Der Club der singenden Metzger - Roman

Der Club der singenden Metzger - Roman

von: Louise Erdrich

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841216892

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 1897 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Club der singenden Metzger - Roman



1 Das letzte Glied der Kette


Fidelis kam nach zwölf Tagen Fußmarsch aus dem großen Krieg nach Hause, kroch in sein Bett im Kinderzimmer und schlief sechsunddreißig Stunden fest durch. Als er Ende November 1918 aufwachte, war er nur wenige Zentimeter davon entfernt, auf der von Clemenceau und Wilson umgezeichneten Landkarte Franzose zu werden, was ihm in diesem Moment weniger wichtig war als die Frage, was es wohl zu essen geben würde. Er schob das weiße Federbett zur Seite, das seine Mutter, seit er sechs war, jedes Jahr im Frühling lüftete und neu füllte. Obwohl sie immer wieder versuchte, durch kräftiges Schrubben die Spuren einer blutigen Nase zu tilgen, die er sich mit dreizehn geholt hatte, war der Fleck noch da, zu einem hellen Teebraun verblaßt und anzusehen wie ein ausgefranstes Nest. Fidelis roch Essen, einen leichten Hauch zwar nur, der ihn aber hoffnungsvoll stimmte. Kartoffeln vielleicht. Ein bißchen Quark. Ein Ei? Ein Ei wäre nicht schlecht. Das Bett war breit, weich und nach den vielen elenden Lagerstätten der letzten drei Jahre ein so unglaublicher Luxus, daß ihn beim Hinlegen eine Gänsehaut überlief. Das leise, glückliche Weinen seiner Mutter hatte ihn in den Schlaf begleitet. Auch jetzt noch meinte er sie weinen zu hören, aber es war das Sonnenlicht, das mit perlendem Laut, einer weiblich-gefühlvollen Melodie über die elfenbeinfarbenen Wände wanderte.

Nach einer Weile kam er zu dem Schluß, daß er das Licht singen hörte, weil er sauber war. Irritierend sauber. Vor zwei Tagen hatte er nicht gleich ins Haus kommen wollen, sondern darum gebeten, in einem Waschzuber auf dem kleinen überdachten Hof unter der Weinlaube zu baden. Man schürte ein Feuer und machte Wasser heiß. Seine Schwester Maria Theresa las ihm die Läuse aus dem Haar, und sein Vater brachte sauberes Zeug. Um auszuhalten, was der Krieg mit sich brachte, auch den eigenen Schmutz, hatte Fidelis seine Sinne abgeschaltet. Als er sich jetzt der Welt wieder öffnete, empfand er alles, was um ihn herum vorging, beängstigend intensiv, alle Gegenstände waren voller Gefühl und Leben – wie in einem sehr lebhaften Traum.

Die Stille in seinem Kopf dröhnte. Ganz gewöhnliche Geräusche, Passanten draußen auf der Straße, kamen ihm wundersam vor wie das Schnattern seltener Affen. Ein Glücksschauer überlief ihn. Schon das Anziehen der sauberen, ungezieferfreien Sachen war etwas so Großartiges, daß ihm fast die Tränen kamen, als er die goldenen Manschettenknöpfe mit dem Eberkopf schloß, die seinem Großvater gehört hatten. Flach atmend sammelte er sich und brachte kraft seiner Ruhe die Tränen zum Versiegen. Seit der Kinderzeit hatte er, wenn er traurig war, flach geatmet und war in Reglosigkeit verfallen. Als Rekrut hatte er von Anfang an gewußt, daß diese Begabung, völlig zur Ruhe zu kommen, der Schlüssel zu seinem Überleben war. Sie hatte denn auch den unerfahrenen jungen Soldaten durch den Krieg gebracht, weil sich sehr schnell herausstellte, daß er von einer Scharfschützenstellung aus auf hundert Meter Entfernung einem Mann ein Auge durchbohren und mit fünf Schuß drei Treffer landen konnte. Auch jetzt noch würde er wachsam sein müssen. Erinnerungen würden sich anschleichen, Emotionen sein Denken sabotieren. Es war nicht ungefährlich, wieder ins Leben zurückzukehren, nachdem man innerlich fast gestorben war. Ein Übermaß an Gefühlen stürmte auf ihn ein, deshalb beschloß er, zunächst nur oberflächliche Eindrücke zuzulassen, versuchte sich zurechtzufinden. Selbst an sein Kinderzimmer, das er so gut kannte, mußte er sich erst wieder gewöhnen.

Er setzte sich auf die Bettkante. Auf einem dicken, in die Wand eingelassenen Bord standen – unberührt seit seinem Weggang – seine Bücher ordentlich aufgereiht oder gestapelt, mit schmalen Papierstreifen als Lesezeichen. Eine Weile hatte er sich, obgleich sein Beruf feststand, der Illusion hingegeben, er könne vielleicht Dichter werden. Deshalb standen dort die Werke seiner Helden – Goethe, Heine, Rilke, ganz hinten versteckt sogar Trakl –, die er jetzt fast unbeteiligt musterte. Wieso war ihm jemals wichtig gewesen, was diese Männer schrieben? Was gingen ihn ihre Worte an? Auch die Geschichte seiner Kindheit war in diesem Zimmer vertreten durch die Zinnsoldaten, die auf dem Fensterbrett aufgestellt waren, der Stolz seiner ersten Mannesjahre durch die gerahmten Diplome und den Meisterbrief an der Wand. Die waren wichtig, sie waren seine Zukunft. Sein Überleben. Im Schrank hingen die Hemden – gebleicht, gestärkt und gebügelt, bereit zum Hineinschlüpfen, auf dem Brett darunter warteten die blank geputzten Schuhe auf den alten Fidelis. Vorsichtig versuchte er, in das aufgesperrte Ledermaul zu fahren, aber es ging nicht. Seine Füße waren geschwollen, voller Frostbeulen, rissig, schmerzten. Nur die Nagelstiefel paßten, und die waren innen grün und stanken nach Moder.

Langsam wandte er sich um und betrachtete den Tag. Das Schlafzimmerfenster war ein langgezogenes goldenes Rechteck. Er stand auf und öffnete den Fensterflügel mit dem Widderhorngriff und sah hinaus über den trägen braunen Fluß von Ludwigsruhe, über die Dächer und die toten spätherbstlichen Gärten am anderen Ufer und einen Flickenteppich blaßgrauer Felder zu der kleinen Ansammlung von Dächern und Schornsteinen dahinter. Irgendwo im Straßengewirr der Nachbarstadt wohnte die Unbekannte, die er versprochen hatte aufzusuchen. Er ertappte sich dabei, daß er sich Gedanken über sie machte, komplizierte, intensive Gedanken. Die Gedanken wurden zu Fragen. Was machte sie gerade? Hatte sie einen Garten? Klaubte sie die letzten erdigen Kartoffeln aus einer kleinen strohbedeckten Miete? Hängte sie die Wäsche, frisch und weiß, an eine vereiste Leine? Unterhielt sie sich bei einer Tasse Tee mit ihrer Schwester, ihrer Mutter? Sang sie vor sich hin? Dann dachte er an sich und an das, was er versprochen hatte, ihr zu sagen. Wie sollte das gehen? Aber es mußte gehen. Irgendwie.

Eva Kalb, Eulenstraße 17. Fidelis war vor dem Fußweg aus hellem Backstein stehengeblieben und betrachtete mit gerunzelter Stirn den grazilen gußeisernen Bogen über dem Eingang. Um das Ziergitter herum wanden sich die kräftigen Ranken einer Kletterrose, blattlos und fast schwarz, riesige Dornen mit weißer Spitze. Der Fußweg war nicht gefegt, vor der Haustür lag Papier. Die anderen Häuser der Straße verrieten fanatische Ordnungsliebe noch im Chaos der Niederlage. Daß Eva Kalbs Haus so vernachlässigt war, beunruhigte Fidelis; hatte die Familie vielleicht vorher schon einen Trauerfall gehabt? Tränen stiegen ihm in die Augen, und er kniff sich in den Nasenrücken. Die Heftigkeit seiner Emotionen, sogar in der Öffentlichkeit, erschreckte ihn. Hinter einer dünnen Gardine bewegte sich etwas. Man hatte ihn gesehen. Mit einem tiefen Atemzug und mit einem Ruck gleichsam in eine dickere Haut schlüpfend ging er den Fußweg entlang zum Haus.

Sie öffnete sofort, also war sie es gewesen, die am Fenster gestanden und ihn beobachtet hatte. Er wußte, daß es Eva war, weil sein Freund ihr Bild in einem Medaillon immer bei sich gehabt hatte. Fidelis hatte das Medaillon als Andenken behalten, und jetzt war ihm, als brenne das kleine Oval aus billiger Goldbronze ein Loch in seine Brusttasche. In dem Rähmchen steckte das handkolorierte Bild einer Frau, die ebenso tatkräftig wie zart wirkte. Der sensible Mund verriet Klugheit und Sinnlichkeit zugleich, die schrägen, tiefgrün-unergründlichen ungarischen Augen verunsicherten Fidelis mit ihrem geraden, forschenden Blick. Die antrainierte Reglosigkeit, die ihm geholfen hatte, die letzten Jahre zu überstehen, war dahin. Schnell, die Wahrheit, sagte sie mit einer Feindseligkeit, die wohl Selbstschutz war und ihn auf der Stelle gehorchen und das sagen ließ, was gesagt werden mußte: Ihr Liebster, ihr Bräutigam und künftiger Ehemann, Johannes, mit dem Fidelis durchgemacht hatte, was ein Mensch nur durchmachen konnte, war tot.

Unmittelbar danach war sich Fidelis nicht sicher, ob er diese Worte nur gedacht oder tatsächlich ausgesprochen hatte, aber ihm schien, als seien Töne aus seinem Mund gekommen, die er zwar nicht hören konnte, die aber Eva mit einem tiefen, zitternden Atemzug in sich aufnahm, von dem ihr die Sinne schwanden. Das schöne, kluge Gesicht wurde ganz leer, und einen Augenblick sah Fidelis in ihr nur die nackte, gequälte Kreatur. Dann sank Eva Kalb, die Hände wie betend gefaltet, Fidelis in die Arme. Als er sie auffing und behutsam an sich zog, spürte er mit einer Überraschung, die ihm durch und durch ging, daß sie schwanger war. Später war ihm, als habe das Kind aus ihrem Leib heraus seine helfende Hand berührt.

Fidelis blieb, die Verlobte seines besten Freundes in den Armen haltend wie ein schlafendes Kind, unter der Tür stehen. Stundenlang hätte er dort stehen können. Die Kraft, die er brauchte, um sie zu halten, war nur ein winziger Bruchteil der Kraft, die er besaß, denn er gehörte zu den Menschen, die stark geboren werden und deren Stärke von Jahr zu Jahr wächst.

Es heißt, daß manche Menschen – und vielleicht gehörte Fidelis zu ihnen – im Mutterleib die Zellstruktur eines möglichen Zwillings in sich aufnehmen. Oder er stammte von jenen alten Germanen ab, die durch die Wälder streiften und ihren Gott an den Lebensbaum hängten. In einigen Gegenden Deutschlands glaubte man auch, daß in einen Menschen, der getötet hat, das Wesen des Opfers eingeht. Das wäre eine Erklärung für das Leichte und das Schwere, das sich in Fidelis’ Wesen mischte. Er hatte Sekundenbruchteile, ehe seine Scharfschützenkugel das ferne Gesicht zerschmettert hatte, im Zielfernrohr ein Lächeln aufblitzen sehen. Er hatte erlebt, wie ein...

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