Deine kalten Hände - Roman

Deine kalten Hände - Roman

von: Han Kang

Aufbau Verlag, 2019

ISBN: 9783841216885

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 3937 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Deine kalten Hände - Roman



Prolog


1


Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, hatte ich seine Werke schon dreimal zufällig gesehen. Wenn man bedenkt, dass er kein bekannter Bildhauer war und ich mich nicht besonders für Bildhauerei interessierte, kann man das durchaus als außergewöhnlich bezeichnen.

Das erste Mal begegnete ich seinen Arbeiten vor fünf Jahren in der Stadt Gwangju, an einem Tag im Frühsommer. Damals besuchte ich meine Tante, die ältere Schwester meiner Mutter, die wegen einer halbseitigen Lähmung im Krankenhaus lag. Während wir uns unterhielten, sah ich die ganze Zeit nur das linke Auge an, die linke Seite der Lippen und die linke Wange, die unverändert schienen. Ich wollte gerade gehen, da fing sie an zu weinen. Auch aus dem halb geschlossenen rechten Auge flossen Tränen über die verzerrten Lippen. Sie hat sie wahrscheinlich nicht gespürt. Meine Cousine begleitete mich zum Aufzug.

»Ich danke dir, dass du den langen Weg hierher auf dich genommen hast.«

»Keine Ursache. Wir sind doch eine Familie.« Ich lächelte matt.

»Dieses Jahr ist wirklich wie verhext. Auch die kleine Tante ist so überraschend von uns gegangen.«

Sie sprach von meiner Mutter.

Wir fassten uns bei den Händen und standen uns eine Weile wortlos gegenüber. Als sich die Türen des Aufzugs mit einem Läuten öffneten, ließ meine Cousine mich los und trat einen Schritt zurück.

»Komm gut nach Hause.«

»Iss ordentlich. Gerade jetzt musst du gesund bleiben.«

»Keine Sorge. Ich bin topfit.« Sie beugte ihren Arm und tat so, als würde sie ihren Bizeps spielen lassen. Ein gezwungenes Lächeln huschte über ihr rundliches Gesicht.

Im Aufzug schob ich mich zwischen einige Besucher und einen Mann im Rollstuhl, dessen Infusionsflasche von einer Frau gehalten wurde. Noch bevor sich die Türen zwischen uns ganz geschlossen hatten, drehte sich meine Cousine um und ging in Richtung Krankenzimmer, anstatt die wenigen Sekunden des Abschieds auszuharren. In dem kurzen Augenblick, in dem sie ihren Kopf zur Seite wandte, sah ich ihren abwesenden Blick. Über ihren Augen lag ein wehmütiger Schatten, den sie mir gegenüber nicht gezeigt hatte.

Eigentlich hätte ich ein Taxi zum Busbahnhof nehmen müssen, stattdessen setzte ich mich auf eine Bank in der Eingangshalle des Krankenhauses, von wo aus der Taxistand zu sehen war, und beobachtete die Sonnenstrahlen. Die Nachricht von der Einlieferung meiner Tante hatte mich nachts erreicht, als ich gerade am Schreibtisch saß. Ich war dann am frühen Morgen sofort mit dem Expressbus losgefahren, und meine Müdigkeit jetzt überraschte mich nicht.

Ich war wohl mit offenen Augen eingeschlafen. Als ich zu mir kam, fiel mir ein Plakat auf, das an einer der Säulen der Eingangshalle klebte. »Ausstellung neuer Kunst aus Gwangju«, stand dort. In der Mitte war ein längliches Ei abgebildet, eine nicht sonderlich ansprechende Marmorskulptur. Darunter waren in chinesischen Schriftzeichen die Namen der acht teilnehmenden Künstler abgedruckt. Der etwas unzeitgemäße Eindruck, der von der einfachen Aufmachung des Plakats herrührte, wurde noch dadurch verstärkt, dass neben den unten aufgeführten Sponsoren auch der Name des Krankenhauses stand.

Ich musste bis neunzehn Uhr bei einer Monatszeitschrift einen Text abgeben. Die Abgabefrist war schon drei Tage zuvor abgelaufen und auf meinem Anrufbeantworter hatte der zuständige Redakteur mehrmals, erst drängend, dann flehend, schließlich vorwurfsvoll, die Nachricht hinterlassen, dass man nur noch auf meinen Artikel wartete − was absolut unglaubwürdig war. Ob ich den Text noch am selben Abend oder am nächsten Morgen abschicken würde, machte auch keinen großen Unterschied mehr.

Ich fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen und blickte auf die vor mir liegende Stadt Gwangju, in der ich mich nun so unerwartet aufhielt. War ich übermüdet, erschienen mir die Umrisse der Dinge häufig seltsam verschoben. Mein Gehirn arbeitete verlangsamt, irgendeine Gehirnregion jedoch schien besonders aktiv zu sein. In solchen Momenten hatte ich manchmal starke Sinneswahrnehmungen. Vielleicht rührte daher das plötzliche Verlangen, nach draußen in die Sonne zu gehen. Nach kurzem Zögern am Eingang des Krankenhauses folgte ich der Wegbeschreibung auf dem Plakat.

Außer über meine Mutter und meine Tante, die hier geboren und aufgewachsen waren, hatte ich keine Verbindung zu dieser Stadt. Nachdem ich der Straße ungefähr zehn Minuten gefolgt war, erreichte ich die Galerie. Die Sonne brannte und mein Hals schmerzte, als hätte ich eine Handvoll Nadeln geschluckt.

An diesem Vormittag mitten in der Woche war ich die einzige Besucherin. Am Tisch mit dem Gästebuch saß eine Angestellte, tippte etwas in den Computer und bedachte mich mit einem kurzen, teilnahmslosen Blick.

Auf dem Marmorfußboden war mit weißem Papierklebeband in großen Linien der Schriftzug »Eingang« geklebt. Die Schriftzeichen, durch die Fußabdrücke der Besucher schon verschmutzt, führten zu einer hellgrauen provisorischen Wand. Ich trat dahinter und stand vor einer riesigen Videoinstallation. Über fünf Bildschirme flimmerten im Abstand von ungefähr drei Sekunden Augen, Nasen, Münder, Ohren und Stirnen von Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts. Diese Art Kunst war gerade in Mode. Ohne den Titel des Werkes und den Namen des Künstlers groß zu beachten, ging ich weiter, in den Ausstellungsraum. Er war relativ dunkel, voll mit Videoinstallationen und Siebdrucken. Ich wollte gerade an einen der Drucke näher herantreten, der die gegenüberliegende Wand fast völlig bedeckte, als ich plötzlich erschaudernd stehen blieb. Eine Gänsehaut lief mir über den ganzen Körper, als hätte etwas meine rechte Wange gestreift. Ich wandte den Kopf in die Richtung, aus der diese Empfindung zu kommen schien, und sah mich ihr gegenüber.

Der Skulptur eines Paares.

Aneinandergelehnt saßen sie in einer dunklen Ecke und hielten sich bei den Händen. Nein, korrekt wäre zu sagen, sie hatten sich bei den Händen gehalten. Die Haut der beiden war weiß, die Köpfe fehlten. Der Körper des Mannes war einigermaßen erhalten geblieben, der Frau jedoch hatte man Arme und Schultern abgetrennt. Nur eine Hand lag auf dem Knie des Mannes. An den Stellen, an denen der Frau die Schultern und die Handgelenke abgerissen worden waren, klaffte Schwärze.

Ich betrachtete aufmerksam ihre weiße Hand, die von dem Mann gehalten wurde. Sie wirkte wie die Spur einer Hand. Das war keine Hand mehr.

Die englischsprachigen Erklärungen zu Künstler und Werk standen fettgedruckt an der weiß gekalkten Wand des dunklen Raumes.

Jang Unhyong

Häutung

Peeling off skin

Lifecasting Gips, Fiber Reinforced Plastics 1996

Beim Lifecasting oder der Körperabformung entsteht das Werk aus einem Gipsabdruck, wie etwa bei der Fertigung einer Totenmaske. Diese Skulptur war demnach aus einem Gipsabdruck von lebendigen Menschen gefertigt worden. Ich betrachtete den schlaffen Bauch dieser Frau ohne Gesicht, ihre Schultern, die Hand. »Verstehe«, murmelte ich. Deshalb waren die Poren und Fältchen in der Haut so deutlich zu sehen. Dann trat ich näher an den aufgerissenen Nacken des Mannes heran.

Ein schwarzer Hohlraum.

Die Gipshülle bestand aus einzelnen Teilen, vom Künstler miteinander verbunden, wie man vielleicht Teile eines abgezogenen Fells zusammennäht. Anstatt die Verbindungsstellen sorgfältig zu bearbeiten, hatte er sie lediglich grob mit Gips verschmiert. Das war sicherlich Absicht, wie bei diesen Kleidungsstücken, die mit den Nähten nach außen getragen werden. Der Mann sah aus wie ein von Frankenstein geschaffenes unförmiges Monster, wie ein zerfetzter Leichnam, dessen Einzelteile wieder zusammengestückelt worden waren.

Während ich in die Dunkelheit dieser Körperhüllen blickte, ließ mich eine unerklärliche Kälte frösteln. Die Körper erinnerten mich an jahrtausendealte Mumien, nur dass sie Mumien von lebenden Menschen waren. So saßen die beiden in diesem erstickend ruhigen Ausstellungsraum und hielten sich bei ihren abgerissenen Händen. Die Hand der Frau, ohne Verbindung zum Leib, schien gleichsam zu Staub zu zerfallen und diente doch beiden als Halt.

Als ich tief versunken aus der Galerie trat, versetzte mir die unbarmherzige Mittagshitze dieser südlichen Stadt einen Schlag. Unvermittelt kam mir der tote Körper meiner Mutter in den Sinn, der an die Hülle einer Zikade erinnert hatte, als man sie wusch und ankleidete. Ich dachte auch an das zweigeteilte Gesicht meiner Tante.

Was der Bildhauer dieser Skulptur letzten Endes hatte zeigen wollen, war wahrscheinlich nicht die zerfetzte Hülle, sondern ihr nachtdunkler Hohlraum.

2


Im September des darauffolgenden Jahres hatte ich im Seouler Stadtviertel Insa-dong eine Verabredung zum Mittagessen. Die Straße war wegen eines Straßenfests gesperrt. Ich sah einer Performance zu, in der ein sehr ernst dreinblickendes Paar getraut wurde. Die Braut trug ein mit Tusche beflecktes Brautkleid und der Bräutigam einen Frack, dessen Rücken mit Löchern übersät war, als hätte man gerade mit einem Messer auf ihn eingestochen. Da mir bis zu meiner Verabredung noch Zeit blieb, spazierte ich in Richtung des Stadtteils Jongno. An einem Verkaufsstand stellte man vor den Augen der Passanten Reiskekse her, wie sie die königliche Familie der Chosun-Dynastie...

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