Die guten Tage - Roman

Die guten Tage - Roman

von: Marko Dinic

Paul Zsolnay Verlag, 2019

ISBN: 9783552059375

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 1481 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die guten Tage - Roman



Wir fuhren schon seit einer Stunde. Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn passierten wir ohne größeres Aufsehen. Obwohl Wien keine Autostunde entfernt war, überkam mich dennoch, je weiter wir Richtung Osten vordrangen, eine Art dunkle Vorahnung, ein Gefühl der Beklommenheit, das ich gut kannte und das sich nicht einfach abschütteln ließ.

Beim ersten Blick aus dem Fenster zog ein dünner Wolkenschleier am Himmel auf, einige in der Ferne noch ruhende Windräder reckten die Stahlglieder in den leichten Nachmittagswind. Wie eine schlechte Gewohnheit tuckerte der Bus über die Autobahn. Die Personenkontrolle durch die ungarischen Zollbeamten in Zivil kurz nach dem Grenzübergang war reine Formsache gewesen. Seit den Vorfällen an der Außengrenze vor einem Monat war die Stimmung angespannt, und das ließen uns die lächerlich aufgeplusterten Gestalten auch spüren. Doch die auf misstrauisch getrimmten Blicke der Beamten konnten nicht über die Langeweile hinwegtäuschen, mit der sie an diesem Grenzabschnitt kontrollierten.

Der Bus von Salzburg nach Niš, auch Gastarbeiterexpress genannt, war nicht die gemütlichste, aber die günstigste Reisevariante nach Serbien, auch wenn die Preise seit meiner letzten Fahrt beachtlich gestiegen waren. Das hatte unter anderem mit der Aufstockung der Flotte um drei weitere Fahrzeuge und dementsprechend viele Fahrer zu tun, wie mir die Dame am anderen Ende des Hörers mitgeteilt hatte, als ich vor wenigen Tagen mein Ticket nach Belgrad reservierte.

Nun saß ich in einem dieser neuen Busse und ließ mich von meinem Sitznachbarn volllabern, einem etwas untersetzten Mann mittleren Alters, dessen euphorisches Gemüt nicht recht zur lahmenden Stimmung dieser Fahrt passen wollte. Unter seinem abgewetzten Parka lugte, wenn er die Hände hob, ein knallroter, löchriger Pullover hervor. Er schwitzte stark und roch streng nach Zigaretten und billigem Aftershave. Sein schütteres Haar, zu so etwas wie einem mageren Scheitel gekämmt, überdeckte nur schlecht die von Schweißperlen übersäte Glatze. Die etwas verwahrloste Erscheinung unterstrichen seine dunklen, schlammigen Augen und die grauen Zähne, die er durch krampfhaft verzogene Lippen zu verbergen suchte. Dennoch wirkte er freundlich, seine tiefe rauchige Stimme fast vertraut. Obgleich er sich anstrengte, mir irgendetwas über den letztjährigen Visumsantrag eines Bekannten zu erzählen, führte er vielmehr Selbstgespräche, was ihn aber nicht zu stören schien.

Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, während das Euroliner-Monstrum langsam wieder die mir gut bekannte Ungarn-Geschwindigkeit aufnahm, ein gleichmäßiges Rollen auf einer nahezu kurvenlosen Autobahn, von der ich immer gedacht hatte, sie würde, einem weißen Rauschen gleich, keinen Anfang und kein Ende kennen.

Die Busse fuhren jeden Tag und hielten auf ihrer Fahrt noch in Wels, Linz, Wien, Budapest, Subotica, Novi Sad, Belgrad und Kragujevac. Ich war in Wien eingestiegen. Die Gesichter der grimmig dreinblickenden Fahrer erhellten sich, als sie mich beim Einsteigen erblickten. Sie grüßten mich liebevoll, als würden sie mich von früheren Fahrten kennen, was aber nicht sein konnte — ich war vor etwa zehn Jahren das letzte Mal mit einem Gastarbeiterexpress gefahren, damals jedoch in die entgegengesetzte Richtung.

Jedenfalls passten ihre roten, klobigen Nasen und aufgedunsenen Wänste zum Rest der Reisegesellschaft, die hauptsächlich aus Männern bestand — Mittfünfziger, denen die Diaspora anzusehen war, die körperliche Arbeit und der Alkoholismus, eine Mischung, die nur im Ausland so hatte entstehen können, weil es in Serbien zwar nicht an Alk, aber an Arbeit mangelte. Diese Männer schickten sich nun an, den Bus während der fast fünfzehnstündigen Fahrt in ein Biotop aus Kuriositäten und Schweinereien zu verwandeln, die hier jedoch selbstverständlich waren. Sie nuckelten unentwegt an ihren mitgebrachten Schnapsflaschen oder tranken die Biere, die die Fahrer unter der Hand für einen Euro dreißig weitergaben. Stunden voll quälenden Turbofolk-Geplärres ergänzten den Saufbetrieb in den ersten Reihen. Hie und da — wenn es einem der Fahrer mal selbst zu viel wurde — spielten sie einige Lieder von Bijelo Dugme, bei denen die wallenden Gemüter verdächtig still wurden und eine nahezu nostalgische Andacht herrschte. Meist lief der Fernseher mit. Alte Diaspora-Filme über Žika, den alle nur Herr Žika nennen, der sich in den siebziger Jahren in Frankfurt als Klempner eine Wohnung in Belgrad erarbeitet hatte und nun in neun Filmen seiner ganz persönlichen goldenen Zeit nachtrauerte. Ich war froh, dass ich in Belgrad aussteigen musste.

Ab einer gewissen Anzahl an Fahrtstunden werden die Jausen ausgepackt, mit den Fahrern wird um die Wette geraucht und über den anstehenden Hausbau in der Heimat geredet. Fotos der Baustellen werden herumgereicht, dazu die passenden Geschichten über faule Handwerker, korrupte Behörden und das verfluchte Leben im Ausland. Die Männer grölen um die Wette, während die wenigen Frauen sich über das Gesindel empören, das in Österreich seine Manieren verloren zu haben scheint. Anschließend kommt das große Schnarchen bis zur ungarischen Grenze mit Serbien. Und wenn das Licht dann wieder an ist, beginnt das Fauchen und Jaulen. Die Mütter der ungarischen Grenzbeamten werden hinter vorgehaltener Hand verflucht, danach kommen die Mütter der serbischen Zöllner dran. Am Morgen, kurz vor Belgrad also, geht das ganze Spiel von vorne los.

Im Grunde kamen Busfahrten in den Balkan, egal in welches Land man reiste, einer Dauerschleife mit unterschiedlichen Protagonisten gleich. Jeder einzelne Passagier kannte den Ablauf und auch seinen Platz in diesem durchchoreografierten Möbiusband an Bewegungsabläufen, Unterhaltungen, Gesten, gepaart mit den Musikeinlagen und Videokassetten einer Welt, die es eigentlich nicht mehr gab.

Auch ich kannte meinen Platz in dieser Gemeinde gut. So wie einige weitere junge Leute, die sich im Bus verstreut hatten und der Alten Schule zahlenmäßig weit unterlagen, hatte ich mich selber zum Schweigen verdonnert. Niemand hatte uns den Mund verboten. Wir gehörten einfach nur nicht hierher. Die Verwirrung vor so viel gebündelter Nostalgie und ausschweifendem Testosteron konnte man von unseren Gesichtern ablesen. Die Leute erkannten schon beim Betreten des Busses, dass wir unmöglich zu ihnen gehören konnten, obwohl wir anscheinend ein gemeinsames Ziel hatten: Serbien. Hier kannte jeder jeden, und niemand kannte uns. Damals, während der ersten jugoslawischen Diasporawelle, waren viele Arbeiter gegangen, als es dem Land relativ gut ging. Nun, da vieles den Bach runtergeht und junge Leute ins Ausland regelrecht fliehen, konnten sie es uns vorhalten, unser ungebührendes Verhalten gegenüber einem Land, das sie so sehr liebten, das es in dieser Form aber auch nicht mehr gab.

Staatsbürgerschaften und Pässe zählen in dieser eingeschworenen Gemeinschaft wenig: Sie sind das Beiwerk eines hart erarbeiteten Lebensstandards, mehr nicht. Umso mehr wird fortwährend an der Utopie Serbien gebastelt. Wofür hackelt man sich sonst den Rücken krumm, wenn nicht für den Ruhestand im eigenen Haus, das sich in der Diaspora kaum einer leisten könnte. Einmal dort angekommen, wird weitergesoffen, geflucht, geschlagen, gefeiert: Nie wieder Bus fahren, nie wieder Baustelle!

Insgeheim, das redete ich mir ein, gaben sie sogar uns, dieser in den Krieg hineingeborenen Generation, die Schuld an der jetzigen Misere, die sie in ihrer Kriegstümelei selbst beschworen hatten. Bei einseitigen Schuldzuweisungen waren sie immer schon gut gewesen, beim Wegschauen, beim Kadavergehorsam. Den eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen, das hatten sie so weit perfektioniert, dass es einer Gewohnheit glich, einer Marotte, die sie umso gefährlicher machte.

Der Bus fräste weiter beharrlich über die Autobahn. Die Grundnote Schnaps variierte zwischen Šljivo und Marille. Der beißende Geruch von starkem Alkohol vermischte sich mit den Ausdünstungen ganzer Familienbanden, deren Kinder sich unter den ohrfeigenverbreitenden Händen der Väter die Hosen vollschissen. Riesige Fresspakete aus Österreich für die verhungernde Verwandtschaft aus dem Süden wurden in die Stauräume über den Sitzen gestopft. In einem Anflug von Schadenfreude stellte ich mir vor, wie eines dieser Pakete einer armen Sau auf den Kopf fällt und die Einmachgläser darin bersten: Der Patient liegt blutend am Boden, während die austretenden Flüssigkeiten sich mit dem Šljivo und dem Gestank der Kinderscheiße vermischen. Hinzu kommt der Dunst der Garde aus der ersten Reihe, die, je weiter der Abend voranschreitet, vom Serbischen zu einer der vielen lallenden Sprachen wechselt — sei es dem Alkohol oder der schlechten Luft geschuldet, der Bus verwandelte...

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