Der Fetzen

Der Fetzen

von: Philippe Lançon

Tropen, 2019

ISBN: 9783608115369

Sprache: Deutsch

551 Seiten, Download: 4594 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Fetzen



Kapitel 1

Was ihr wollt


Am Vorabend des Attentats war ich mit Nina im Theater. Wir sahen uns in einem Pariser Vorort im Théâtre des Quartiers d’Ivry Was ihr wollt an, ein Stück von Shakespeare, das ich nicht kannte beziehungsweise nicht mehr in Erinnerung hatte. Der Regisseur war mit Nina befreundet. Ich war ihm noch nie begegnet und wusste nichts von seiner Arbeit. Nina hatte darauf bestanden, dass ich mitkam. Sie freute sich, dass sie zwischen zwei Menschen, die ihr wichtig waren, einem Regisseur und einem Journalisten, vermitteln konnte. Ich begleitete sie ganz zwanglos. Es war kein Artikel geplant – immer die beste Voraussetzung, um schließlich doch einen zu schreiben, aus purer Begeisterung und Überraschung. In solchen Fällen trifft der frühere junge Theaterbesucher den späteren Journalisten. Nach einem mehr oder minder langen Moment der Verunsicherung, der Schüchternheit und gegenseitigen Annäherung steckt ersterer den anderen mit seiner Spontaneität, Unsicherheit und Unvoreingenommenheit an, bevor er den Saal verlässt, damit der andere mit dem Stift in der Hand wieder arbeiten und – leider – auch ernsthaft werden kann.

Ich bin kein Spezialist, obwohl ich immer gerne ins Theater gegangen bin. Ich habe nie fünf oder sechs Abende pro Woche dort verbracht und halte mich nicht für einen echten Kritiker. Ursprünglich war ich Reporter. Ich bin aus Zufall Kritiker geworden und bin es aus Gewohnheit, vielleicht auch aus Gedankenlosigkeit geblieben. Mithilfe der Kritik konnte ich das, was ich sah, denken – oder zu denken versuchen – und ihm mit dem Schreiben eine ephemere Form verleihen. Sie ist das Ergebnis einer zugleich oberflächlichen (mir fehlen die nötigen Referenzen für ein fundiertes Urteil) und inneren Erfahrung (ich kann nichts lesen oder sehen, ohne es an sehr persönlichen Bildern, Träumereien und Assoziationen zu messen). Ich glaube, ich habe mich freier gefühlt, als mir das klargeworden ist.

Hilft mir die Kritik beim Kampf gegen das Vergessen? Natürlich nicht. Ich habe viele Aufführungen gesehen und viele Bücher gelesen, an die ich mich nach dem Verfassen eines Artikels nicht mehr erinnere, vermutlich weil sie kein Bild, keine wirkliche Emotion in mir heraufbeschwören konnten. Schlimmer noch: Oft vergesse ich sogar, was ich geschrieben habe. Wenn einer dieser Phantomartikel zufällig wieder an die Oberfläche steigt, erschrecke ich immer ein bisschen, als wäre er unrechtmäßig von einem anderen unter meinem Namen verfasst worden. Dann frage ich mich, ob ich nicht geschrieben habe, um das Gesehene oder Gelesene schnellstmöglich wieder zu vergessen, wie Leute, die Tagebuch führen, um ihr Gedächtnis täglich von dem Erlebten zu entlasten. Zumindest fragte ich mich das bis zum 7. Januar 2015.

Während der Vorstellung holte ich mein Notizbuch hervor. Das Letzte, was ich an diesem Abend im Dunkeln und in ungelenker Schrift notierte, stammt von Shakespeare: »Nichts ist so, wie es ist.« Die nächste Aufzeichnung ist auf Spanisch, mit ungleich größeren und ebenso wackligen Buchstaben. Sie war drei Tage später in einer anderen Art von Dunkelheit im Krankenhaus entstanden. Adressiert an meine chilenische Freundin Gabriela, die Frau, in die ich verliebt war: »Hablé con el médico. Un año para recuperar. ¡Paciencia!« Ein Jahr um zu genesen? Nichts von dem, was man Ihnen sagt, ist so, wie es ist, wenn Sie eine Welt betreten, in der das, was ist, eigentlich nicht mehr sagbar ist.

Nina kannte ich seit knapp zwei Jahren. Wir waren uns bei einem Sommerfest in einem Schlosspark im Lubéron begegnet. Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, woher die Sympathie rührte, die sie mir sofort einflößte. Sie war eine geborene Vermittlerin, taktvoll und ungekünstelt. Sie hatte etwas Direktes, Zugewandtes, Herzliches, das zu einer bunten Mischung von Freunden führte, als könnten deren Vorzüge im gegenseitigen Miteinander noch gewinnen. Sie wärmte sich an den überspringenden Funken, war aber zu bescheiden, um es sich zugutezuhalten. Sie nahm sich fast ganz zurück, wie eine distanzierte, spöttische und wohlwollende Mutter. Immer wenn ich sie sah, hatte ich das Gefühl, ein Vogel aus ihrer Brut zu sein und in das Nest zurückzukehren, aus dem ich aus Unvorsichtigkeit oder Nachlässigkeit gefallen war. Die Traurigkeit oder auch Beunruhigung, die in ihrem düsteren und aufgeweckten Blick lag, verflog gleich bei der ersten Unterhaltung. Ich war nicht immer nett zu ihr gewesen. Irgendwann hatte sie es mir nicht mehr übelgenommen. Ihre Großzügigkeit siegte über ihren Groll.

Von Zeit zu Zeit verbrachten wir einen Abend miteinander, so auch diesen. Da sie der letzte Mensch ist, mit dem ich einen fröhlichen, sorglosen Augenblick geteilt habe, ist sie mir so ans Herz gewachsen, als hätte ich ein ganzes Leben mit ihr verbracht – ein ununterbrochenes, künftig fast erträumtes Leben, das an jenem Abend in einem Theater mit dem alten Shakespeare endete. Seitdem sehe ich Nina nur selten, muss es aber auch nicht, um zu wissen, woran sie mich erinnert, oder zu spüren, dass sie mich auch weiterhin beschützt. Sie hat dieses seltsame Privileg, zugleich Freundin und Erinnerung zu sein – eine ferne Freundin und eine lebendige Erinnerung. Ich laufe nicht Gefahr, sie zu vergessen, doch sie wird im weiteren Verlauf des Buchs kaum vorkommen, weil ich sie nur schwer außerhalb dieses Abends und dessen, was er in mir wachruft, einordnen kann. Wenn ich an sie denke, lebt alles wieder auf und erlischt, nacheinander oder gleichzeitig. Alles ist Traum und Übergang, womöglich eine Illusion wie in Was ihr wollt. Nina bleibt der letzte Punkt am anderen Ufer, direkt an der Brücke, die das Attentat gesprengt hat. Ihr Porträt hilft mir, ein bisschen auf den Trümmern der Brücke zu balancieren.

Nina ist klein, dunkelhaarig und rundlich, hat weiche Haut, eine Adlernase und schwarz funkelnde, belustigte Augen, eine Frau, die ihre starken, den Launen der anderen gutmütig ausgelieferten Emotionen in Humor verpackt. Sie ist Juristin. Sie kocht gut. Sie vergisst nichts. Sie ist Sozialistin, aber links – die gibt es noch. Eine sanfte, strenge und wohlgenährte Amsel. Sie lebt alleine mit ihrer Tochter Marianne, der ich meine Querflöte geschenkt habe, ein Instrument, das ich nicht mehr spiele und vermutlich nie mehr werde spielen können. Mir scheint, ihre Erfahrungen mit Männern haben sie enttäuscht, ohne sie zu verbittern. Vielleicht glaubt sie, nicht mehr Lust und Liebe zu verdienen als das, was sie von ihnen bekommen hat; doch ihren Freunden und ihrer Tochter gibt sie genug, damit der Zustand des Verliebtseins, diese Fiktion, die man mit den Mitteln des Körpers zu schreiben versucht, kein Bedürfnis mehr ist. Vielleicht spürt sie auch, wie in der Politik, eine latente Enttäuschung, die ihre Gutherzigkeit zu überwinden trachtet. Sie verzichtet ebenso wenig auf ihre Gefühle wie auf ihre Überzeugungen. Nur weil die Linke permanent das Volk verrät, wird Nina noch lange nicht, wie so viele andere, politisch rechts enden. Nur weil so viele Männer egoistische und eitle Versager sind, wird Nina nicht aufhören zu lieben. Die Empfindsamkeit triumphiert über die Prinzipien. Ich bewundere an ihr, dass sie nie mit leeren Händen kommt und dass ihre Mitbringsel immer den Erwartungen oder Bedürfnissen ihres Gegenübers entsprechen: Sie ist den anderen zugewandt, so wie sie sind, unabhängig von ihrer Situation. Das ist eher selten.

Außerdem ist sie Jüdin, was ihr stets bewusst ist und sie vorsichtig daran erinnert, dass man nie vor der Katastrophe gefeit ist. Ich spüre dies in ihrem Lächeln und ihrem Blick, wenn ich sie sehe und wir miteinander sprechen; etwas, was das Leben leichter macht und mit einer solchen Selbstverständlichkeit nur bei wenigen Menschen zu finden ist, ich bin ihr dafür dankbar. Immer liegt ein jüdischer Witz in der Luft, zwischen Wein und Pasta, wie ein nicht weiter erwähnenswerter Duft. Ich glaube nicht, dass ich mein früheres Leben mit jemandem Geeigneteren hätte beschließen können.

Ihr Vater, ein Professor für amerikanische Literatur, war ein ausgezeichneter Übersetzer Philip Roths gewesen, ein Schriftsteller, den ich mochte, ohne je eines seiner Bücher zu Ende gelesen zu haben – mit Ausnahme von Mein Leben als Sohn über die Krankheit und den Tod seines Vaters, sowie derjenigen Werke, die ich hatte besprechen müssen: eine Aufgabe, die mir nie gelungen war, vermutlich weil ich nicht recht wusste, was ich von ihnen halten sollte. Ich konnte Nina nicht ansehen, ohne mir diesen unbekannten Vater dabei vorzustellen, wie er in den Vereinigten Staaten die Bücher von Roth übersetzte, im Winterschnee oder bei strahlender Sommersonne, vor einer vollen...

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