nicht, dass er es in der Nacht zuvor bereits mit einem anderen Auto so gemacht hatte … allerdings nur mit einem. Gegen 5:30 Uhr war er damit fertig gewesen und auf der Rückbank des Mercedes in einen leichten, traumlosen Halbschlaf gefallen, bis sein Vater zur üblichen Zeit nach ihm gesehen hatte. Als die Garagentür ins Schloss fiel, war er hochgeschreckt. Dad hatte zwar zu ihm hinübergeschaut, war aber wohl davon ausgegangen, dass er gerade das Innere des Wagens reinigte. Um nicht weiter aufzufallen, hatte Matt, noch völlig benommen, tatsächlich so getan, als poliere er die Scheiben. Sobald sein Vater gegangen war, hatte er sich wieder in den blitzsauberen Ledersitz zurücksinken lassen und bis zum Frühstück ein Spiel auf seinem Handy gespielt.

An diesem Morgen aber hatte er nur gearbeitet. Drei Autos, eins nach dem anderen. Weil er verrückt geworden wäre, wenn er sich nicht abgelenkt hätte. Vier Nächte hintereinander. Immer zur selben Uhrzeit aufgewacht. Was zur Hölle ging da vor sich?

»Schlaf heute Nacht mal durch«, sagte sein Dad und schüttelte ihn nur noch leicht an der Schulter, »und morgen früh fängst du zur üblichen Zeit mit den Wagen an. Geh jetzt frühstücken.« Er drehte sich um und ging durch die Tür zurück in die Wohnung.

Als sie am Frühstückstisch saßen, große Becher mit Tee und Eier auf Toast vor sich, schien sein Vater das Ganze bereits vergessen zu haben. So war es häufig bei seinen Wutausbrüchen: Der plötzlichen Explosion folgte eine geschäftige, vergessliche Stille. Als ob überhaupt nichts gewesen sei. Heute hatte Matt keine Spuren davongetragen, aber selbst wenn er ein wenig geblutet, einen neuen blauen Fleck oder sogar ein blaues Auge gehabt hätte — sein Dad hätte es nicht gesehen.

Mum wiederum hätte Matt in einem solchen Fall etwas Wundcreme oder ein Pflaster gegeben. Sie konnte es also sehen. Aber sie sagte nie etwas dazu. Nicht ein einziges Wort. Außer vielleicht: »Er ist müde.« Oder: »Er hat Stress.«

Wann immer Matt ihr antwortete: »Er ist betrunken« oder »Er ist gewalttätig«, stellte Mum sich augenblicklich taub. Bei Ben hatte sie sich genauso verhalten, als er damals die Wucht von Dads »Müdigkeit« ertragen musste. Ben, vier Jahre älter als sein kleiner Bruder Matteus, war schon vor langer Zeit getürmt und zum Militär gegangen.

Dads Gewalttätigkeiten waren nicht weiter wild. Nichts Lebensbedrohliches, kein großes Ding. In der Schule hatte Matt seinen Ruf als Schläger weg, weshalb es leicht für ihn war, die Spuren der Gewalt als eine Art Kriegsverletzung zu verkaufen, die er sich bei Prügeleien mit anderen Schülern zugezogen hatte. Außerdem konnte Dad auch ganz in Ordnung sein. Wenn alles gut für ihn lief, war er großzügig und fröhlich — sogar liebevoll.

Und Matt war sich ziemlich sicher, dass er Mum nie geschlagen hatte. Das wäre ja wohl auch noch schöner … Zumindest hatte sie nie blaue Flecken oder blutete irgendwo, nur manchmal gingen einige ihrer Sachen zu Bruch.

Das alles war normal. So war sein Leben eben. Und nichts konnte ihn so leicht aus der Ruhe bringen.

Bis jetzt. 1:34 Uhr. Sollte er heute Nacht wieder um 1:34 Uhr wach werden, würde er völlig durchdrehen.

Der Schlafmangel holte ihn ein. Schlagartig bewusst wurde ihm das, als er während der Pause am späten Vormittag mit Ahmed in der Schulkantine abhing. Ahmed erzählte ihm von einem neuen Computerspiel auf seiner Xbox, sein begeistertes Geplapper wollte gar nicht mehr aufhören. Matt war gerade dabei, eine Tüte Erdnussflips zu öffnen, und fragte sich, ob er überhaupt noch die Energie aufbringen würde, sie zu essen, als er plötzlich der Länge nach nach vorne fiel.

Mühsam rappelte er sich zum Sitzen auf, verwirrt, die Erdnussflips um ihn herum verstreut. Ahmed starrte ihn mit offenem Mund an, und eine Achtklässlerin mit langen blonden Haaren kam auf ihn zu. Besorgt ging sie neben ihm in die Hocke und fragte: »Ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als ob …«

Ahmed drängte sie zur Seite. »Alter! Hast du die ganze Nacht lang an der Xbox gesessen?«

Die Welt drehte sich, alles war plötzlich rosa, dann stand sie wieder halbwegs gerade und nahm normale Farben an. Matt lächelte schief. »Ja — mordsmäßig lang, Bro

Das Mädchen stand auf, zuckte mit den Achseln, hängte sich die Schultasche um und ging davon. Sie kam Matt bekannt vor. Er wollte Danke sagen … Danke dafür, dass sie sich um ihn gesorgt hatte … Aber da Ahmed vor ihm stand und das Mädchen die Schulkantine schon halb durchquert hatte, war es bereits zu spät dafür.

»Echt, Alter — du siehst gar nicht gut aus!«, sagte Ahmed.

»Wahrscheinlich muss ich gleich reihern«, erwiderte er.

Ahmed, der in diesen Dingen ein totales Weichei war, wich sofort zurück.

»Lass gut sein — wir sehen uns dann in Mathe«, sagte Matt beschwichtigend, und im nächsten Augenblick war sein Freund, erleichtert darüber, nicht den Krankenpfleger spielen zu müssen, auch schon verschwunden

Matt war nicht schlecht. Nicht wirklich. Aber sein...

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